© Illustration: Pe Tee

Wer ist hier normal?

Die niederösterreichische Landeshauptfrau Johanna Mikl-Leitner (ÖVP) sondert Wutbürger*innenprosa ab und das ganze Land muss mitdiskutieren.

Österreich ist wirklich lustig und es ließe sich viel lachen, wenn nicht alles längst tragisch und sogar gefährlich wäre. Zu Beginn der aktuellen Erregungskaskaden setzt sich eine niederösterreichische Landeshauptfrau an die Computertastatur und klopft übellaunig den Schulaufsatz: »Warum ich mein Leben hasse« in die Tastatur. Nichts darf darin fehlen, vom Genderstern bis hin zu den Klimaklebern und denen, die im Internet so würg-kotz sind. Gemeint sind natürlich die anderen, die immer nur schimpfen. Sagts und schimpft vor sich hin. Unzusammenhängend und intellektuell auf dem Niveau einer Grenzstreitigkeit im Kleingartenverein. Sie tut sich den konfusen Diskursbeitrag »Gendern – der Stern des Anstoßes« in der »Zeitung für Leser« wohl deshalb an, weil sie in Niederösterreich eine Art Koalition (»Arbeitsübereinkommen«) mit Rechtsextremisten hat und die wollen halt kein Gendern mehr. Folglich werden Binnen-I und Genderstern des lieben Friedens willen in Niederösterreich abgeschafft, obwohl es der Frau Landeshauptfrau vermutlich tatsächlich herzlich egal wäre. Um die Niederlage des einhundertundelften Kotau vor den Kellernazis zu vernebeln, beeilt sie sich, zu betonen, dass es doch viel wichtigeres gäbe als das Gendern. Stimmt, nur warum dann den niederösterreichischen Beamt*innen das Gendern überhaupt verbieten? Warum das Gendern somit wieder thematisieren, nur um zu sagen, es sei ja eh wurscht? Daraus erwächst gleich eine weitere Frage: Warum sich nicht mit der demokratischen Mehrheit im niederösterreichischen Landtag auf sinnvolle Politik konzentrieren, wie sie es in ihrem Wutbrief fordert?

Schweigende Mehrheiten

Die Frage muss der »Empörungsspezialistin« Frau Mikl-Leitner sehr unangenehm sein, deshalb schwenkt sie lieber auf Kulturkampf. Die ÖVP hat es gerade etwas schwer, weil sie jahrelang einem Blender hinterherlief (Kurz war sein Name, für die Vergesslichen) und dabei viel Porzellan zerschlug. Sie muss sich heute das Einmaleins der Demokratie und des Parlamentarismus vorbeten lassen und das tut natürlich weh. Kein Wunder, dass Mikl-Leitner so angefressen rumpoltert. Dabei unterläuft ihr in Rage ein Fehler, der selbst einigen ÖVPlern die Socken ausgezogen hat. Sie will die Normalen von den Unnormalen unterscheiden. Dafür hat sie selbstverständlich keine Kriterien, die sie laut aussprechen könnte, und macht den alten Richard-Nixon-Schmäh mit der »schweigenden Mehrheit«, die wisse, was normal sei. Populist*innen behaupten immer, die schweigende Mehrheit sei hinter ihnen. Problem: Die schweigende Mehrheit schweigt.

Die Grünen, in Gestalt des Vizekanzlers Kogler, haben nach vier Jahren Koalition mit der ÖVP mit permanent übersäuertem Magen zu kämpfen und folglich regt sich auch Kogler schwer auf. Sachlich richtig weist er darauf hin, dass die altbekannte Unterscheidung zwischen »normal« und »unnormal«, immer auch jene zwischen »wir« und »die« ist und die hat der Menschheit wenig Freude gebracht. Außerdem, was »normal« ist, ist a) zeitgebunden und wechselt fortlaufend (siehe z. B. »The new normal«) und b) es zu definieren ist ein protofaschistischer Schachzug. Stimmt leider, muss sich Mikl-Leitner alles sagen lassen und mit ihr die Österreichische Volkspartei. Einige spüren dies sehr wohl und merken hauchzart an, es sei eine »ungeschickte« Wortwahl gewesen.

