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Foto: Die Hochstapler
© Melanzani & Melanzani

Morgen wird gestern gewesen sein

Eine Rundschau durch aktuelle Jazz-CDs, denen bei der Gelegenheit kräftig die Ohren lang gezogen werden. Aber ja, es wird auch reichlich gelobt, über den grünen und den ewigen gestrigen Klee. Mit Michael Keul & Superfocus, Oliver Strauch's Trio Duende, Reflections, Brass Mask, dem Kindred-Fonda-Gross Blues Trio und Die Hochstapler.

Ein altbekanntes Thema, ein weiteres Mal zerpflückt, zerdehnt, durchgekaut: Der leidige Traditionalismus. Was in der Klassik recht ist, kann doch im Jazz nicht billig sein. Und so wie man im selben Moment, in dem man »Klassik« sagt, bereits »ewig gestrige Musik« sagt, so sagt man das auch, wenn man den Begriff »Jazz« im Mund spazieren führt. Denn merke: Zeitgenössische Musik improvisiert, echtzeitkomponiert, ereignet sich, verweigert sich bzw. tut alles mögliche, um sich bloß nicht in den öden Genrekäfig einsperren zu lassen. Aber das ist natürlich ebenso naiv bis zum Abwinken, denn Schubladen sind deskriptionsimmanent. Sobald Musik den Status des Ereignisses verlassen hat und kolportiert wird, unterliegt sie auch dem Fluch des Vergleichens, Einordnens, Kanonisierens. Also bitte: Mutter, die Schublade ist da. Wozu die langwierige Einleitung? Um mit guten Gewissen nachfolgende CDs empfehlen zu können, die köstlichsten Genuss bereiten und dennoch vor allem der Kunst der Wiederauferstehung gewidmet sind. Ach, es ist ein Jammer, es ist Jazz.

Coleman Hawkins geht baden

ccj1.jpgGeradezu exemplarisch gilt das für die CD »Superfocus« von gleichnamiger Band mit Drummer Michael Keul und Saxophonist Scott Hamilton. (Streng genommen lautet der Titel der CD »Michael Keul and Superfocus featuring Scott Hamilton«, womit auch gleich die Interpreten erschöpfend benannt sind). Die traditionalistischen Rückbesinnungen im Jazz richten sich ja meist in die Spätphase des Jazz, in die Grauzone zwischen modaler Phase, Free Jazz und Fusion ab den 1960ern. Wer weiter zurück geht und Dixieland oder West Coast Swing reanimiert, gilt in der Regel als unbelehrbarer Traditionalist, was natürlich einen weiteren problematischen Aspekt dieser Retroschubladisierung aufzeigt. Das ist ungefähr so, als würde in der Klassik die Einspielung eines Schuhmannterzetts gestattet sein, ein Lied von Henry Purcell hingegen wäre verpönt. Daraus folgt eine logische Schlussfolgerung, die so manchen Jazzfans vermutlich Zornestränen in die Augen treibt: Wer heute Fusion oder modalen Jazz spielt, macht in etwa dasselbe was z. B. Chris Barber oder Mr. Ackerbilk jahrzehntelang in Bezug auf Dixieland gemacht haben. Stöhn, oder? Aber im Grunde ist das so.

