Es gibt Leute, die glauben, die musikalische Entwicklung Kubas habe seit der Revolution stagniert. Falsch verstanden! Die wichtigsten Impulse für das Quartier Latin kamen und kommen aus Kuba. Das müssen selbst die Exil-Kubaner in Miami gerade heute wieder zur Kenntnis nehmen. Kenner behaupten, der aktuelle Sound Kubas, die Timba, sei der wichtigste Stil der letzten 50 Jahre. Ihr widmet das Label Manteca eine seiner besten Compilations. Sie heißt »Salsa Timba« – vermutlich, weil der Begriff »Timba« im alten Europa wenig bekannt ist; und auch, weil die Grenze zur Salsa eine fließende ist. Die Songs wurden von John Armstrong zuverlässig kompetent zusammengestellt. Bei der Definition von Timba wird auf Einflüsse von Ragga, Rap und Soca verwiesen – was häufig zutrifft. Die Timba ist takt- und rhythmusmäßig ein Nachfahre der Rumba. Nur dass ihr Tempo im Verlauf des Songs in schier halsbrecherische Bereiche gesteigert wird. »Technisch gesehen, wird sie für gewöhnlich im 4/4-Takt gespielt, entweder als »Click« (der Song hat durchgehend dasselbe Tempo) oder langsam im Intro, gegen Ende immer schneller. Viele der führenden Arrangeure von Timbas betonen, dass der Son für gewöhnlich in 2/2 gespielt wird, wodurch ältere Musiker anfänglich Probleme haben, das Tempo zu halten.« (Armstrong)
Abgesehen vom Fehlen einiger Timba-Pioniere wie NG La Banda, tonangebende Band der 90er, Isaac Delgado oder Charanga Forever (vermutlich aus finanziellen Gründen, denn die Kubaner sind nicht erst seit heute selbstsicher und kennen ihren Wert), mangelt es nicht an internationalen Stars wie Manolito, Klimax oder Paulito FG. Natürlich dürfen auch die inzwischen aufgelösten Bamboleo nicht fehlen, inkl. zwei ihrer Ableger, Osvaldo Chacón und Azucar Negra, letztere gerechtfertigterweise mit zwei Songs. Nachwuchsstar Carlos Manuel ist mit seinem Latin-Dancehall-Hit »El Malo« vertreten, der ihn international bekannt machte. Dazwischen hält das Album auch einige Überraschungen bereit, wie Sabrosura Viva, die außerhalb Kubas kaum bekannt sein dürften, oder Sixto Llorente El Indio, der einen alten Samba-Hit für den jungen kubanischen Gusto adaptiert.
Kaum mit Timbas versorgt uns die diesjährige Tumi-Label-Schau »Tumi All Stars. Ayer, Hoy y Manana«, die auch dem letzten »Songlines«-Heft beigelegt war. Dafür geht diese Compilation in die volle Breite der heute in Kuba existierenden Spielarten. Wer eine kleine Orientierungshilfe in Sachen Son & Co braucht, sollte diese 13 Tracks diverser Interpreten anhören: von der 21 Jahre jungen Yusa, die so einfach in keine der Schubladen zu stecken ist, über die famosen Son 14 bis zu David Alvarez, einem der erfolgversprechendsten jungen Kubaner. Wie man hört, ist er zurzeit der Favorit Fidel Castros. Wer deshalb schon nicht gleich wieder an das Gute im Maximo Lider glauben will, sollte doch zumindest zur Kenntnis nehmen, dass Kubaner ehestens mit 75 alt werden. Jedenfalls komme ich nicht umhin, mich wieder einmal dem Urteil des widerborstigen Alten anzuschließen. Was die karibische Region politisch nicht zustande gebracht hat, nimmt David Alvarez auch mit »Son Demasiado« (Lotus), seinem dritten Album, musikalisch im Handstreich: eine Union – aus Son, Bachata, Merengue, Timba etc. in allen Tempobereichen. Eine wahre Freude!
Neues gibt’s auch vom beachtenswerten Hamburger Label Danca y Movimiento. Mit »¡Vamos! Vol. 11« widmen sie eine ganze CD Kuba. Der Opener »Soy Cubana« von Son Damas beginnt als relaxter Son, um alsbald timbaeskes Tempo zu erreichen. Weiter geht’s mit Manolin, einem der Großen der Salsa und Timba, der mit »La Bola« einen Click (siehe oben) abliefert. Heftig swingend auch die anderen kubanischen Legenden: Adalberto Alvarez, Den Den oder Isaac Delgado. In diesem Up-tempo-Umfeld hörbar schwer unterzubringen war der HipHop-Act HEL, der mittendrin trotz erfreulicher Qualität stark abbremst. Beim üblichen Nice-Price-Angebot liefert »¡Vamos!« dieses Mal ein Star-Paket, das neben den erwähnten Celebritäten noch Los Van Van und Omara Portuondo mit einer Version von »Disco Azucar« enthält. Mein Wunsch an die netten Hamburger vom DyM-Label wäre eine eigene Latin-HipHop-Compilation … Inzwischen kann ich mich mit der ausgezeichneten Compilation von Next Music (Ixthuluh) »The Cuban Hip Hop All Stars Vol 1« trösten. Im Unterschied zum meines Wissens einzigen anderen Cuban-HipHop-Sampler »Barrio Cubana« (von Roland Rubinel, 2000) bedienen sich diese Acts nicht allzu opportunistisch am großen kubanischen Liedgut. Strictly HipHop also, essenzielle, knappe, harte Latin-Beats und -Riffs und keine billigen Aha!-Effekte. Aufgenommen wurden die 13 Bands in einer heißen und regnerischen Augustwoche 1999 in Havanna, was sich auf den Sound keineswegs (negativ) niedergeschlagen hat!
