Angel Bat Dawid, Hyde Park Jazz Fest © Marc Monaghan
Angel Bat Dawid, Hyde Park Jazz Fest © Marc Monaghan

Toter Jazz, living Spirit

(Free) Jazz ist das nicht, was International Anthem aus Chicago veröffentlicht, doch bauen Acts wie Angel Bat Dawid, Damon Locks & Rob Mazurek, Thandi Ntuli & Carlos Niño, Resavoir, Bex Burch oder Ben Lumsdaine darauf auf und errichten Soundgebäude der Zukunft auf einem afroamerikanischen Fundament.

Die vielleicht herausragendste Platte auf International Anthem im Jahr 2023 war Jamie Branchs posthum erschienene »Fly or Die Fly or Die Fly or Die ((World War))« (hier für skug rezensiert). Den enorm vielfältigen Output des Labels schreibtechnisch zu bewältigen, benötigte etwas Abstand. Nun ist es aber an der Zeit, einen Überblick über neun in der zweiten Jahreshälfte 2023 erschienene Tonträger der International Anthem Recording Company zu gewähren. Einmal mehr wird offenkundig, dass das 2014 von Scottie McNiece und David Allen gegründete Chicagoer Label Genre-übergreifend operiert. Zwar geht es darum, Musiker*innen aus dem Umfeld der AACM (Association for the Advancement of Creative Musicians, Gründung 1965) zu fördern, doch dient Free Jazz eher als Inspiration, denn als Muss. McNiece und Allen sprechen diesbezüglich zurecht von »Boundary-defying music«, einem Sound, der sich Grenzen widersetzt. 

Totenmesse für den Jazz

Das prächtigste Beispiel dafür sei gleich als Ausgangspunkt gesetzt. Angel Bat Dawids im März 2023 erschienenes Masterpiece »Requiem for Jazz«. Die 24-sätzige Suite gipfelt in der Ansage, dass der Körper des Jazz tot ist, sein Spirit aber weiterlebt. Wie wahr! »Requiem for Jazz« ist ein monumentales Opus Magnum, wo jubilierende Spiritual- und Gospelchöre samt Elektrobeats und Vocoderstimmen sich prachtvoll zu einem orchestralen Werk aufschwingen. Es schlägt die Stunde der Selbstermächtigung. Dawid sprechsingt im Finale von der Erlösung der Afroamerikaner*innen durch Jazz und meint damit, dass die von Weißen vereinnahmte Etikettierung des Jazz die schöpferische Leistung der Black Artists nicht anerkennt. Heraus aus der Diskriminierung! Es ist unglaublich erhebend, wie ihre Komposition »Lux Aeterna – Eternal Light« mit Severson-Leists »My Rhapsody« verschmilzt. Hier erfährt das Erbe Sun Ras, noch dazu mit Arkestra-Impresario Marshall Allen & Knoel Scott an den Saxofonen, eine feierliche Auferstehung.


Angel Bat Dawid spielt im großartigen Black Monument Orchestra von Damon Locks Klarinette und auch Rob Mazurek dirigiert mit dem Exploding Star Orchestra ein großes Ensemble. Damon Locks & Rob Mazurek können aber auch Duo. Und zwar ganz gewaltig. Denn »New Future City Radio« vereinigt proper Locks Sampling-Kunst im HipHop-Spirit mit Mazureks Flöten- oder Trompetenspiel samt allerlei Modular-Synth-Loop-Sperenzchen. Das beinahe 10-minütige Lieblingsstück »Twilight Shimmer« tönt wie Vogelgezwitscher goes Minimal Music! Quasi fungieren beide als Piratenradiostation, die ein kurzweiliges, urbanes Boombox-Mixtape sendet. Ein Hörspiel für die Community als soziale Utopie. 