Auf »Superfocus« geht der Rückgriff nicht ganz so weit, wir befinden uns hier in etwa in den späten 1940ern bzw. frühen 1950ern. Der Bebop hat die Jazzszene gerade ein wenig aufgerüttelt, allerortens war man auf der Suche nach Möglichkeiten, die formale Sprache des Jazz zu erweitern – von »The Birth of the Cool« bis zum kammerkonzertanten Jazz eines Modern Jazz Quartett. Dass es vor diesem Hintergrund natürlich auch Musiker geben musste, denen das alles zu bieder war, und die nur wenig später allen wohlgefälligen Harmonien und allem, was in Richtung biederem Hauskonzert ging, so was von den Marsch bliesen, war auch klar. Aber zuvor erlebte der Jazz eine üppige Phase des Formenreichtums, ein seliges Zwischenreich, in dem vieles erlaubt war, solange es swingte und cool war. In genau diese Phase gräbt sich das Deutsche Trio Superfocus ein. Es ist kein Zufall, dass Scott Hamilton einen ähnlich warmen Ton bläst wie Coleman Hawkins, dass Tizian Jost sein Vibraphon so trocken und behände bedient wie Milt Jackson, dass Bernhard Pichls Piano wie die Quintessenz von Hank Jones, Oscar Pettiford und Horace Silver klingt. Auch Michael Keul und Rudi Engel können diesen Retrostandard halten, beide klingen aber nicht so sehr nach einem expliziten Vorbild. Das ist, man darf das ruhig sagen, für Fans ein Hochgenuss in der Zeitreisekapsel. Aber gerade diese Nähe zu den großen Vorbildern lässt einen wieder skeptisch werden. Man stelle sich eine entsprechende Klassikeinspielung vor. Im ersten Satz borgen wir uns eine Bisschen von der »Matthäuspassion« aus, im zweiten Satz jubeln wir Händels »Hallelujah« unter, im dritten das »Stabat Mater« von Pergolesi. Da würde man auch meckern, oder?

Spanien liegt in der Türkei

ccj2.jpgTendenziell in diese Ecke geht auch »Espana« von Oliver Strauch’s Trio Duende, nur um einen Tick anders. Hier docken wir an der Aufgeschlossenheit des Jazz für ethnische Einflüsse an, namentlich der iberischen Musik. Miles Davis oder Chick Corea haben ganze Alben unter diesem Vorzeichen eingespielt, doch die Palette der Stücke, die mit Flamenco-Motiven kokettiert haben, ist unüberschaubar. Der Trioleader und Drummer Oliver Strauch hat in dem Pianisten Murat Öztürk einen besonderen Glücksgriff getan, denn Öztürk hat einen ebenso relaxten Anschlag wie Bill Evans, zugleich unterwandern spanisch-orientalische Zwischentöne sein Spiel. Es geht hier um eine Phasenverschiebung, um den kleinen aber entscheidenden Tick, um den sich dieses Klavierspiel ins Oriental-Ornamentische verschiebt, ohne eine Sekunde auf gelassene Groovyness zu verzichten. Wirklich großartig ist das und darum rechtfertigt alleine das Klavierspiel von Murat Özturk die Anschaffung dieser CD, die abgesehen davon natürlich völlig im Bereich des Vorhersehbaren bleibt.

ccj3.jpgAuch einen Blick zurück, aber mit ganz anderem Soundgefüge und Zugang haben sich der Gitarrist Kel Aldcroft und Drummer Dave Clark unter dem Bandnamen Reflections vorgenommen. »Hat and Beard« präsentiert ausschließlich Kompositionen von Thelonious Monk. Beide Herren hängen aber keiner eindeutig zuordenbaren Epoche der Jazzgeschichte nach, sondern tümpeln hübsch verspielt durch bekannte, aber auch weniger eingängige Monkstücke. Eine unbändige Spielfreude, die zu keinem Zeitpunkt an empfindsame Ohren anecken will, ist hier Trumpf. Einfach reinhören in »Off Minor« und sich überzeugen lassen.

ccj4.jpgEbenso bereits beim ersten Reinhören überzeugt die CD »Spy Boy« des achtköpfigen britischen Ensembles Brass Mask. Hier flattern wir wieder etwas eindeutiger im Genresumpf herum. Als Bezugspunkt nennt Saxophonist Tom Challenger, Chef der Truppe, New Orleans und Mardi Gras, also einen zwischen Blues und Gospel changierenden Southern Jazz. Allerdings muss man hinzufügen, dass die Arrangements und das etwas zu leichtfüßige Spiel der Bläser diesen Bezugspunkt eher verwässern. Was einerseits gut im Sinne einer Deutungsoffenheit ist, andererseits natürlich als »viel zu weiß« für diese Vorgabe abgeschmettert werden könnte. Wenn man das wirklich hübsche Gospelarrangement von »I thank you Jesus« etwa mit Charles Mingus legendärer Einspielung des »Wednesday Night Prayer Meeting« beim Jazzfest in Antibes vergleicht, dann relativiert sich da einiges.