Spätestens seit Koglers Entgegnung fliegen die Holzhämmer tief in Österreich. Wir lernen, die Menschen in dieser »gut arbeitenden« Koalition mögen sich wirklich, wirklich nicht. Jede*r hört nur, was er*sie hören will, sieht sich von anderen verdammt, indem er diese wiederum verdammt. Der Bundespräsident macht auch mit und möchte, was Mangel an intellektueller Trennschärfe betrifft, um nichts nachstehen. Als überforderte Pausenaufsicht streut er ein, man solle doch bitte auf die Sprache achten und irgendwie seien doch alle ein bisschen schuld. Geh, streitet nicht so! Womit augenblicklich die nächste Runde des Streits eingeläutet wurde. Unmittelbar nach gehaltener Rede des BuPrä in Bregenz meldet sich der BuKa Nehammer zu Wort und will sich das Wort »normal« nicht nehmen lassen. Schließlich ist es doch normal, »normal« zu sagen. Nicht normal findet er hingegen, dass über »normal« eine Debatte geführt wird, und beendet damit seinen Debattenbeitrag mit der längst üblichen Kopf-Rotation im Stil von: »Ich sag nur noch, dass ich jetzt nichts mehr sage.«

Also, was ist denn nun normal?

Klar ist, dass die ÖVP sich von ihrer dummdreisten Unbelehrbarkeit Erfolg erwartet. Die Frau Landeshauptfrau hätte zu Beginn, ohne große Reibung zu erzeugen, leicht zurückrudern können und die Sache wäre bald verklungen. Stattdessen muss auch sie nun wieder nachlegen. Die »breite Mehrheit im Lande würde mit erhobenen Zeigefinder ermahnt«, mahnt Mikl-Leitner. (Quiz-Frage: Wo befindet sich bei dieser Aussage der Zeigefinger der Landeshauptfrau?) Unverkennbar will sie den »Ablenkungskampf um Begrifflichkeiten« weiterführen, weil sie meint, damit dem rechten Obernormalo Herbert Kickl von der FPÖ Stimmen abspenstig zu machen. Nur leider ist der schon längst einen Schritt weiter und buchstabiert sein »normal« gleich mal durch: »Rot-Weiß-Rot statt Regenbogen«, »Schluss mit Autofahrer-Bashing« und dann noch irgendwas mit »Asylanten«. All die Sprüche, die in die Türen jedes normalen Nazi-Scheißhauses geritzt sind und die der ÖVP sehr schön belegen könnten, was sich in Österreich »normal« nennen darf.

Manche in der ÖVP erkennen noch eine Sackgasse, wenn sie darauf zurasen, und deswegen erschallt umso energischer der Ruf nach den »wichtigen Themen«. Benennen kann die ÖVP diese allerdings nicht, deshalb ein Vorschlag: Wichtig im Sommer 2023 könnte sein, dass es in Sizilien 47 Grad im Schatten hat, dass es in Madrid 40 Grad in der Nacht waren und dass auch in Österreich täglich Hitzerekorde purzeln. Dass in Wien nicht gegrillt werden darf, weil die Böden zu trocken sind. Ein weltweites Problem. Seit Monaten wüten Waldbrände in Kanada. Teilweise war New York in den Qualm der Brände eingehüllt. In der letzten Woche starben sechs kanadische Feuerwehrleute. Nicht weil sie verunglückt sind, sondern weil sie sich das Leben nahmen. Sie waren der körperlichen und seelischen Belastung nicht mehr gewachsen, ansehen zu müssen, dass hunderte Quadratkilometer Wald knochentrocken sind und unausweichlich in den nächsten Wochen in Brand geraten werden. Das fühlt sich ein bisschen wie Endzeit an. Syrische Geflohene berichten, sie hätten in den Lagern das Gefühl, in einem Backofen zu sitzen. Frau Mikl-Leitner, das ist heute leider »normal«, aber es ist auch ungeheuer wichtig. Wichtiger zumindest als die Genderbefindlichkeiten von Neonazis. Es gäbe für die Politik viel zu tun und viel zu helfen, aber stattdessen drischt die ÖVP auf die »Klimakleber« der Letzten Generation ein, die nichts anderes tun, als ihrer großen Sorge drastisch Ausdruck zu verleihen. Diese Art von politischer Blindheit und Vernebelung der Volkspartei ist – hoffentlich – nicht normal.

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