Jolana Havelková &amp; Lucie Vitková<br /><a title="http://zvukolom.org/artists/jolana-havelkova-lucie-vitkova/" target="_blank" href="http://zvukolom.org/artists/jolana-havelkova-lucie-vitkova/">&copy; zvukolom.org</a><br />
Jolana Havelková & Lucie Vitková
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Spielzeugpianos, Orgeln und dampfplaudernde Stromgitarren

Ein Rundgang durch aktuelle Neuerscheinungen der zeitgenössischen Moderne mit Karl-Heinz Essl, Jolana Havelková, Lucie Vitková, Stock11, Tobias Gerber, Michael Heisch, Ulrich Alexander Kreppeien, Marko Nikodijevic, David Philip Hefti, Bryce Dessner & Jonny Greenwood.

Wo steht die moderne Musik heute? Verwendet sie noch Noten oder kompositorische Prinzipien? Hat sie sich ins Paradies der Spontanität verabschiedet? Wird sie immer noch überwiegend von älteren, noblen Herren gehört und hat sie es auch sonst recht gemütlich im Konzertsaal? Na gut, die letzten zwei Fragen werden wir hier auch nicht beantworten, aber immerhin werden wir in Windeseile durch ein paar Neuerscheinungen galoppieren. 

Isabel Ettenauer plays Karlheinz Essl: »Whatever Shall Be« / Edition Eirelav
cck1.jpg»Whatever Shall Be« versammelt alle Kompositionen von Karlheinz Essl für das Spielzeugpiano. Es handelt sich hier um eine gegenseitige Befruchtung von Interpret und Komponist über den Umweg des exotischen Instruments. Isabel Ettenauer ist ein veritabler Toy Piano-Nerd bzw. natürlich auch entsprechende Toy Piano-Virtuosin. Im Laufe von fünf Jahren hat Essl mehrere Stück dafür – und auch für anverwandte Instrumente wie das afrikanische Daumenklavier Kalimba – komponiert. Außerdem war von der ersten Komposition an die Elektronik im Spiel (erst nur als ein direkt ins Piano eingebautes Feedback via Lautsprecher, danach mit allerhand Elektronik). Dadurch wird »Whatever Shall Be« nicht nur zur erstaunlich abwechslungsreichen Klangreise, sondern auch zu einer beispielhaften Kür, wie man durch die Fokussierung auf ein eingeengtes Setting ein Mehr an kreativen Lösungen findet. Damit haben wir gleich eine Antwort auf eine noch gar nicht gestellte Frage: Wie man heutzutage noch spannende kompositorische Zugänge findet. Die Symbiose von Essl und Ettenauer ist dafür schon mal kein schlechtes Beispiel. 

Jolana Havelková, Lucie Vitková: »Proposal For An Alteration Of The Score« / Lom
cck2.jpgWer jetzt dachte, »Toypiano, das ist ja schrill«, hat die Rechnung nicht mit diesen beiden Damen aus Tschechien gemacht. »Proposal For An Alteration Of The Score« ist erneut ein Gemeinschaftswerk, dieses Mal von der Illustratorin (bzw. »visual artist«,) Jolana Havelková und der Komponistin Lucie Vitková. Havelková hat die Werke von František Kmoch, einem tschechischen Komponisten aus dem 19. Jahrhundert, neu interpretiert (wie auch immer das zu verstehen ist) und in eine Graphik umgewandelt, die ein wenig wie die Videospielvariante einer Partitur aussieht. Diese Grafik wiederum wurde von Vitková nachgespielt (keine Noten, eine Grafik!) und zwar auf der Orgel, am Piano, am Akkordeon, auf der Mundharmonika und per Gesang. Das Resultat ist schrill, wehmütig, minimalistisch, irrwitzig. Mal Meredith Monk auf Designerdrogen, mal Steve Reich im Packeis, mal Astor Piazzola im Bahnwärterhäuschen. Alles kombiniert mit einer Unmittelbarkeit (die Klangwirklichkeiten von Ort und Raum und Umgebungsgeräuschen sind immer mit im Spiel), die knapp am Dilettantismus vorbei schrammt. In Summe aber ein ungewöhnliches, ein außerordentliches Hörerlebnis. Chapeau! Anspieltipp: Track No. 2, »Na hrazde« 