Oh no, it’s Blues

ccj5.jpgUnd da wir schon deep down in the South sind, nehmen wir gleich auch das Kindred-Fonda-Gross Blues Triom, das auf der CD »Cold Shot« ungeschminkten, superklassischen und zum Glück extrem spielfreudigen Texasblues hinknallt, mit auf unseren Rundgang. Hauptverantwortlicher Ûbeltäter ist hier der Pianist Mike Kindred, eine Szenegröße, wie man so sagt, bekannt einerseits als Hitlieferant für Stevie Ray Vaughan, andererseits als Sidekick von Legenden wie Lightning Hopkins oder Big Mama Thornton. Kindred beherrscht seine Sache perfekt, keine Frage, übrigens ebenso seine Mitstreiter Joe Fonda (Bass) und Emil Gross (Drums), aber es ist, eben, Blues (bzw. in den meisten Fällen eher sogar Bluesrock). Und der war sich selbst immer schon treu bis zur völligen Bedeutungslosigkeit. Wen das nicht weiter kümmert, wird hier definitiv glücklich.

Wirklich geiler Free Jazz

ccj6.jpgZum Abschluss eine Kehrtwendung. Ein weiterer Blick zurück, allerdings zu jener Demarkationslinie, die auf ewig traditionellen von modernem Jazz scheidet. Es geht um »The Braxtornette Project« von der noch recht jungen Band Die Hochstapler (Pierre Borel – Altsaxophon, Luis Laurain – Trompete, Antonio Borghini – Bass, Hannes Lingens – Drums). Der Name der CD setzt sich aus Ornette Coleman und Anthony Braxton zusammen, zwei absolute Fahnenträger des Free Jazz. »The Braxtornette Project« ist eine vierteilige Suite mit insgesamt 124 Minuten Spieldauer, die mit einer eher klassischen Exposition des kompositorischen Ausgangsmaterials der Herren Coleman und Braxton startet und dann zu einem Marathon im Zeichen der kompromisslosen Spielfreude wird. Im vierten Teil steigen dann noch vier fähige Gastmusiker ein (u. a. Pierre-Antoine Badaroux und Axel Dörner), aber diese live eingespielte Zugabe kann die vorangegangenen drei Teile nicht wirklich überbieten, denn die sind, das muss man einfach sagen, sensationell gut gelungen. So einen hemmungslosen Free Jazz-Exzess, der trotzdem immer verspielt, relaxed und augenzwinkernd bleibt, hat man schon lange nicht mehr zu hören bekommen. Was vermutlich auch mit dem jugendlichen Elan der vier Vollblutjazzer zu tun hat. Und trotzdem, Ohrfeige links und Ohrfeige rechts, ist auch das noch Traditionalismus! Aber in dem Fall heißt das Verdikt endgültig: Darauf gepfiffen, denn »The Braxtornette Project« ist schlicht und ergreifend eine schweinegeile Angelegenheit. Und weil das ja eine Eigenschaft ist, die dem Jazz generell innewohnt, erklärt sich auch, warum da immer wieder so vehement in der Vergangenheit gewühlt wird. Weil es immer wieder frisches Blut gibt, dass sich daran abreagieren will. Schön, wenn das so großartig gelingt wie hier.


Michael Keul: »Superfocus« / Organic

Oliver Strauch’s Trio Duende: »Espana« / Jazznarts

Reflections: »Hat and Beard« / Trio Records

Brass Mask: »Spy Boy« / Babel

Kindred-Fonda-Gross Blues Trio: »Cold Shot« / Hoanzl

Die Hochstapler: »The Braxtornette Project« / Umlaut Record

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