Erfrischendes, Beat-unterfüttert

Nahtlos daran an schließt Will Miller aka Resavoir. Sein selbstbetiteltes Debüt kippt durchaus ins Poppige und schöpft aus einem Reservoir von quirlig-subtilen Beats und R&B. Daraus entsteht mit durchaus jazzaffinen Indie-Musiker*innen wie Macie Stewart ein hymnisch ausstrahlendes Orchesterwerk. Wobei die Kompositionen für Vokalist*innen weniger einfahren als die ausladend schönen Instrumentaltracks. »First Light« und insbesondere »Bluetopia« sind cineastisch klingende Perlen, soulful, melodisch, luftig und symphonisch zugleich. Hier verdichten sich Bedroom-Beats, Synthie-Serenaden und -Sonaten zu allererster Sahne. Raffiniert komplex, und doch so wundervoll!


Nun zur Resteverwertung aus den Sessions im Londoner Total Refreshment Center, deren Erstverwendung zur sensationell feinen Doppel-CD »Gold« führte. Weniger dem Gospel zugetan stellt Gus Fairburn aka Alabaster de Plume auf »Come With Fierce Grace« den improvisatorisch-kompositorischen Schaffensprozess im Zusammenspiel mit 20 in der Reihenfolge ihres Auftretens gelisteten Musiker*innen aus. Die Musik schlägt rohe Funken, verfügt über einen HipHop-Upbeat und ist somit eher ein Abbild eines ruppig-spontaneren Musizierens. 


Entspannter klingt dagegen Daniel Villareal. »Lados B« hat einen Flow, wo Villareals perkussive Souveränität im Latin Funk des Labels Fania wurzelt. Darüber improvisieren Bassistin Anna Butterss und Gitarrist Jeff Parker auf äußerst geschmeidige Weise. Heraus kommt ein leichtfüßiger, eloquenter Hybrid, melodietrunken und lebhaft zugleich. 


Ätherische Entschleunigung

Es gibt sie doch, Orte in Kalifornien, abseits von Umweltdesaster und Silicon-Irrsinn. Oasen der Ruhe, geschaffen von Carlos Niño mit beschaulich aufspielenden Friends. Wie der Titel des Doppelalbums besagt, handelt es sich bei »(I’m just) Chillin’, on Fire« um sehr entspannte Musik, mit großem Tiefgang. Nichts ist hier dringend, als Rezensent ist mensch ganz Ohr, mit Feinsinn wird meist Ätherisches serviert. So tragen Tracks wie »Spacial«, »Am I Dreaming?« oder »Etheric Windsurfing, flips and twirls« bereits im Titel, dass es um spirituelles Abhängen geht, um ein Sich-hineinfallen-Lassen in wolkige (höret die Keyboards von Surya Botofasina) Klänge, wo Klarinetten und Saxofone mehr gehaucht als geblasen werden und selbstverständlich auch mal in Coltraneske Höhen ausschweifen dürfen. Wenn gesungen wird, dann oft von mehreren Stimmen, erhaben über den Dingen stehend, etwa in der »Love Dedication (for Anneliese)«, oder im großen Ensemblestück »Trancscendental Bounce, Run to it«. Es sind Sounds jenseits von Kitsch, die einem aus der Seele sprechen. Improvisatorische Kontemplation, ohne den überversierten Musikus hervorzukehren. 


Der Vergleich mit dem Spiritual Jazz von Alice Coltrane ist naheliegend, doch vor allem auf »Rainbow Revisited«, einer Kollaboration von Thandi Ntuli mit Carlos Niño, zeigt sich, dass die Klänge anders gelagert sind. Meist fast klassisch jazzig mit Piano und Stimme, und doch schweift Ntuli auch in die Gefilde von Mutter Natur ab. »Breath and Synth Experiment« und »Voice and Tongo Experiment« künden davon. Natürlich nur nachahmend, aber beeindruckend wie ein Klangmarsch durch einen Regenurwald. Auf schmalem Instrumentarium nachgestellt, mit Piano, Synth und Stimme (Ntuli) sowie Cymbals, Percussion, Plants (Niño). Wenngleich Ntuli Unbehagen über die südafrikanische Rainbow Nation (das bunte Albumcover hat übrigens Shabaka Hutchings beigesteuert) äußert, so erhofft sie doch eine erfüllende Zukunft, verpackt in einfühlsame, poetische Songs. 


