Himmel über Marseille © Michaela Melián
Himmel über Marseille © Michaela Melián

Instrumentale Hymnik, verdunkelt und aufgehellt

Instrumentales Ausufern im grauen Herbst, getunkt in Schwer- und Wehmut. Eine sinnliche Klangreise von Mitteleuropa über Kanada (Constellation-Acts) nach Skandinavien mit dunkelheit- und lichtdurchfluteten akustischen wie digitalen Sounds von Michaela Melián über Lukas Lauermann bis Mika Vainio.

Schwermut, Trauer und Unwohlsein senken sich über die Welt. Es war ein erträglicher Sommer, doch speziell im unwirtlichen Herbst dräut Unglück. Instrumentale Alben führen in dystopische, abgedunkelte Schattenwelten, offenbaren oft aber auch ein Himmelreich voll phänomenaler Melodien. Dem realen Horror da draußen wird mit mehr oder weniger Abstraktion begegnet. Die Bedrohung, der das noch komfortable Leben in Europa unterworfen wird, dringt durch. Weswegen es sich bei nicht wenigen Sounds auch um Trauerarbeit handelt. Beginnen wollen wir mit Aushängeschildern aus Bayern und Österreich, die ebenso mit Reflexion und Erinnerungsarbeit Erfahrung haben. Und hauntologisch so etwas wie Unheil vorwegnehmen. 

Bayerische Court und austriakische Longue durée

»Traverse Benjamin« von Michaela Melián lässt gleich zum Auftakt ihres vierten Albums »Music for a While« (a-Musik) eindringlich spüren, ich welcher Not sich Walter Benjamin befand, als er 1940 auf der Flucht vor dem Nazi- und Vichy-Regime in Marseille Zwischenstation machte. »Traverse« heißt Durchqueren und schmerzlich lassen einem spooky atonale Synthesizer-Sounds bewusst werden, dass Deutschlands so wichtiger Philosoph, Übersetzer und Kulturkritiker später, gestrandet in Portbou an der französisch-spanischen Grenze, in seiner Verzweiflung am 26. September 1940 Suizid beging. Viele weitere Tracks klingen nach Gefahr, dank der beunruhigend tickenden Drum-Sounds, die Co-Produzent Felix Raethel beisteuert. Und dank der Verflechtung mit messerscharfem, aufwühlendem Violinen- (Ruth May) und Viola-Spiel (Elen Harutyunyan) sowie selbst fabrizierten Cello-, Zither-, Gitarre-, Bass- und Akkordeon-Klängen (letztere wunderschön im »Le Grand Orchestre de Kursaal«) erklingt ein hypnotisch tönendes Soundgewebe. Doch Hoffnungsschimmer geben nicht nur der Himmel über Marseille (siehe Album-Cover von Michaela Melián), dem gegenwärtigen Lebensmittelpunkt der FSK-Mitbegründerin, sondern auch zwei Tracks, die aus diesem darken elektroakustisch-experimentellem Kammermusik-Hochamt weisen: »My Other Voice«, das geglückte Cover einer Sparks-Nummer aus 1979, an der auch Giorgio Moroder beteiligt war, klingt nicht nur von der Stimme her kraftwerkish und auch das stimmige Remake »They Say That Falling In Love Is Wonderful« von Irving Berlin gibt Hoffnung. 

