Der Renegat ist ein Abtrünniger. Früher vor allem im religiösen Kontext verstanden, ist das Wort heute universeller in Verwendung – und zugleich ziemlich angestaubt. Wir wollen den Begriff hier aber mit jener Bedeutung füllen, die er in dem mittlerweile wieder als Kult gehandelten Science-Fiction-Film »Zardoz« (1974) von John Boorman hat. Die Renegaten sind unter den Unsterblichen jene Menschen, denen durch Aufwiegelei und Ketzerei sukzessiv ihre Jugend genommen wurde. Nun sind sie auf ewig alt, verdammt zur Greisenhaftigkeit und führen nur einen Wunsch noch auf ihren Lippen: endlich sterben zu dürfen. Diese Renegaten sind Gefangene ihrer selbst, in ihrem abtrünnigen Dasein erstarrt, die Verweigerungshaltung wurde zur tragikomischen Pose, zu einer Hülle.
Hedvig mal Zwei
Schön und gut, aber was hat das mit aktuellen Neuerscheinungen zu tun? Na, fangen wir mal mit dem Hedvig Mollestad Trio an, das mit »Black Stabat Mater« nicht nur ihr viertes Studioalbum vorlegt, sondern mit »Evil in Oslo« gleich eine Live-CD nachschiebt. Letztere versteht sich als Rückblick auf das bisherige Schaffen, nur eine Spur rauer zugeschnitten. Das Studioalbum hingegen blickt angeblich nach vor, sprich: vom gestandenen Experimentalbluesrock geht es mehr in Richtung Impro. Das macht aber das Kraut nicht fett, solange Ivar Loe Bjørnstad an den Drums wütet wie der Teufel und Ellen Brekken am Bass gravitätisch dazu rumpelt. Die Leaderin selbst, Hedvig Mollestad, wurde für ihren wuchtigen Fullmetalimproblues zu Recht schon mit internationaler Aufmerksamkeit belohnt, wobei stets dieselben Referenzen von Jimi Hendrix über Led Zeppelin und Vanilla Fudge bis zum frühen Mahavishnu Orchestra bemüht werden. Nur dass die Norwegerin nicht singt und es anstelle von Songstrukturen nur markige Riffs gibt, die minutenlang breitgetreten werden, bis daraus ein »Hurricane of Sound« entsteht. Richtig, streng genommen müsste man Neil Young auch als Referenz dazu packen. Das ist für ein, zwei Stück ein großartiger Spaß, das ist als Live-Erlebnis womöglich eine Art »Last Stand of Heavy Rock«, aber wer zwei Alben am Stück durchhört, dem geht es wie den Renegaten bei John Boorman, er sehnt sich nach ewiger Ruh. Oder zumindest ein wenig Abwechslung.
Im Schlupfwinkel
Die kriegen wir auf dem Album »Film Still« vom Trio Trara, einem etwas unvermuteten Zusammenschluss dreier sehr kreativer Wiener Musiker. An der Violine finden wir Klemens Lendl, bekannt von Die Strottern, die Gitarre bedient der umtriebige Peter Rom, einer der Co-Founder des Labels JazzWerkstatt Records, und schließlich kommt noch Manu Mayr am Bass hinzu, der voriges Jahr mit seiner gewitzten Band Kompost 3 zahlreiche Preise eingestreift hat. Kennengelernt hat man sich vermutlich über JazzWerkstatt Records, und das Wiener Label hat schon mehrfach bewiesen, dass spannender Jazz möglich ist, insbesondere, wenn keine Genregrenzen gescheut werden. So auch hier: Wo es Mayr in Richtung experimenteller Spielereien mit einem Hauch Funk drängt, da zieht es Lendl in Richtung entstaubtes Wiener Lied. Rom wiederum kann sowieso alles aus seiner Gitarre hervorzaubern, ganz gleich ob groovig, melancholisch verträumt oder spielerisch dahingerotzt. Der Witz an »Film Still« ist, dass man eine jazzig gedeutete Volksmusik im weitesten Sinne als verbindliches Element durchaus nachvollziehen kann, das Resultat aber trotzdem in alle Richtungen ausfranst. Nicht von ungefähr gibt sich die hauseigene Presseaussendung in puncto Kategorisierung eher wortkarg und nutzt als Schlupfwinkel den Begriff »Soundtrack«. Das ist aber eher zu viel Understatement, das Schöne an diesem »Film Still« sind seine weltoffene Bodenständigkeit, seine moderate Widerborstigkeit und die vielen kleinen Hörüberraschungen. Ein Album also, das in ursprünglicher Hinsicht ziemlich renegat ist, ein echter Genreabtrünniger.
