Die Wüste von Sonora gibt es wirklich, sie ist nicht nur ein mythischer Ort, an dem fragile Soundfetzen im elektroakustischen Äther diffundieren. Sie ist zugleich ein literarischer Ort. Der ausufernde Roman »Die wilden Detektive« des leider schon verstorbenen chilenischen Autors Roberto Bolaño nimmt hier seinen Ausgangs- und Endpunkt. In »Die wilden Detektive« entwirft Bolaño ein wüstes Fresko einer Handvoll verlotterter, wagemutiger, zutiefst talentierter Poeten, die nach dem Vorbild einer von ihnen verehrten Dichterin den »viszeralen Realismus« gründen. Aber diese Gattungsbezeichnung tut nichts zur Sache, sie ist bloß obligatorisch, ohne inhaltliches Gewicht. Vielmehr geht es darum, dass sich die Protagonisten des Romans ausnahmslos auf ihren weiteren Lebenswegen verzetteln, so wie sich der Roman selbst höchst kunstvoll verzettelt (wie übrigens stets bei Bolaño). Nichts desto trotz wird die Schule der viszeralen Realisten im Nachhinein eine Bewegung, ein Geheimtipp, ein Eintrag auf der literarischen Landkarte, in deren Inneren sich jedoch etwas ganz anderes ereignete: Keine literarische Zuspitzung, sondern eine Pilgerfahrt in die Wüste von Sonora, bei der alles ganz anders lief als geplant. Eigentlich war man auf der Flucht vor einem Zuhälter und eigentlich hat man das Gesuchte durch die Suche selbst zerstört. Bolaño als Dichter des Ursprungs, den es nicht gibt, den es nie gegeben hat. Stattdessen verwalten wir immer nur ein uferloses Danach.
Von der Wüste in den Wald
Die Wüste von Sonora, das ist also auch die Frage: Wann hat das angefangen mit diesen Klangflächen, mit diesen ambientartigen Soundskulpturen, mit dieser Erstarrung in sphärischer Schönheit, mit diesem Zwischenreich zwischen Anspruch und Meditation? Ein absolutes Meisterinnenstück in dieser Hinsicht ist etwa die CD »The Illusion Of Infinitesimal« der Französin France Jobin, die sich vor vielen Jahren als Blues-Keyboarderin verdingte, dabei aber offenbar immer mehr in das Reich der minimalistischen Sphärik abgedriftet ist. In »The Illusion Of Infinitesimal« ist dieses Reich dahingehauchter denn je, schwebende Synthiesounds ziehen am Hörer bzw. der Hörerin vorbei wie Nebelhörner an einem esoterischen Massagesalon. Dass hier auch noch »recorded sounds« eine Rolle spielen sollen, vernimmt man mit erstarrtem Erstaunen. Oder erstaunter Erstarrung. Je nachdem. Ist das noch Kunst, fragt man sich, oder doch eher ein akustischer Meditationsausflug? In exakt dieselbe Kerbe schlagen der Texaner Will Long und der Deutsche Christoph Heemann. Unter dem Bandnamen Hollywood Dream Trip fragen sie »Would you like to know more?« Bloß gibt es da weder more zu wissen, noch more zu hören, außer dass die recorded sounds hier nun hörbarer, greifbarer, nachvollziehbarer sind und sich das Ganze gerne mit dem Attributröckchen »drones« schmückt, aber nichtsdestotrotz in einem 44minütigen Schwebezustand aufgehen. (Will Long übrigens ist eine Hälfte der Gruppe Celer, die durch einen geradezu unermüdlichen Output glänzt).
Dasselbe Spiel, derselbe Musiker, dasselbe Label (drag city), aber doch vieles anders macht die CD »Macchia Forest«. Hier wird Christoph Heemann von der deutschen Klangkünstlerin Limpe Fuchs und dem Finnen Timo van Luijk begleitet, doch was auf »Would you like to know more?« fragiler Soundbrei war, wird hier zur fein ziselierten Angelegenheit, zu einem echten, schillernden Klang- und Soundereignis. In diesen »Macchia Forest« tritt man ein wie in einen echten akustischen Raum, und begibt sich -stimmiger als sonst üblich – auf eine Soundreise, die zugleich auch Erweckungsreise ist. Dieser kleine Quantensprung geht vermutlich vor allem auf das Konto von Limpe Fuchs, die ja als Gründerin der Krautrock-Exoten Anima bereits in den 1970er Jahren zu einschlägigen Ehren kam, später dann unter anderem mit Friedrich Gulda oder Albert Mangelsdorff spielte. Ein schönes, ein absolut hörenswertes Spätwerk ist das hier, das ganz nebenbei demonstriert, wie verspielt und schichtenreich man die Sache angehen kann – und dennoch vom Zugang her sphärisch bleiben kann.