Lukas Lauermann betreibt auf »Varve« (col legno) Tiefenforschung, die das Kurzzeitdenken und -handeln unserer Zivilisation aufs Korn nimmt. Auszug aus den Liner Notes: »Eine Varve (oder Jahresschicht) ist eine geologische Sedimentschicht – ein Archiv klimatischer Veränderungen, vergleichbar mit den Jahresringen eines Baumes. Wie Bohrkerne, die aus diesem erstaunlichen Gedächtnis der Natur entnommen werden, sind auch die einzelnen Stücke dieses Albums Teil eines größeren, zusammenhängenden Ganzen.« Das ganz besondere am Klang dieses Albums ist das Verfließen von Cello, Orgel und Stimmen zu einer zehnteiligen, organischen Komposition, die archaisch und zukunftsfit zugleich klingt. Orgelklänge und Stimmsamples, die aus Tonbandgeräten und Kassettenrecordern zugespielt werden, bilden mit dem Grundrauschen dieser Klang produzierenden Gerätschaften magische Texturen, durch die sich Lauermanns behändes Cellospiel seinen Weg bahnt. Allmähliche Schichtungen und Klangverschiebungen geschehen unmerklich und legen doch Zeugnis ab über Verfall und Neugeburt. Jedenfalls ist gemäß Geschichtswissenschaft eine Longue Durée, eine nur ganz langsam verlaufende Strukturänderung, gegenüber den viel Schaden anrichtenden Disruptionsprozessen des Spätkapitalismus zu bevorzugen. Die lange Dauer ist sicherlich ein Motiv, das diesem Longplayer zugrunde liegt. Allein schon beim faszinierenden Gebrauch menschlicher Gesangsstimmen, die zunächst wie eine Schnittmenge aus Meredith Monk und mittelalterlicher Vokalkunst klingen, weshalb Lukas Lauermann himself nochmals zitiert sei: »Die Stimmsamples entstammen Marcel Duchamps ›Erratum Musical‹. Die ursprünglich zufällig aneinandergereihten Töne werden in eine ganz neue, geordnete Form gebracht. Die zugrunde liegenden Silben – ›Faire une empreinte; marquer des traits; une figure sur une surface; imprimer un sceau sur cire‹ – werden hingegen zerrissen. Sie sprechen vom Abdruck, vom Markieren und Prägen – von den unbedachten Spuren, die wir Menschen auf der Erde hinterlassen.« 

Musik für den Sonnenaufgang

Zeitlos Schönes aus der »Mind Travels Series« des für Exquisites bekannten Labels Ici D’Ailleurs aus Nancy. Auf »Vermillion Hours« von Melaine Dalibert & David Sylvian entfaltet sich ein Meisterwerk. Zunächst strahlt die variationsreiche Repetition von »Musique pour le lever du jour« sanft Ruhe und Zuversicht aus. David Sylvians Rolle als Instrumentalist wurde wohl bislang unterschätzt. In Daliberts weit aushallenden Pianotupfern fügt der als Avantgardist unter den Popsängern gerühmte Brite dieser »Musik für den Sonnenaufgang« gekonnt zarte elektronische Texturen ein. Da geht sprichwörtlich die Sonne auf, mensch hört förmlich, wie sich Sylvians impressionistische Petitessen in die getragenen Klavierklangresonanzen Daliberts einschleichen. Die tonale Umsetzung der »Vermillion Hours«, übersetzt »Zinnoberstunden«, ergibt in der Vorstellungskraft tatsächlich leuchtend gelblich-rote Farbtöne. Und auch das ebenso 20-minütige »Arabesque« ist Ambient-Musik auf höchstem Level. Nur dass hier Sylvian fürs Barockisieren der Komposition mehr Platz eingeräumt bekommt, sozusagen nicht embedded agiert, sondern gleichwertig Klangflächen ausmalend.


Ronan Courtys »Synesthesia« (Ormo Records/Kuroneko) birgt zunächst den gleichnamigen, dystopisch lärmenden Titel. Doch verwandelt sich die in einer Kapelle voller Widerhall aufgenommene minimalistische Soundwalze, worin ein obsessiv gestrichener Kontrabass eine bedrohlich schwärende Klangmasse generiert, ein Stück, das wohlig-repetitiv Wärme verströmt. Klänge von Synthies, gestreichelten Senfgläsern und Stimmgabeln werden dazugemischt und Produzent Mathieu Fisson ist zu verdanken, dass diese Überlagerungen im »Ideasthesia« getauften Remake von »Synesthesia« betörende Harmonien entfalten. 