Aurale Meditationen

Das Spektrum von Bex Burch ist ein etwas anderes Kaliber. »There is only love and fear« entstand dank einem von International Anthem gestifteten US-Aufenthalt im Sommer 2022. Ausgangsbasis für das vielschichtige Album ist ihre Selbstverpflichtung, sich 90 Tage lang von der Morgendämmerung zu neuer Musik inspirieren zu lassen. Vielsagend beginnt die CD mit diesen »Dawn Blessings«, wo Rufe eines Kuckucks von der Ostseeküste Lettlands einen vielversprechenden Auftakt setzen. Schön, wie sich die Flöte von Rob Frye, die Violine von Macie Stewart mit dem behenden Rhythmusgespann Anton Hatwich/Mikel Patrick Avery (b/dr) und dem Xylophon-Spiel von Burch verzahnen. Auch Birch akzentuiert natürliche Klangfarben, und einmal mehr ist einzigartig, welch’ unterschiedliche Resultate International Anthems Einladungspolitik evoziert. Kommt sehr nahe dem, was der Beipackzettel behauptet: »Aurales, neorealistisches Storytelling«, kleinteilig supported auch von niemand Geringerem als Ben Lamar Gay und Dan Bitney von Tortoise. 

Birch spricht von einem »messy minimalist« Ansatz, und auch Jeremiah Chiu wildert in einem Klanggarten elegischer Gelüste. Hineinspaziert ins Vintage Synthesizer Museum in Highland Park, Los Angeles, hat Chiu intuitiv erfasst, was die Synths können, und improvisierte binnen zwei Tagen direkt in den Tape Recorder Tascam 388. Das Ergebnis »In Electric Time«, wo Titel wie »Rhythm Bell« einhalten, wonach sie klingen, erfreut nicht nur Banausen wie den Rezensenten mit frisch mäandernden Pieces, sondern sicher auch Spezialist*innen, die wissen wollen, welche Instrumente verwendet wurden. Von Elka Synthex bis Gleeman Pentaphonic, sei verraten.


Gleich geht es weiter mit Sound Engineer Ben Lumsdaine, der Chiu auf sechs Tracks begleitet. Der aus Bloomington, Indiana stammende und in LA lebende Produzent, Komponist, Percussionist und Multiinstrumentalist baut seine Rhythmusstudien in »Murmuration Without End« auf meditativen Synthesizer-Drones und Loops, die in multitexturale, polyrhythmische Klanguniversen eingewoben werden. Kubanische Batá-Rhythmen dienen dabei als Inspirationsquelle, und es ist wahrlich ein Genuss, einerseits einen klaren Puls zu hören, aber dahinter einen unscheinbaren Downbeat zu spüren. Und gerade das Zusammenspiel dieser Elemente mit Gastmusikern wie Dustin Laurenzi (Bon Iver, Bill Callahan), Trompeter John Raymond und Gitarrist Drake Ritter liiert Minimal Music mit Krautrock auf ganz besondere Weise. 


Releases:

  • Angel Bat Dawid: »Requiem for Jazz«
  • Damon Locks & Rob Mazurek: »New Future City Radio«
  • Resavoir: »Resavoir«
  • Alabaster de Plume: »Come With Fierce Grace«
  • Daniel Villareal: »Lados B«
  • Carlos Niño & Friends: »(I’m just) Chillin’, on Fire«
  • Thandi Ntuli with Carlos Niño: »Rainbow Revisited«
  • Bex Burch: »There is only love and fear«
  • Jeremiah Chiu: »In Electric Time«
  • Ben Lumsdaine: »Murmuration Without End«

(Alle Tonträger: International Anthem/!K7/Indigo)

Link: https://www.intlanthem.com/ 

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