© Aşa/Wagram Music
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Postkoloniale Sedimente

Der vibrierende Austausch zwischen Lagos und London erweitert die Perspektive auf den Black Atlantic und stellt dabei afrikanische Musik ins kulturelle Zentrum des (post-)kolonialen Dreiecks.

Die Geschichte des Black Atlantic ist die einer Diaspora, ihr Ausgangs- und zugleich Fluchtpunkt. Bis heute lassen sich die Linien des (post-)kolonialen Dreiecks zwischen Europa, Afrika und Amerika nachzeichnen, werden von der Musik immer tiefer eingraviert – gleich einem Fluss, der sich immer tiefer ins Bachbett eingräbt, Sedimente ablagert und dabei permanent seinen Lauf verändert. Seine Wellen umspülen uns mit den Klängen zahlloser Dreiecksverknüpfungen, die einander in Raum und Zeit überlagern: Jaki Liebezeit, Miriam Makeba und Cybotron; Éliane Radigue, Fela Kuti und Lauryn Hill; Goldie, Os Lambas und Alice Coltrane; Moritz von Oswald, Jennifer Esmerelda Hylton und Billie Holiday; usw.

Aktuell beschreibt die Achse zwischen London und Lagos, Nigeria einen besonders fruchtbaren Hauptstrang in diesem Gefüge. Aus britischer Perspektive waren die Verbindungslinien der afrikanischen Diaspora zur eigenen Geschichte lange marginalisiert – zu stark war der britische Rassismus, aber auch die engen Verwebungen der britischen Musikgeschichte mit dem karibischen Raum trugen zu dieser Entwicklung bei. Als die Windrush-Generation ab 1948 Jazz und Reggae in Form von Calypso nach Großbritannien brachte (vergleiche etwa DJ Flights Podcast »Windrush Stories«), wurde damit eine neue Kultur begründet, die bis heute einen der zentralen Bezugspunkte für Menschen mit Migrationsgeschichten in Großbritannien darstellt.

Bild: © Chris Hessle

Konnichiwa, Nigeria!

Mit Skepta (mit bürgerlichem Namen Joseph Olaitan Adenuga Jr., der gemeinsam mit seinem Bruder Jamie alias JME das Label BBK/Boy Better Know betreibt; die Schwester Julie ist als Musikjournalistin aktiv) ändert sich diese Balance: zum ersten Mal veröffentlicht ein schwarzer britischer Musiker sein Debütalbum »Konnichiwa« (2016) auf dem eigenen Label und erobert damit nicht nur Großbritannien, sondern gleich den gesamten Atlantik. Skepta wird mit seinem Album zum Blueprint für tausende Rapper*innen, die ihm folgen werden. Zur gleichen Zeit bilden sich in den Städten an der Küste des Golfs von Guinea eine Vielzahl neuer Musikszenen heraus. Jene in Lagos nennt sich Afrobeats, in Anspielung auf das vielfältige Erbe Fela Kutis und seiner Zeitgenoss*innen. Die Stücke kombinieren Rap mit R’n’B, bringen digitale Produktionstechniken mit akustischen Elementen in Einklang und lassen sich von Nollywood (die nigerianische Filmindustrie mit dem Namen, der auf Hollywood bzw. Bollywood anspielt) und Computerspielen gleichermaßen inspirieren. Die Stücke sind bunt, verträumt und düster; die Szene blickt nach vorne auf den Ozean, dem Tor zur Welt.

Skepta & Wizzkid: »Energy (Stay Far Away)« (Boy Better Know, 2018) verbinden diese beiden Welten und schon kurze Zeit später ist diese Verbindung allgegenwärtig: Flohios Album »Out Of Heart« (2022) beginnt mit der akustischen Signatur eines Landeanflugs auf Lagos; Little Simz und Obongjayar versetzen sich mit »Point and Kill« (2022) ins Nigeria der 1970er-Jahre; und ENNY wird einem breiteren Publikum durch einen 1,5-minütigen »A Million Freestyle« (2020) bekannt, bei dem sie auf den Beats von Jay-Z: »A Million And One Questions« (1998) durch Londons Underground rappt: »I’m so damn-London / I’m so South-East / Look, I’m so Nigerian«. Dabei geht es naturgemäß nicht immer um »Champaigne Problems« (FAMM, 2022). Plötzlich wird die Verbindungen zwischen Nigeria und London aber zu etwas Besonderem und die Tatsache, dass die britische Popkultur schon immer eng mit der nigerianischen Diaspora verbunden war, tritt an die Oberfläche – man denke nur an Shirley Bassey, deren Vater nigerianische und karibische Wurzeln hatte, oder an Sade Adu, die 1959 als Helen Folasade Adu in Ibadan, Nigeria geboren wurde. Manchmal braucht es einfach Zeit, bis die Sachen zusammenwachsen: Sainté: »Sade« (YSM Sound, 2022).

Bild: © Chris Hessle

Globale Schallwellen

Erst die Globalisierung der Diaspora vermochte die Idee von einer »anderen Seite des Ozeans« in einem multidimensionalen Raum aufzulösen: Es geht nun endlich auch in der (Pop-)Musik nicht mehr um eine exklusive Beziehung zwischen Europa und Amerika, sondern der Ozean transportiert den Schall um die Welt und die Wellen treffen in Wales gleichermaßen auf die Küstenlinien wie in Lagos. Manche dieser Wellen stammen wiederum aus Cleveland, rund 150 km südlich von Detroit: RA Washington & Jah Nada: »Keter« (Astral Spirits, 2022). Mit engen Verbindungen zur Bürgerrechtsbewegung und zu Spoken Word, die als Generationen-übergreifende Kultur des Widerstands jeden einzelnen Takt begleiten, als Erdungsgeräusche im Raum nachhallen und damit die Aufnahme verorten – nicht in einem anonymen Aufnahmestudio, sondern direkt am Ort des Verbrechens, am Ort that matters. 

Die Wellen, die von diesem Ort ausgehen, sind auch im über 8.000 km entfernten Abidjan noch deutlich wahrnehmbar. Sind nicht bereits am Ende des 20. Jahrhunderts drexciyanische Wesen über den St.-Lawrence-Strom ans von Cleveland aus betrachtet gegenüberliegende Ufer des Lake Erie nach Detroit gelangt? Und drüben, auf der anderen Seite, am Strand von Lagos: Aşa: »Ocean« (Rue 11, 2022). Oder auch Iannis Xenakis: »Diamorphoses« (Karlrecords, 1957/58), der einst aus Griechenland vor den Briten fliehen musste, die ihn als kommunistischen Partisanen zum Tode verurteilt hatten, und der fortan im französischen Exil seine musikalische Vision von Diaspora entwickeln sollte. Dabei zog es ihn immer an die Küste Korsikas, wo mehr als 60 Jahre später die Silhouette der Ocean Viking am Horizont auftauchen würde, während Aşa – auf einer gegenüberliegenden Seite und in einer anderen Zeit – auf das gleiche, schwarze Meer hinausblickt.

Dieser Text entstand im Zuge der Vorbereitungen zur Sendung Zeit-Ton vom 3. Jänner 2023 mit Alfred Pranzl und Xavier Plus.

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