Annie Bloch/Emimly Wittbrodt dekonstruieren und rekomponieren die »Prelude and Fugue in c Minor« (Stssts Records) von Felix Mendelssohn Bartholdy. »Präludium in c-Moll op. 39. Nr. 1«, komponiert 1833–37 von dem berühmten Komponisten sowie Organisten und Pianisten der deutschen Romantik, ist der originale Ausgangspunkt für eine behutsame Zerlegung und teils improvisatorische Neuinterpretation eines der Schlüsselwerke des Enkels des bedeutenden jüdischen Philosophen Moses Mendelssohn. Diese geschieht auf eine durchaus experimentelle Weise, die in schöne Momente ausufert, in der siebenten Version »VII« sich aufbäumt und doch wieder zartbesaitet atmet, ehe rauer Wind durch die Orgelpfeifen saust. Aufbrausend wirkt das nur kurz, bis die Orgel schweratmig in Basstönen verklingt.


Zwischengestreut als Überbrückung eine Vorhut auf Sounds die nach der Atlantikquerung warten. Am Brückenkopf Italien befindet sich das Trio She’s Analog mit »No Longer, Not Yet« (Carton Records/Torto Editions) quasi in einer Transitzone. Die Raffinesse des Klangs ergibt sich hier teils auch aus überbordenden Schichtungen, doch münden Tapes und Field Recordings in einen Kompositionskreislauf. Insbesondere ist das 18-minütige »Blu« Soundcollage und mäanderndes Improv-Stück zugleich, mit einem zwischendurch sich prächtig herausschälendem Mellotron.


Schwermut, made in Canada

Für lange Phasen des Glücks sorgen Rebecca Foon (Cello, Piano) & Aliayta Foon-Dancoes (Violine, Piano) auf ihrem Duo-Album »Reverie« (Constellation). Statt Postrock könnte gemeint sein: Post-Kammermusik, zwar intim zugange, doch kann der erfahrene Produzent Jace Lasek (u. a. Godspeed You! Black Emperor) nicht umhin, den Klang voller zu machen, sodass die Hörer*innen, wie der Albumtitel verheißt, in atmosphärisch breitgewälzten Träumereien, jenen des elegischen Klanges natürlich, aufgehen. Wow!


Noch mehr Trauerarbeit leistet Marc Molnar, eine Säule von Ottawas Experimentalmusikszene. Den aktuelle Longplayer »EXO« veröffentlichte der Multiinstrumentalist, Kurator und Konzertveranstalter allerdings nicht auf seinem Label Black Bough Records, sondern auf Kanadas Renommee-Label Constellation. Die Titel »Sub Luna«, »Terre Sacer« und »Pallida Mors« umfassen Zitate von Celan, Cocteau und Horace und können als Aussagen über das Unvermögen der Menschheit gedeutet werden. Wo Mikrophone im Piano derart platziert werden, dass sie die tiefen Frequenzen im Klavierkörper extremer wiedergeben und eine Bassdrum als Resonanzhaut im akustischen Raum positioniert wird, steckt Strategie dahinter. Molnar, der Mikrotonalität bei James Tenney und Komposition bei R. Murray Schafer studierte, versteht sich zwar als Tonsetzer, doch als einer, der die Welt von Hardcore, Post-Punk, No Wave oder Elektronikmusik in vielerlei Spielarten in sein Schaffen einbezieht. Deshalb klingen gewisse Pianoparts rasiermesserscharf und lichtdurchflutet zugleich und reichen die streicherdominierten Stellen an Sphären heran, an die Györy Ligeti und, diese Assoziation kommt öfters auf diesem fordernden Album, an den Schwermut-Himmelsstürmer Henryk Mikolaj Górecki gemahnen. 


Eher eine meditative Elegie ist Jessica Moss’ »Unfolding« (Constellation), mit beunruhigendem Grundton. Melodische und abstrakte Texturen ihres Violinspiels werden u. a. mit Distortion Pedals verfremdet, mit Spuren von arabischen und jüdischen Klängen vermengt und teils mit Pattern von Tony Bucks Paintbrush-Drumming verwoben. Diese Drone-Abstraktion wirkt einigermaßen hauntologisch und ist auf der B-Seite einem freien Palästina gewidmet (als ehemaliges Mitglied von Silver M.Zion und Black Ox Orchestar ist Moss Teil der Montréal-Blase Musicians for Palestine). Ihre schlussendliche, berührende Vokalkomposition »Until All Are Free« möchte ich gerne auf alle von Auslöschung bedrohten Bürger*innen auf unserem Planeten ausweiten, u. a. auf die Uiguren in China, auf die Bürger*innen der Ukraine, von Darfur im Sudan und somit alle von Krieg und Unterdrückung Terrorisierten. Dann tut diese Betrübnismusik ihre heilende Wirkung.


