Zweimal Traumtönendes
Nehmen wir »Die Verwandlung« von FREDERIK KÖSTER, erschienen auf Traumton Records. Für den Musiker selbst ein völlig neues Kapitel der Selbstentfaltung, für den vorbelasteten Hörer eine Zeitreise zu einem entschlackten Miles-Davis-Quintett. Wayne Shorter fehlt am Saxophon und Miles Davis wurde durch Freddie Hubbard aka Frederik Köster ersetzt. Sebastian Sternal am Piano setzt die Akkorde und Melodieläufe so hübsch sperrig wie einst Herbie Hancock, und auch Jonas Burgwinkel an den Drums nähert sich durchaus der einsamen Klasse des frühen Tony Williams. Das ist natürlich ein Hörgenuss, aber man stelle sich ein Kritikergremium, bestehend aus ein paar dieser alten Hasen vor, einen Roundtable mit Charles Mingus, Miles Davis und Ornette Coleman beispielsweise. Alle nicht unbedingt mundfaul, darum umso stärker die Frage: Würden die drei Herren ergriffen sein, dass man 2013 die Geister der Vergangenheit immer noch so profund heraufbeschwört – oder würde man sich vor Amüsement auf die Schenkel klopfen? Ich tippe, dass Ornette Coleman unken würde: »Hattet ihr denn keine Uhren in den letzten dreißig Jahren? Oder warum ist die Zeit stehen geblieben?« Apropos: Ebenfalls auf Traumton Records kam »Blues Desert« des Berliner Sextetts THE K SQUARE raus. Hier bewegen wir uns in ähnlich gediegenen Welten, der Anstrich ist ein wenig lässiger und verrät ein eindeutiges Faible für die warmherzigen Seiten des 70-ies Jazzrock. Auch hier sitzt jeder Ton nahezu perfekt, man ist sofort mitten im Geschehen und fühlt sich als einschlägiger Zuhörer wohl, geradezu wie von sanft-sonoren Kissen umhüllt. The K Square hätte auf jedem namhaften Jazzfestival der letzten 45 Jahre ohne Bedenken auftreten können. »Und das ist zugleich Segen und Fluch«, würde Charles Mingus dazu in seinen Bart hinein grummeln. Sehr schöne CD, nevertheless.
Underkarl: »Homo Ludens«
Ebenfalls auf höchstem Niveau spielt die deutsche Band UNDERKARL. Hier geht es, nach einem fast 20-jährigen Bestehen und sieben veröffentlichten Alben, um eine Neubesinnung wie bei Frederik Köster, allerdings im Zeichen der Eigenkomposition. »Homo Ludens« bedient sich glücklicherweise weitaus freier im großen Selbstbedienungsladen des Jazz, was nicht zuletzt an den großartigen Musikern und der Instrumentierung liegt. Underkarl-Leader ist der Bassist Sebastian Grams, der gerade auch die Solo-CD »Atopie«, erschienen auf Jazzhausmusik, vorgelegt hat, die aber primär Freunden der virtuosen Demonstration am Einzelinstrument zu empfehlen ist. Weiters spielen Franz Wingold an der Gitarre (und am präparierten Plattenspieler), Rudi Mahall an der Bassklarinette, Lämsch Lehmann am Tenorsaxophon und Dirk Peter Kölsch an den Drums. Hier darf es auch rockiger und minimalistischer werden, dass das insgesamt einen Hauch Fusion ergibt ist klar, noch klarer aber ist die unbedingte Spielfreude, die aus der doch schon jahrzehntelangen Bühnenpräsenz resultiert. Das ergibt zwar auch keine Musik, bei der einem vor Innovation die Spucke wegbleibt, aber eine Jazz-CD, die bestens unterhält und begeistert. Hier hätten auch Mingus, Davis und Coleman kaum gemeckert.
