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Oliver Welter & Clara Frühstück

»Winterreise«

Col Legno

Um Schuberts »Winterreise« hat sich in den 194 Jahren seit ihrer Uraufführung eine kulturelle Obsession herausgebildet. Fast jeder umtriebige, klassisch ausgebildete Liedsänger (und manche Sängerin) kehrt früher oder später ins Tonstudio ein, um eine Interpretation auf den Markt zu bringen. Gegen zwischenmenschliche Kälte werden alle erdenklichen Transkriptionen angepriesen, von konzertanten Arrangements bis zur Übersetzung in Gebärdensprache. In diese illustre Runde gesellt sich neuerdings eine berührende Aufnahme von Konzertpianistin Clara Frühstück und Alternative-Veteran Oliver Welter. Mit Klavier, Synthesizer und Gitarre machen sie aus der »Winterreise« einen Roadtrip, bei dem klassische Gesangskonventionen zurückgelassen werden. Freilich ist die Idee einer Indie-Adaption der »Winterreise« nicht neu, wie hörenswerte Interpretationen von Burkhardt/Duffy/Malloy (2010), Kärgel/Maurenbrecher (2015) und Augst/Daemgen (2020) zeigen. Was Welters und Frühstücks Aufnahme jedoch auszeichnet, ist, dass sie sich das Material vollständig zu eigen macht. Welter klingt, als wäre die »Winterreise« das neueste Konzeptalbum seiner Band Naked Lunch. Ich habe mich mehrmals bei dem Gedanken ertappt, dass der Liederzyklus immer schon mit gebrochener Stimme gesungen wurde und kontrollierte Gesangstechniken à la Fischer-Dieskau die eigentliche Neuinterpretation darstellen. Handelt es sich bei dieser Herangehensweise, wie das Label verspricht, um »eine Zäsur in der Schubert-Rezeption«? Nicht wirklich. Welters und Frühstücks Interpretation fügt sich in die Flut an Kreativität ein wie die Tränen von Schuberts Wanderer in den Frühlingstau. Aber vielleicht macht gerade das sie interessant. Wie bereits das letzte Lied des Zyklus andeutet, schaffen Wiederholungen manchmal die Bedingungen für menschliche Nähe. Eine Leier kann Unvorhersehbares offenbaren.

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