Erhellte skandinavische Finsternis

Ein ganz besonderes Vermächtnis hat Mika Vaino (Pan Sonic) als Ø hinterlassen. »Sysivalo« (Sähko Recordings), das wegen seines frühen Todes 2017 unvollendete neunte Album unter seinem Alias Ø, kombiniert die finnischen Worte sysi und valo, die für Dunkelheit/Finsternis und Licht stehen. Wenngleich so etwas wie eine stille, harsche, beatlose Dunkelheit, die found noises einschleust, »Sysivalo« durchzieht, kommt versteckt doch immer wieder Licht zum Vorschein. So ist eine mäandernde, wie ein Toypiano klingende Harmonie, die sich in »Sylvannus«, den dunkel grundierten Schlieren von Cut 6, eingenistet hat, glücklich machende Extravaganza. Oder glänzt »Kohtalo« als wundersame Miniatur mit zarten Vibraphon-Klängen. Ergriffenheit macht sich auch im Schlusstrack »Loputon« breit, wo sich auf langgezogenen, dunkelgrauen Orgeltönen eine nachpfeifbare Melodie bemerkbar macht.


Betörend auf eine eigenartige Weise ist »Percolation« (Sofa Music) von Christian Wallumrød. Als Pianist und Komponist ist Wallumrød bekannt für seine Kollobration mit der Improv-Combo Dans les arbres und für seine Ensemble-Werke auf ECM. Solo setzt der Norweger auf unscheinbaren Minimalismus, wo den Klavierminiaturen elektronische Beimengungen gut tun. Herausragende Aussreißer: Der fünfte Track »You Didn’t« überrascht mit Klängen von Harmonium, Autoharp und Synths, die ein klein wenig durch den Dissonanz-Fleischwolf gezogen scheinen. Gleich darauf folgt mit »Higher than your gluteous« eine Art verwackelter Piano-Boogie, vertaktet mit holpriger Drummachine.


Ganz instrumental gilt auf Erlend Apneseths »Song Over Støv« (Hubro) zwar nicht, weil hin und wieder Avant-Folk-Vokalmantras einsetzen, auch ist die freejazzige Ausnahmenummer »Spring« ein beherztes Juwel. Das aufgrund seiner luftigen, teils an Sufi-Musik aus dem Nahen Osten gemahnenden Grooves in Trance versetzende »Lied über Staub«, so die Übersetzung des Albumtitels, geht als Meditation über das Leben im Jetzt durch. Genuss und Freude sollen im kalten Norden überwiegen. Trotz melancholischem Grundgefühls und leiser Passagen sorgt das elfköpfige Ensemble für ein flirrendes Klanggeschehen, getragen von gleich vier Hardanger-Fiedeln.


Øyvind Torvunds »A Walk Into The Future« (Aurora Records) ist eine wahre Wundertüte. Zunächst bezirzt das Oslo Philharmonic Orchestra unter Olari Elts mit zwölf melodisch orchestral ausswingenden »Sweet Pieces« und knöpft sich im »Archaic Jam« zersplitterte Folktunes vor. Dann lässt der norwegische Komponist mit instrumental nachgebauten Vogelrufen im »Symphonic Poem No. 1 – Forest Morning« durch einen Zauberwald lustwandeln und begeistert auch final den Rezensenten mit dem gewitzten, Sitcom-Jingles wie digitale Einsprengsel einbeziehenden Marsch »A Walk Into The Future«. Der mit allen Wassern gewaschene 49-Jährige erweist sich als pfiffiger Symphoniker, der zwischendurch auch orchestrale Wucht mit sagenhaft schön ausstrahlenden Molltönen draufhat.

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