Als Nick Gold, Ry Cooder und Jerry Boys die »Buena Vista Social Club«-All Stars »erfanden«, war viel Gerede vom alten Sound, der, durch die Revolution stiefmütterlich behandelt, jetzt spät doch noch zu seinem Recht kommen würde etc. In Kuba traf man dann jede Menge Touristen auf der Suche nach genau diesem, dem für sie »authentischen« Sound. Und sie waren enttäuscht, ihn so nicht zu finden; frustriert von den (zumeist recht guten) »Copyright-Bands« in den Touristenkneipen; fassungslos angesichts der rasanten Timbas … Ry Cooder und Manuel Galbán schöpfen mit »Mambo Sinuendo« (Nonesuch/Warner) nun einmal mehr aus einer fiktiven Welt der 50er Jahre. Das ist sehr schön und erfreulich und wirklich gut gemacht! Abgesehen davon, dass die Besetzung mit CachaÃto Lopéz und Anga Diaz und einigen gelernten Bata-Drummern genug Credibility hat, denke ich doch, dass die zwei Herren mit den relaxt klirrenden, rockenrollenden, slidenden Gitarren und den gelegentlichen Background-Stimmen (ohne Lead-Vocals) gelegentlich Marc Ribot y Los Cubanos Postizos gehört haben.
?? propos: »Mit Buena Vista haben wir die Batterien aufgeladen und den Motor angeworfen. Jetzt läuft er auf vollen Touren …«, sagt Ry Cooder zum neuen Album von Ibrahim Ferrer, »Buenos Hermanos« (World Circuit/Lotus). Und es stimmt: Hier wurde ein Album völlig abseits von Zeiten und Moden von großer Schönheit und Kraft geschaffen, woran auch ein Line-up seinen Anteil hat, das neben den notorischen Namen auch den TexMex-Virtuosen Flaco Jimenez, The Blind Boys of Alabama oder Jon Hassell anführt. Aber egal, in welches Genre dieses unglaubliche Ensemble hinüberswingt, Ferrer hält mit seiner geschmeidigen Stimme in allen Lagen die Zügel fest in der Hand. La Vida Es Un Sueno …
Karibik. Calypso. Brasil.
Der Calypso ist eine trinidadische Domäne: ursprünglich eine Melange aus europäischen Liedformen und afro-karibischen Rhythmen; frech, wortgewandt, stilistisch offen für Moden aus Nord und Süd. Weltberühmt wurde er mit dem ersten Millionenhit »Rum and Coca Cola« der Andrew Sisters. Allerdings war das Lied vom Trinidader Lord Invader geklaut (aber das wäre eine andere Geschichte …). Und dann kam Harry Belafonte. Diese kommerzielle Seite des Calypso im Crossover zu jazzigen Arrangements für launigen Barbetrieb präsentiert Putumayo mit »Calypso. Vintage Songs from the Caribbean« (Hoanzl). 15 Songs aus einer Zeit, da Calypso tatsächlich die Welt regierte. Und so hatte The Mighty Sparrow mit »No More Rocking and Rolling« damals auch gut spotten. Währenddessen lebte das Genre in Trinidad sein wirkliches Leben, entwickelte sich zum Soca – aber das wäre schon wieder eine andere Story … Trotzdem eine charmante Kompilation.
Es ist durchaus eine diskussionswürdige Frage, wie weit südlich die karibischen Wellen schlagen. Nehmen wir einmal an, dass sie zumindest noch die nördlichen Strände Brasiliens umspülen. »Favela Chic« (BMG) ist der Name eines brasilianischen Klubs in Paris. Und wie es Mode ist, verkündet auch dieser Club seine Favorits mit »Postonove 2« der weiten Welt. Wiederum reiht sich ein recht erstaunlicher Umfang an Stilen und Songs aus drei Jahrzehnt
en erstaunlich friktionsfrei aneinander: von Samba pur über funky Brazil (das gerade eine Neuauflage in Rio de Janeiro und Sao Paulo erlebt) bis zu brasilianischem HipHop und D’n???B-Hymnen. Ich ziehe diese wilde Mischung durchaus der loungigen »Collection of Brazilian Flavours from the Past And the Present« vor, die auf »Glücklich V« präsentiert wird, obwohl auch diese mit Os Ipanemas, Nicola Conte apresenta Rosalia De Souza oder Aquarius y Luiz Antonio ihre Highlights hat. Wer aber solche Übungen in Stil gustiert, der ist auch mit »The Now Sound of Brazil« (Crammed Discs/Ixthuluh) gut beraten: Suba- und Bebel-Gilberto-Remixe von Nicola Conte und Peter Kruder loungen hier neben bodenständigeren Hits von Trio Macote oder Bossacucanova.