Ein siebenter Kontinent
Wir gehen ein Stück weiter in Richtung experimentelle Musik. Der deutsch-französische Bassist Pascal Niggenkemper hat nach seinem Soloalbum »Look with Thine Ears« nun ein Sextett um sich versammelt – allerdings mit einer Besonderheit. In instrumentaler Hinsicht handelt es sich um ein Doppeltrio oder drei Duos, denn es gibt (mit einer kleinen Abweichung) zwei Bässe, zwei präparierte Klaviere und zwei Klarinetten. Was in der Theorie nach spielerischem Selbstzweck klingt, eröffnet in der Praxis viele Möglichkeiten für überlappende, schwingende, schwebende Soundscapes, für ein mikrotonales Flirren, für spurenverwischende Verdichtungen, für verunreinigte Klangskulpturen und vieles mehr. Und das passt hervorragend ins Programm, denn »Le 7ème Continent« bzw. »Talking Trash« versteht sich als eine kammerkonzertartige Hommage an den siebenten Kontinent des Mülls, eine Beschwörung dieser weltweit auf Ozeanen schwimmenden Abfallinseln. Es lässt sich darüber streiten, ob die akustische Umsetzung restlos geglückt ist, ganz sicher aber ist »Le 7ème Continent« ein für experimentelle Verhältnisse erfreulich abwechslungsreiches Album geworden. Nicht immer leicht zugänglich, aber oft überraschend, sich dadurch selbst aus der Sackgasse experimenteller Verweigerungserstarrung ziehend. Ein zweifach renegates Album also, denn den Freunden der Experimentalmusik ist manches vermutlich nicht konsequent genug, weniger Hörrisikofreudigen wiederum vieles wohl viel zu fordernd. Letztere seien jedoch getröstet: der gelegentliche Soundtrash hat hier jedenfalls eine stimmige thematische Entsprechung.
Namedropduo
Wir dringen noch eine Spur tiefer ins Land der elektronischen Experimente vor, ein wenig widerwillig allerdings. Wäre »Hoverload« nicht die Frucht des Zusammentreffens von Katharina Klement und Martin Siewert, ich hätte die CD vermutlich nach dem ersten Reinhören weggelegt. Martin wer? Ach so, Siewert, klar, kennt man ja. Mit wem hat er nicht zusammengespielt, für wen hat er nicht ein Album abgemischt? Man kann, darf, muss ihn allmählich in eine Reihe mit Leuten wie Christian Fennesz, Burkhard Stangl, Werner Dafeldecker, Christof Kurzmann usw. stellen. Katharina Klement hingegen ist eher einem viel kleineren Kreis bekannt, genießt dort allerdings den Ruf als eine der feinsten und präzisesten Komponistinnen und Elektroakustikerinnen des Landes. Bei so viel Kompetenz und Reputation muss man natürlich ein zweites Mal hinhören. Und klar, Klement und Siewert wissen natürlich, was sie da tun, und klar, es ist beachtlich, dass diese nahezu orchestrale Soundfülle nur von zwei Musikern stammt. Klement spielt am präparierten Klavier, Siewert an der E-Gitarre, beide ab und an am Synthesizer. Doch streng genommen macht hier ausschließlich die Personalkompetenz den Unterschied. Und nicht einmal das: Mit genauso viel Fug und Recht hätte ich auch eine beliebige aktuelle CD des russischen Mikroton-Labels auswählen können, etwa »sale_interiora« von Norbert Möslang, Ilia Belorukov und Kurt Liedwart – ein nicht minder kompetenter Spaziergang zwischen elektroakustischer und frei improvisierter Tüftelei. Bei allem Respekt für die musikalische Kompetenz, in beiden Fällen sind Herangehensweise, Spieltechnik, Genre, Zurüstung mittlerweile kaum weniger ausgewrungen als z. B. bei jenem Bluesrock, auf den sich Hedvig Mollestad bezieht und an dessen Rändern sie sich austobt. Siewert und Klement, Möslang, Belorukov und Liedwart toben ebenfalls, nur eher wie Eskimovirtuosen im Land der unterkühlten Soundgletscher. Mittlerweile klingt das gesamte Genre ein wenig nach einem Besuch im Renegatenheim von »Zardoz«. Man darf sich weder experimentelles Neuland noch unerwartete Hörauffrischungen erwarten, sondern nur noch die gestrenge Wiederholung einer experimentellen Etikette.
Die falsche Hintertür
Wiederholung, ein gutes Stichwort. Wir verlassen das Renegatenheim, kriechen durch einen hüfthohen Tunnel in Richtung Freiheit. Zumindest erscheint es uns so, weil plötzlich alles so locker und flockig klingt, weil wir im profanen Sursum Corda der Minimalistic Music einen Hauch von Erlösung finden. Die Rede ist von »Far Islands and Near Places«, dem Debut des Pariser Komponisten und Multiinstrumentalisten Quentin Sirjacq, das streng genommen eine Art Promenadenmischung zwischen Moondog, Nils Frahm und einem Ibiza-Afterparty-Chillout ist. Mit anderen Worten: Sirjacq gerät sein Enthusiasmus für die Iteration mitunter etwas sehr eingängig, umgekehrt erleichtert das Genreneulingen den Einstieg. Aber wer braucht schon einen Einstieg in den Ausstieg? Auch hier sind wir letztendlich mitten unter den Renegaten, unter den Abtrünnigen, die einfach nicht aufhören können, den musikalischen Grund ihrer Abtrünnigkeit wieder und wieder einzuspielen.
Hedvig Mollestad Trio: »Evil In Oslo«/»Black Stabat Mater«
www.runegrammofon.com
Trio Trara: »Film Still«
jazzwerkstatt.at
Pascal Niggenkemper: »Le 7ème Continent«/»Talking Trash«
www.pascalniggenkemper.com
Klement/Siewert: »Hoverload«
nocords.net/shop/cd/klement-siewert-hoverload
Norbert Möslang, Ilia Belorukov und Kurt Liedwart: »sale_interiora«
www.mikroton.net/recordings
Quentin Sirjacq: »Far Islands and Near Places«
karaokekalk.de/releases/quentin-sirjacq-far-islands-and-near-places-karaoke-kalk-93