Stock11: »Stock11« / Aufabwegen
cck3.jpgUnd wir drehen nochmal an der Irrsinnschraube. Hinter dem Namen Stock11 verbirgt sich ein Zusammenschluss mehrerer Komponisten, Interpreten und Improvisationskünstler deutscher Herkunft, die sich bedingungslos der zeitgenössischen Musik verschrieben haben. Darunter verstehen alle elf Künstler offenbar ein möglichst sperriges, möglichst gegen jede Hörgewohnheit gebürstetes Amalgam aus Elektroakustik, field recordings und instrumentalen bzw. vokalen Beimengungen. Das kann, wie bei der Eingangskomposition von Christoph Ogiermann und Jürgen Palmtag in eine zickige Noiseattacke ausarten, die jede unbescholtene Hörerin locker in die Flucht schlägt, das kann aber auch zu einem missratenen Hörspiel ausarten, wie in »Vergiftet« von Hannes Seidl, eine Art Prä-Vortrags-Geplapper, das von einer schunkelig-dissonanten Akkordeonspur begleitet wird. In »moving in/love song/city front garden with old men« von Jenifer Walshe wird wiederum fröhlich aus einer barocken Parallelwelt zitiert. Das alles ergibt insgesamt eine abwechslungsreiche CD mit durchaus bemerkenswerten Passagen, führt aber zugleich den kollektiven Zugang ein wenig ins Absurde. Letztendlich ist »Stock11« wohl eher als Sampler zu betrachten, eingespielt von Gleichgesinnten für Gleichgesinnte. 

Tobias Gerber, Michael Heisch: »Palimpsest« / Creative Works Records 
cck4.jpgEbenfalls ein Gemeinschaftsprojekt ist die CD »Palimpsest« von den beiden Komponisten Tobias Gerber und Michael Heisch. Der Clou des titelgebenden ersten Stücks ist, dass Tobias Gerber (studierter) Elektroniker ist, während Michael Heisch eine komponierte Vorlage lieferte. In zweijähriger Fitzelarbeit wurde Heischs Input gewissermaßen reelektrifiziert. Eingespielt wurde das Ausgangsmaterial vom Ensemble für Neue Musik Zürich, auf dem dritten Stück, »Zirufim«, gesellt sich auch noch Luigi Archetti auf der E-Gitarre dazu – und das reichlich hörauffällig und beeindruckend. Vom Ansatz her ist die Schichtarbeit bzw. eben das »Palimpsest«, so wie es Gerber und Heisch verstehen, durchaus stimmig, aber im Hörerlebnis drückt sich das nicht immer eindeutig aus. An manchen Stellen klingen die Stücke eben doch nach einschlägiger Elektroakustik und weniger nach gewagter Vermittlung zwischen zwei Welten (die im Ûbrigen längst nicht mehr voneinander entfernt liegen, erst voriges Jahr haben Alberto Boccardi und Lawrence English ähnliches probiert, siehe hier.
An anderen Stellen hingegen funktioniert das höchst bemerkenswert und erzeugt ganz eigenwillige Klangskulpturen. Reinhören ist hier auf jeden Fall die richtige Entscheidung. 