Vom Wald zurück zum Gefälligen
Die Frage Kunst oder Schlummertrip wirft erneut der Soundbastler Tomek Mirt auf, der gleich zwei einschlägige CDs veröffentlicht hat. Auf »Rite of Passage« spielt er sich alleine mit seinem Modularsynthesizer, auf »Fingerprints« spielt er gemeinsam mit TER (nach allem, was sich im Internet dazu erraten lässt, eine Dame von der polnischen Psychedelic-Band Brasil) und dem Percussionisten Zale. Das Resultat ist in beiden Fällen eher gefällige als aufregende Ambientmusik, eher Soundtrack als Noise, eher Echo als Innovation. Für einschlägig Soundverliebte dennoch eine Empfehlung, nicht zuletzt wegen der hübschen Covergestaltung. Besonders »Rite of Passage« ist in visueller Hinsicht ein Schmuckstück. In eine ähnliche Kerbe schlägt das deutsche Duo Uwe Schmidt (bzw. Atom TM) und Material Object, die sich unter dem Namen No. Inc. zu Band und Label formiert haben und mit »Early Reflections« eine mehr als einstündige Soundreise mit reichlich analogem Charme hingelegt haben. Auch das eher einschlägig als bahnbrechend, aber dennoch durchaus gelungen.
Eine weitere minimalistische Klangreise bietet »Ljubljana – Wien« von Irena Tomažin & Christof Kurzmann, erschienen auf dem slowenischen Label l’innomable Records. Hier sind wir viel weniger in sphärischen Ambientwelten als in einer verschrobenen Nische der Elektroakustik. »Ljubljana – Wien« wäre im Grunde nicht weiter erwähnenswert, wenn es nicht Kurzmann wäre, und wenn nicht die vokale Experimentierfreudigkeit von Irena Tomažin hübsch überbordend wäre. Zwischen mongolischem Kehlkopfgesang und Diamanda-Galas-Kreischattacken ist hier fast alles – wenn auch in gedimmter Version – vertreten.
Dazu passt auch »Sombre Nay Sated«, eine EP der australischen Soundbastlerin Tattered Kaylor bzw. Tessa Elieff. Es sind die im Feld aufgenommenen Einsprengsel (ergo erneut recorded sounds bzw. field recordings), die dafür sorgen, dass sich die drei Stücke nicht in eine elektroakustische Meditation mit vagem Kunstanspruch verlieren. Dennoch sind hier vor allem einschlägige HörerInnen bestens aufgehoben. Das dritte Stück basiert übrigens auf einer Installation von Andreas Trobollowitsch beim Wiener »Moozak« Festival.
Und endlich zurück zur Kunst
Ebenfalls teilweise unter Ambient einzureihen ist die CD »Red Sun« von der polnischen Elektronikerin Kasia Glowicka gemeinsam mit ihrer klavierspielenden Landsfrau Malgorzata Walentynowicz bei bolt records eingespielt. »Red Sun« hört sich stellenweise wie ein höchst gelungenes Crossover aus Klassik und Ambient an, auf »Favola« etwa tippelt das Piano durch eine minimalistisch-naturalistische Parallelwelt, aber die beiden großen Stücke der CD, »Retina« und »Presence« belegen, dass Kasia Glowicka eine Freundin der großen Formen ist, die ihre Wirkung nur für HörerInnen mit langem Atem entfalten. Das ganze Album ist übrigens als Konzeptwerk angelegt, weswegen es sich auf dem letzten Stück »Absence« nochmals als eine Art Pianominiatur widerspiegelt. Dass »Red Sun« hier unter Ambient läuft, bringt uns zurück an den Anfang, denn ganz klar ist das Sphärische, Meditative von »Red Sun« bloß Ausdruck einer Künstlerin, die auch ganz anders kann. Und das ist ein Eindruck, den man aus den bisherigen CDs nicht zwangsläufig destillieren muss. Aber so ist das eben in der Wüste Sonora – die reinsten, die erfüllendsten Werke entstehen oft aus Quellen, die nichts mit ihren Ursprüngen gemeinsam haben.
No. Inc (No 900): »Early Reflections« / No. Inc.
France Jobin: »The Illusion Of Infinitesimal« / Baskaru Records
Hollywood Dream Trip: »Would you like to know more?« / Drag City
Fuchs/Heemann/Luijk: »Macchia Forest« / Drag City
Mirt: »Rite of Passage« / cat/sun bzw. Monotype records
Ter: »Fingerprints« / cat/sun bzw. Monotype records
Irena Tomažin & Christof Kurzmann: »Ljubljana – Wien« / l’innomable Records
Tattered Kaylor: »Sombre Nay Sated« / Stasisfield cat
Glowicka & Walentynowicz: »Red Sun« / Bôlt Records
Und wer Lust hat, Roberto Bolaño kennenzulernen: »Die wilden Detektive« von Roberto Bolaño, 12,90 Euro, DTV, 2004