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Günter Schlienz

»Hundstage«

Blue Marble 1972

Beim Titel »Hundstage« fällt einem gleich der Film von Ulrich Seidl ein, und schon ist sie da, die schlechte Laune, weil Seidl ist nicht unbedingt Garant für gute Laune. Ganz anders aber Günter Schlienz. Dessen »Hundstage« sind von Walter Kempowski inspiriert, dessen collagierte Literatur weitaus weniger pessimistisch grundiert ist als das filmische Werk Ulrich Seidls. Das passt auch besser zur Musik von Günter Schlienz, die sich der Technik der Collage ebenfalls bedient. Schlienz wie Kempowski arbeiten an der Montage von (vermeintlich) persönlichen Erinnerungen und historischem Material unterschiedlicher Herkunft zur Organisation von Archiven und Biografien mit dem Zweck, Ordnungen zu stiften, Narrative zu erfinden und Identitäten zusammenzuhalten. Doch mit dem Versuch, durch die Organisation des Vergangenen Halt in der Gegenwart zu finden, geht eine gewisse Vagheit und Unschärfe, wenn nicht gar optische Täuschung einher: Im Rückspiegel erscheint alles seitenverkehrt. Stimmt das so? Habe ich das erlebt oder geträumt, war das so oder anders, und was sagt mir diese Erinnerung für meine Gegenwart und Zukunft? Das ganze musikalische Genre der Hauntology lebt von dieser Arbeit mit der (eingebildeten) Vergangenheit, einem melancholischen Bewältigungsversuch, angesichts aktueller und akuter Überforderung und Unübersichtlichkeit aus der Modulierung von Vergangenheit Sinn für die Gegenwart und Zukunft zu ziehen. Schlienz’ Blick richtet sich allerdings in eine sehr spezifische Vergangenheit zur Erkundung der menschlichen Existenz: Er schaut in den Sternenhimmel. Und wir wissen, das Licht, das wir sehen, stammt aus der kosmischen Vergangenheit, von womöglich bereits verglühten Sternen. Das Licht in der Dunkelheit verweist zurück auf die Dunkelheit, den Tod. Anfang und Ende, Kreislauf. Angesichts dieser Dimensionen und Perspektiven kann man schon mal ins Philosophieren geraten, frei nach Kant: »Der bestirnte Himmel über mir, und das moralische Gesetz in mir.« Beim kosmischen Kurier Schlienz thematisch variiert in Titeln wie »Nächte, die sich nie erschließen«, »Gabriela spricht von den Tiefen des Weltalls«, »Der ungeheuerliche Sternenhimmel« oder »Sirius«. Bei letzterem denken wir auch an einen Pionier der elektronischen Musik, Karlheinz Stockhausen, der, wie wir wissen, ja von dort herkam. Und wo kommt der Mensch her, und wo geht er hin? Ja, um solche Fragen kreist Günter Schlienz’ elektronische Musik, die sich sanft in die Gehörgänge schleicht, um im Gehirn zwischen den Ohren bohrende Fragen anzuregen. »Jetzt, aber mal langsam!«, höre ich kritische Stimmen laut werden, wir kommen hier ja vom Hölzchen aufs Stöckchen: Seidl, Kempowski, Kant, Stockhausen, Hauntology, Krautrock, Ambient, experimentelle elektronische Musik – was denn noch alles? Tja, ein Vorteil instrumentaler Musik ist, sich seine eigenen Gedanken machen zu können, während man so daliegt und dem »Knistern in Kristallen« zuhört. Angesichts der Lage in vielen, vielleicht sogar fast allen Ecken der Welt, ist es natürlich ein Privileg, sich solche Gedanken machen zu können! Gerade deshalb ist es dringend notwendig, der um sich greifenden Barbarei das eine oder andere eskapistische Gedankenspiel entgegenzuhalten, in der Hoffnung, dass die humanistischen, esoterischen und romantischen Versatzstücke ihren Weg in die Herzen der Menschen finden, um sie zu entgiften und zu stärken. Wozu sonst die ganze Kunst!? 

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Text
Holger Adam

Veröffentlichung
26.02.2024

Schlagwörter

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