Foto: Frans de Waard & Roel Meelkop © Baskaru
Foto: Frans de Waard & Roel Meelkop © Baskaru

Neulich in Elektrostadt

Ein Rundgang durch neue Veröffentlichungen zwischen experimentellen Dancefloor und purer Elektronik-Avantgarde. Mit CDs von Nicola Ratti, Eaux, Wieman (Ex-Zèbra), A winged victory for the sullen, Sawako, HHY & The Macumbas, Paul Baran, Tarab.

Ungerechte Welt! Während elektronische Musik, die sich noch im Popdiesseits befindet, für nahezu jeglichen experimentellen Eifer hochgelobt wird, herrscht auf der anderen Seite, im Jenseits des Experimentellen & Anspruchsvollen, die große Rezeptionsgleichgültigkeit. Warum etwa wird eine Tahliah Barnett alias FKA Twigs in den Himmel gelobt, warum werden einem Herrn Caribou alias Dan Snaith Rosen gestreut? Stimmt schon, für Pop mag ihre Musik anspruchsvoller als gewohnt sein, aber drei Grad weiter nordöstlich, hinter dem Eisernen Vorhang der Genregrenze, ist das eher business as usual (bzw. as unusual).

Also einmal mehr hineingegriffen in die sperrige Genrekiste, um zu loben und zu verdammen! Etwa das, was Nicola Ratti auf »Ossario«, einer Doppel-12“ in schicken weißen Vinyl zelebriert. Wir hören eine Art defragmentierten Dancefloor, auf ihr Gerippe reduzierte Dance-Tracks, die zu einem abstrakten Gemälde zusammengesetzt sind. »Frau mit Dancefloor in der Nase« könnte so ein Gemälde etwa heißen, wenn das nicht viel zu humorvoll wäre, denn hier herrscht eher eine trockene, technoide Lässigkeit, man könnte auch dry dance art dazu sagen oder: Techno als Kopfsalat. Vor diesem Vorzeichen funktionieren einige Stücke auf »Ossario« gar nicht übel, anderen hingegen klappern wie Gerippe über den Zombiefriedhof.

Supertramp abstrahiert
wieman.jpg»The Classics Album« von Wieman ist ein astreines meltpop-Album. Meltpop wiederum ist eine Sampletechnik, bei der nur Kürzestausschnitte aus Popsongs verwendet und zu neuen Tracks zusammengefügt werden. Ein gewisser DJ Shadow hat diese Technik vor mittlerweile 18 Jahren mit seinem Meisterwerk »Endtroducing« aus der Taufe gehoben, aber was die beiden Niederländer Frans de Waard und Roel Meelkop hier veranstalten, hat mit einer old fashioned Sampletechnik nicht mehr viel am Hut. Wir hören kaum noch zu erkennende Samples, die geloopt, aneinander gestoppelt, ineinander verschoben und eben komplett verfremdet wurden. Und als wäre das nicht genug, wurden nur Samples aus Songs mit klassischen Bezügen im Titel verwendet (also z. B. »symphony«, »rhapsody« etc.), wir hören also beispielsweise Queen und Supertramp und hören sie wiederum nicht, weil das Resultat so abgeschrägt ist, dass man das am ehesten noch als psychedelic dancefloor beschreiben kann. Kein Wunder, dass beide Herren sechs Jahre am vorliegenden Album bastelten ¬- hier regieren wahre Besessenheit und ein Quäntchen Irrwitz. Gut so! Wieman hießen übrigens ursprünglich Zèbra, mussten den Namen aber wegen eines Rechtsstreits aufgeben.

In Schönheit erstarrt
wingedvictory.jpgWir wechseln in beschaulichere Sphären. Unter dem Bandnamen A winged victory for the sullen haben die Herren Adam Bryanbaum Wiltzie und Dustin O’Halloran 2011 ein vielbeachtetes Debut zwischen Kammerkonzert, Ambient und Weltschmerz gegeben. Das neue Album »Atomos« macht dort weiter, bloß noch epischer, noch verträumter, noch soundseliger. Neben Klavier, Streichern und Drone sind jetzt auch noch Harfe und Synthesizer an Bord. Und je nachdem, wie man gepolt ist, kann man darin große, ergriffen machende Soundkunst sehen oder eine elegante Augenauswischerei. Es ist jedenfalls der perfekte Soundtrack für einen traurigen Herbsttag, an dem man z. B. aus dem Fenster hinunter auf den Hafen blickt, wo gerade in alle Seelenruhe ein Öltanker im Meer versinkt. Wie schön da das Sonnenlicht auf den Wellen glitzert … Apropos Seelenruhe. Mit weitaus weniger Brimborium hat die Japanerin Kato Sawaku ihr neues Album »nu.it« veröffentlicht, auf das Fans immerhin sechs Jahre warten mussten. »nu.it« ist pure, verträumte Ambientmusik mit einem Faible für dahingehauchte, nachhallende Sounds, schwebend, gleitend, flirrend. Auch hier schwimmen wir durch einen Ozean, doch keine Öltanker versinken, das Wasser ist blau, Meeresschildkröten schwimmen vorbei, alles ist friedlich. Schön unaufgeregt, unaufgeregt schön.