Dreimal Babel-Label
Kleiner Schwenk in das Vereinigte Königreich. Das dort ansässige Label Babel kümmert sich sehr verdienstvoll um das Sorgenkind Jazz. Die Grenze in Richtung freier Improvisation verläuft dort sehr fließend, wie etwa die von Saxophonistin RACHEL MUSSON, Keyboarder LIAM NOBLE und Drummer MARX SANDERS eingespielte CD »Tatterdemalion« zeigt – sie lädt trotz ihrer Grenzgängerschaft durchaus zum Schnuppern ein. Das inoffizielle Schmuckstück des Labels dürfte allerdings die Bearbeitung des »Tierkreises« von Karlheinz Stockhausen durch den Pianisten BRUNO HEINEN (bzw. dessen SEXTETT) sein. Ûber Stockhausen darf man ruhig geteilter Meinung sein, der deutsche Komponist, der zwischen seriellen Stücken und meditativer Simplizität oszillierte, ist jedenfalls ein Beispiel für die Unbeirrbarkeit eines Komponisten, wie auch immer man das auslegen will. Dass Stockhausens Einfluss auf den Jazz bestens belegbar ist, wie Heinen behauptet, mag ebenfalls stimmen, aber wenn Stockhausen den Jazz beeinflusst hat, dann wohl eher punktuell. Jeder Musiker hat sich eben das herausgenommen, was gerade passte. Heinen schreibt sehr treffend, dass ihn an der Tierkreis-Komposition die eigentlich marginalen Anweisungen Stockhausen angesprochen haben (das Stück wurde ursprünglich für Spieluhren komponiert). Es überrascht nicht, dass sich nach einem leicht atonal anmutenden Einstieg eine eher gefällige Formensprache durchsetzt – angenehm leichtfüßig und oft anspielungsreich. Auch Davis, Mingus und Coleman hätten wohl Schwierigkeiten zu erraten, wo man diesen Jazz ansiedeln könnte – aber gefallen hätte ihnen die CD vermutlich doch. Abschließend ein dritter Eintrag zum Babel-Label, der interessanterweise fast am besten funktioniert. Hinter dem Bandnamen RISE verbergen sich die zwei Multiinstrumentalisten Rory Simmons und Terje Evensen, sowie die Sängerin Elisabeth Nygård. Wir haben es also mit einer überwiegend skandinavischen Besetzung zu tun. »Eyes of a Blue Dog« oszilliert zwischen Northern Folk mit jazzigen Untertönen und Impro-Jazz mit einem Hauch britischer Unterkühltheit. Dies könnte man mit dem Attribut »Eismeerjazz« adeln, jedenfalls ist ein Hineinschnuppern empfehlenswert.
Where the Raab is at
Erschienen sind weiters mit »Outside Zoom« vom CARYL BAKER QUARTET (feat. Chico Freeman) und »Spinnaker« von WINTHER-STORM zwei CDs, die sich ganz der Traditionspflege hingeben. In beiden Fällen geschieht das auf äußerst kompetente Weise, sowohl der junge Pianist Caryl Baker, wie auch das Duo Thomas Winther-Andersen (Bass) und Håkon Storm (Gitarre) beherrschen das Einmaleins des Jazzwohlklangs im Schlaf. Aber in beiden Fällen würde es mich nicht wundern, wenn die Herren Davis, Mingus und Coleman nicht viel mehr als ein gnädiges Wippen übrig gehabt hätten. Ach ja, da brüllt Miles Davis auch schon: »Next Record! Next Record!« Na, bitte, dann legen wir ihm doch »Denglbengbeng« von BLEU hin, dann gibt er ganz sicher Ruhe. Bleu ist ein Trio mit dem bestens bekannten Lorenz Raab an Trompete und Flügelhorn, Ali Angerer an der Tuba und Reiner Deixler an den Drums. Die CD präsentiert einen Auftritt bei den Inntönen 2011 und ja, in gewisser Weise, bewegen wir uns hier ebenso zwischen den einschlägigen Moods of Jazz und bis zu einem gewissen Grad in einer poststilistischen Improvisationskunst, die dennoch nicht »Impro« ist. Aber »Denglbengbeng« mit dem Genre-Schmetterlingsnetz einfangen zu wollen, wäre verkehrt, hier ist die Improvisationskunst und mehr noch der Personalstil der drei Herren, die man ruhig Kapazunder nennen darf, die ganze Miete. Man scheißt sich nichts, ohne dabei Mauern einreißen zu wollen, sondern ist einfach ganz bei sich. Anerkennend nicken auch unsere drei fiktiven Kritiker ihre zynischen Köpfe. »Well done« meint Mingus und Davis rückt Raab gerade in Gedanken ein Plätzchen in seiner absoluten Dreamcombo (ein 32-köpfiges Orchester) ein. Was hier richtig gemacht wurde, ist, dass nicht ein Genre die Musik diktiert, sondern hier die drei musikalischen Persönlichkeiten das Genre erweitern – nicht mit Siebenmeilenstiefeln, aber eben doch. Das ist das Schöne am Jazz, dass er auch nach so vielen Jahren noch ein kleines bisschen Leben in sich trägt. Sehr gelungene Einspielung mit wirklich wunderschönen Momenten.