Drei Mal Ernst von Siemens Musikstiftung / Col Legno
cck5.jpgDas renommierte Wiener Label Col Legno gibt auch eine Reihe für Nachwuchskomponisten heraus, die von der Ernst von Siemens Musikstiftung kofinanziert wird. 2013 sind drei CDs erschienen, die fast ausschließlich in klassischer Orchesterinstrumentierung eingespielt wurden, aber doch recht unterschiedliche Handschriften aufweisen. Ulrich Alexander Kreppeien etwa (»Spiel der Schatten«) scheint mit seinen polyphonen Wirbeln und mikrotonalen Splitterwelten ein wenig auf den Spuren von Friedrich Cerha zu wandeln, die ganze Sache klingt nur etwas mehr nach schön frisierter Wildheit. Bei Marko Nikodijevic (»dark/rooms«) hingegen sind unter anderem Olivier Messiaen, György Ligeti oder Igor Strawinsky die Bezugsgrößen, einige der absoluten Halbgötter der modernen Musik also. Das ist schon mal gut, und dass Nikodijevic einen leichten Hang zur Düsternis hat, ebenso aber auch zu Soundclustern und Minimalismus, ist sogar noch besser. Nikodijevic scheut sich auch nicht direkt zu zitieren, das ist unter manchen Komponisten zwar eine Art Gretchenfrage, aber wir nehmen es hier dankbar zur Kenntnis, denn »dark/rooms« ist eine fast schon farbprächtige, immer wieder mal sanft überraschende Werkschau geworden. Feine Sache. David Philip Hefti (»Changements«), der Dritte im Bunde, bewegt sich auch irgendwo in der Nähe von György Ligeti, bei ihm steht die organische Entwicklung und das Spiel mit Kontinuitäten und Diskontinuitäten im Vordergrund. Daraus resultieren allerdings viele allzu bekannte Klangfiguren, vor allem das Spiel mit den eruptiv auftretenden Dissonanzen, das man etwas böswillig als das nervöse Leiden der modernen Klassik bezeichnen könnte. Trotzdem beherrscht natürlich auch Hefti sein Kompositionshandwerk hervorragend. Fazit: drei kompetente Komponisten, aber Sieger der Herzen ist Marko Nikodijevic. 

Dessner & Greenwood / Deutsche Grammophon 
cck6.jpgDen Abschluss macht eine Irrsinnstat der anderen Art. Die Deutsche Grammophon war unter den Klassiklabels immer schon der Mainstream-Platzhirsch, der immer nur sehr zaghaft in Richtung Moderne röhrte. Wenn also jetzt der The National-Gitarrist Bryce Dessner und der Radiohead-Gitarrist Jonny Greenwood auf eben diesem Label Kompositionen für Orchester und E-Gitarre vorlegen, darf man sich gar nicht wundern, dass in der Presseaussendung gleich mal das »Concerto for Group and Orchestra« von Deep Purple erwähnt wird, um danach klarzustellen, dass man sich von diesem »Feldversuch« längst fortbewegt habe, denn beide Herren versuchen nicht symphonisch zu rocken, sondern eine Synthese aus klassischer Komposition und Rock zu schaffen, welche, so die Presseaussendung weiter, noch nie so »stringent, organisch und sinnlich ausgereift« geglückt sei. Ja, ein Schmarren ist das! Sowohl die drei Stücke von Dessner, wie auch die Suite von Greenwood sind kaum gehaltvoller als ein Filmsoundtrack (Greenwoods Suite stammt ja auch aus dem Soundtrack zu »There will be Blood« von Paul Thomas Anderson), woran natürlich nichts verkehrt und nichts auszusetzen ist. Als leicht angeschrägte Soundtapete für Orchester und spärlich eingesetzte E-Gitarre macht sich dieses Album ganz hervorragend. Aber hier von Innovation oder noch nie Dagewesenem zu flöten, ist erbärmlich. Ungefähr so wie die Nebenbemerkung, dass sich Greenwood, der vor seiner Zeit als Radiohead-Gitarrist zum klassischen Bratschisten ausgebildet wurde, schon auch für Ligeti und Penderecki interessieren würde. Ahja. Geschenkt. Sicher ist jedenfalls, dass die Fans beider Herren durch diese CD zeitgenössischer E-Musik um keinen Millimeter näher kommen werden. Eine vergebene Chance. Mit demselben Getöse hätte man besser Michael Heisch und Tobias Gerber oder Jolana Havelková und Lucie Vitková oder Marko Nikodijevic der Weltöffentlichkeit präsentieren können.

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