Weltreisen in Sound & Art
HHY.jpgMeer ist erneut ein gutes Stichwort. Portugal fällt uns dazu ein. Von dort stammt das Ensemble HHY & The Macumbas, bestehend aus HHY bzw. dem umtriebigen Producer & Soundartisten Jonathan Uliel Saldanha sowie The Macumbas, eine Handvoll Musiker aus der »portugiesischen Undergroundszene«. Das Resultat dieser Zusammenarbeit heißt »Throat Permission Cut« und ist erstaunlich viril geworden. Ûber einen soliden Perkussionsteppich irrlichtern die Bläser, während sich Saldanha an seinen elektronischen Spielsachen austobt. Dabei trifft tribal beat auf das Gulag Orkestra, Fado auf Electroclash – und das alles hübsch zusammengesuppt (und gedubbt) zu einem groovigen Soundtrack für Glokalisierungsbefürworter. Eigenwillig, ergo hörenswert.

Verloren im Assoziationswirbel
paulbaran.jpgAuch extrem eigenwillig, auch in gewisser Weise weltumspannend ist das Soundgemälde »The Other« des Schotten Paul Baran. »The Other« hüpft inhaltlich von Haiti zu globalen Straßenprotesten, von Barack Obama zur Shoah, von Neoliberalismus zu Andrej Tarkowskij. Dazu hören wir eine Art Industrialhörspiel mit Soundcollagen und akustischen Gastbeiträgen, etwa von Alex Dörner, Alison Blunt, Werner Dafeldecker, Sebastian Lexer oder Lucio Capece. Das ergibt eine erstaunlich abwechslungsreiche Soundreise, die ein wenig unschlüssig macht. Für reine Elektroakustik ist »The Other« zu naturalistisch, für einen Soundtrack bzw. ein Sittengemälde unserer Zeiten zu abstrakt. Es bleibt der Hörerin überlassen, hier mehr als ein Sammelalbum elektroakustischer Stimmungen zu finden. Selbiges findet man jedenfalls beim australischen Soundtüftler Eamon Sprod, der unter dem Namen Tarab die CD »I’m lost« veröffentlicht hat. »I’m lost« verbreitet eine ähnliche semi-industrielle Stimmung wie »The Other«, das vorrangige Quellenmaterial hier sind allerdings field recordings. Im Gegensatz zu Baran interessiert sich Sprod nicht für globale Bestürzungsanlässe, sondern für lokale Verbundenheit – bzw. deren Krisis. Die Stücke auf »I’m lost« funktionieren wie Soundspaziergänge oder Fährtensuchen, die durch ihre Assoziationsoffenheit zugleich das Gefühl von Verlorenheit evozieren wollen. Gemessen an diesem Ideal ist »I’m lost« großartig geglückt, aber es gehört zu den traurigen Wahrheiten der Elektroakustik, dass man beide CDs, »I’m lost« ebenso wie »The Other« ohne dieses Entschlüsselungswissen in atmosphärischer Hinsicht kaum unterscheiden könnte – trotzdem der unterschiedlichen Instrumentierung und Herangehensweisen.

Und nach diesem Motto könnte man jetzt weitermachen und noch eine Reihe von durchaus stimmigen, durchaus sperrigen Werken erwähnen, etwa »Ninkyo Dantai« vom Polen Rafal Kolacki etwa (erschienen auf Noisen Records), die liebevoll präsentierte CD »vile cretin« von Miguel A. Garcia und Nick Hoffmann, oder als radikalstes Beispiel, die point & click adventures von Keith Rowe, Ilia Belorukov und Kurt Liedwart auf »tri« (beide erschienen auf intonema). Aber wenn wir so anfangen, dann endet diese Reviewcollection nie.


sawako.jpgNicola Ratti »Ossario – Volumes I & II« / Holiday Records

Wieman: »The Classics Album« / Baskaru

A winged victory for the sullen: »Atomos« / Erased Tapes

Sawako: »nu.it« / Baskaru

HHY & The Macumbas: »Throat Permission Cut« / Silo/Cargo Records

Paul Baran: »The Other« / Fang

Tarab: »I’m lost« / 23five incorporated

Rafal Kolacki: »Ninkyo Dantai« / Noisen Records

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