Foto: Christof Kurzmann © Mikroton
Der Name des russischen Labels Mikroton ist in musikalischer Hinsicht Programm, zumindest wenn man »mikrotonal« als reduzierte Variante des Elektrominimalismus verstehen will – wobei sich die Frage stellt, wie denn Minimalismus noch reduzierter werden kann. Auf »Cym_Bowl« des Schweizers G?NTER M?LLER etwa werden Glocken und Becken elektronisch verfremdet zu sphärischen Klangwelten umgeformt, was beim ersten Durchhören noch etwas krude und eindimensional klingt, beim zweiten Anlauf ist man eher schon bereit, nicht nur die klangliche Vision, sondern auch eine vage, kompositorische Absicht des Schweizers zu erahnen. Wer bis jetzt noch unschlüssig war: Mikroton ist ein Label, das sich zeitgenössischer Musik fernab jeder Eingrenzung verschrieben hat, in der Praxis – und auf immerhin zwölf CDs innerhalb von drei Jahren – umfasst das Programm allerdings vor allem elektronische Soundwelten zwischen Ambient, field recordings und sphärischen Soundeskapaden der monumentalen Sorte. ?? »Palmar Zähler«, aufgenommen in Buenos Aires, präsentiert die Zusammenarbeit von drei argentinischen Musikern, ALAIN COURTIS, JAIME GENOVART & PABLO RECHE, mit CHRISTOPH KURZMANN, einem für experimentelle Ausflüge aller Art angenehm auffälligen Üsterreicher. Auch hier vereinigen sich die vier Player zu einem sphärischen Soundteppich, der mitunter mehr wie ein elektronischer Bienenschwarm klingt, unterbrochen jedoch durch fein gesetzte Akzente. Ja, es tauchen sogar ganze Melodiefragmente auf. »Planes« von JASON KAHN & ASHER wiederum besteht aus einem einzigen, live eingespielten Track, der vor seiner Aufnahme noch im Kopf von Asher (»one of the most interesting composers in the United States«) durch die Gassen von Boston geistern durfte. Auch hier regiert der unbedingte Wille zum Sphärischen, unter dessen Teppichoberfläche die Freunde von field-sounds und Analogsynthesizern ein ausgelassenes Happening feiern. Jedenfalls eine schaurig-schöne Ambientsoundkathedrale. ?? Mikroton-Katalognummer 4 hat gar keinen Namen mehr und führt uns nach Wien und Wels. Selbstverständlich weiß man, was man der heimischen Avantgarde schuldig ist. DAFELDECKER, KURZMANN, TILSBURY & WISHART geben sich noch wortkarger als ihre Vorgänger (ja, es ist erneut dieser Kurzmann), aber dieser Elektrosoundteppich präsentiert sich weitaus abwechslungsreicher und mit dezenten Verbeugungen vor der atonalen Wiener Schule, die man geradezu wie einen Bissen disharmonisches Brot in der elektronischen Sphärensuppe verschlingt. ?? »Klingt.Org: 10 Jahre Bessere Farben« ist ein Doppel-CD Sampler der im Jahr 2000 gegründeten klingt.org-Plattform, auf der sich seither einschlägige e-musicanten aus allen Ecken der Welt zusammenfinden. Neben England, Frankreich, Schweden, Japan, Malaysia, Korea, Mexiko und den USA findet sich auch reichlich heimische Kreativität (yes, it’s Kurzmann again, but Bulbul also, f. i.). Mit diesem Sampler ist definitiv am besten beraten, wer nicht nur einen ?berblick über den Stand der Electro-Avantgarde erhalten will, sondern offen für spannende Soundexperimente ist. Dennoch stellt sich immer wieder die Frage (und zwar bei allen Mikroton-CDs): Wo waren alle diese Musiker Ende der 1960er, als elektronische Spielereien, Klangflächen und Mikrostrukturen so en vogue waren? Als man Varèse neu entdeckte, Ligeti erstmals anhimmelte und Karlheinz Stockhausen sich den Zeigefinger an einem Röhrenverstärker versengte? Klar, heute klingt das alles much more sexy, dafür aber kann das Equipment knapp 1.000 mal mehr als früher ?? ?? »Limnat« von JASON KAHN, G?NTER M?LLER & CHRISTIAN WOLFARTH führt uns zurück nach Zürich und zu der nur bedingt reizvollen Herausforderung, ein weiteres Mal schillernde Worte für ein elektroakustisch gebasteltes Soundkontinuum zu finden (dieses Mal ist auch ein iPod mit am Start). Weitaus spannender ist da (und zum Abschluss) »Hammeriver«, erneut eine kollektive Anstrengung, to make some sense aus dem Zusammenspiel von traditionellen Instrumenten und Live-Elektronik. Dass letztere verhältnismäßig sparsam eingesetzt wird und die sphärische Wirkung zur Abwechslung durch eine sich asymptotisch ans Atonale anschmiegende Improvisation erzielt wird, wäre eine ausführlichere Würdigung wert, aber alleine die Namen der ausführenden Protagonisten (ein Bandname existiert nicht, wir sind hier nicht im Mainstream, Kinder) verschlingt die Hälfte des zur Verfügung stehenden Platzes. Also bitte, so heißt die Band: CLARE COOPER, CHRIS ABRAHAMS, CHRISTOF KURZMANN, TOBIAS DELIUS, CLAYTON THOMAS, WERNER DAFELDECKER, TONY BUCK. Neben »klingt.org« sicher der spannendste Einstieg in die elektrosphärischen Soundwelten von Mikroton, die aber neben verzweifelt nach neuer E-Musik Suchenden wohl ausschließlich Electronic Nerds begeistern wird.