Alle Fotos © Anton Tantner
Alle Fotos © Anton Tantner

Auf den Spuren der RevolutionärInnen

Die Oktoberrevolution war Lenins Geschenk an die Menschheit und gab über Jahrzehnte Millionen zur Hoffnung Anlass, zumindest die Morgenröte einer Gesellschaft der Freien und Gleichen zu erblicken; über Erfolg oder Misserfolg der Revolution zu urteilen, ist es - so viel Mao-Bezug sei erlaubt - wohl noch Jahrzehnte, wenn nicht Jahrhunderte zu früh.

Dieser Foto-Essay wirft einen für den Autor charakteristischen schrägen Blick auf das Jubiläum, indem er die Ergebnisse einer Spurensuche nach Lenins Adressen und Nummern präsentiert, ein vielleicht paradoxes Unterfangen, sind RevolutionärInnen doch notorisch flüchtig, geradezu ortlos und zuweilen sogar fähig, sich in der Zukunft zu verstecken – so behauptet es zumindest Dietmar Daths Sprech-, Sing- und Musikdrama »Nie mehr warten«.

Die hier angetretene Reise führt nach München, Paris, Zürich und St. Petersburg; ihr Ende findet sie auf einem im Verfallen begriffenen Friedhof in letzterer Stadt, wo die RevolutionärInnen von einst auf das Ende der Vorgeschichte harren, geht es doch nicht an, dass diejenigen, die für den Kommunismus kämpften, nicht mehr dessen Vorzüge erleben dürfen, sondern vielmehr darum, der zuletzt von Bini Adamczak wieder in Erinnerung gerufenen Forderung der Biokosmisten gerecht zu werden, dass auch die Ausbeutung der Vergangenheit durch die Zukunft ein Ende haben solle.

Station 1: München
1900 bis 1902 lebte Wladimir Iljitsch Uljanow in München, wo er unter anderem
»Was tun« verfasste sowie für die »Iskra« schrieb; es war in der bayerischen Metropole, wo sich der Revolutionär erstmals Lenin nannte. Er wohnte zunächst ab September 1900 in der Kaiserstraße 46 (damals 53) in einer Unterkunft des Sozialdemokraten Georg Rittmeyer, dann, nach Ankunft seiner Frau Nadeshda Krupskaja, für wenige Wochen in der Schleißheimer Straße 106 und schließlich bis zu seiner Abreise im April 1902 in der Siegfriedstraße 14.

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Station 2: Paris
1908 bis 1912 wohnte Lenin im Pariser 14. Arrondissement, nahe der Stadtgrenze: Heute noch erinnert am zuerst bezogenen Haus 24 Rue Beaunier eine Gedenktafel an seinen Aufenthalt, während am anschließend bewohnten Haus 4 Rue Marie-Rose nur mehr die Abwesenheit der Tafel kenntlich ist, bis 2007 befand sich in der ehemaligen Wohnung das Musée Lenine. Im Haus nebenan – 2 Rue Marie-Rose – wohnte die Revolutionärin Inès Armand, Lenins Geliebte. Als Beispiel für die noch recht zahlreichen an Lenin erinnernden französischen Straßennamen hier ein Schild in der im Norden von Paris gelegenen Stadt La Courneuve.

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Station 3: Zürich
In der Zürcher Spiegelgasse konnten sich 1916 politische und künstlerische Avantgarde gegenseitig beäugen: Just zu der Zeit, als Lenin auf Nummer 14 wohnte, schrien schräg gegenüber die DadaistInnen auf Nummer 1 im Cabaret Voltaire ihr Nein gegen den Krieg in die Welt.

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Station 4: Petrograd
Nach seiner Ankunft in Petrograd im April 1917 wohnte Lenin bei seinen Schwestern in der Ulitsa Shirokaya 48 (heute Ulitsa Lenina 52), wo in der Wohnung Nummer 24 – wenn es denn geöffnet hat – das entsprechende Museum zu besichtigen ist. Im Juli desselben Jahres musste Lenin nach Finnland flüchten, von wo er mittels der berühmten Lokomotive 293 im Monat darauf wieder heimlich zurückkehrte. Die später von den Schmetterlingen im »Jalava«-Lied besungene Dampflok wurde nach dem Zweiten Weltkrieg vom finnländischen Staat der Sowjetunion zum Geschenk gemacht, seit 1964 kann sie am Finnländischen Bahnhof zu St. Petersburg in einem Glasschrein bewundert werden.

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Coda: Der Kommunistenfriedhof des Alexander-Newski-Klosters
Am Gelände des Alexander-Newski-Klosters, wo heute Scharen von Gläubigen unter ohrenbetäubendem, von zwei Glöcknern händisch geschlagenem Glockenspiel in die neoklassizistische Kathedrale strömen, befindet sich direkt dem Kircheneingang gegenüber eine Grabstätte der RevolutionärInnen, in Reiseführern Kommunisten- oder Atheistenfriedhof benannt, die offizielle Bezeichnung lautet heute wieder Kosakenfriedhof.

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Langsam bemächtigt sich hier die Natur der nur selten mit Blumen geschmückten Gräber, die Denkmäler von Rotarmisten und Strommasten rotten vor sich hin, an den roten Sternen, so sie denn noch vorhanden sind, blättert die Farbe ab. Das Zeugnis vergangener Sowjetmacht liegt bewusst dem Verfall preisgegeben, und doch, all dem Moder und Rost zum Trotz: Vereinzelt brennt eine Kerze – als ob sich Karl Liebknechts pathetische Ankündigung, die Leichen der hingemordeten Kämpfer würden wieder auferstehen, dereinst erfüllen werde, als ob den Toten bestimmt sei, in einer kommunistischen Zukunft auferweckt zu werden.

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