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Marsalis, Lovano, Osby & Co.: Neue alte blaue Noten

An Norah Jones stößt sich Blue Note (EMI) ja gerade gesund, es sollte also Kohle für weniger mehrheitsfähige Projekte vorhanden sein, so denkt man. Die wichtigste Neuigkeit ist freilich anderer Natur:

Wynton Marsalis legt mit »The Magic Hour« sein Debüt beim New Yorker Traditionslabel vor, nach vielen Jahren bei Sony-Columbia schien ihm die Zeit reif für einen Wechsel. »The Feeling of Jazz« nennt sich der initiale Schullehrbuch-Blues, für den sich unbegreiflicherweise Dianne Reeves hergibt, von Marsalis mit blitzsauberem, »authentischem« Growl-Schmutz begleitet. Weniger zeigefingrig gibt sich der Rest der CD, kammermusikalisch reduzierte, intime Quartettstücke werden intoniert, von denen das ausgesprochen geistvoll titulierte »Baby, I Love You« mit Gast Bobby McFerrin« weniger hervorsticht als das harmonisch und farblich raffiniert angelegt »Skipping« und der Hummelflug-zitierende virtuose Titel-Track, dessen gewitzte Comic-Strip-artige Cut-Technik absurderweise an John Zorn (!) denken lässt, und in dem sich Pianist Eric Lewis in für seinen Chef nahezu schon atemberaubend freie Bereiche hinauswagt. Nicht das schlechteste Album des jungen alten Mannes aus New Orleans. In diesen Stücken klingt Marsalis frischer als vieles, was sonst auf dem dereinst von den Berliner Emigranten Francis Wolff und Alfred Lion gegründeten Label so kreucht und fleucht. Joe Lovano widmet sich auf »I’m All For You« gemeinsam mit Hank Jones, George Mraz und Paul Motian in aller Gemütlichkeit jenen Balladen, die er auch sonst am liebsten und durchwegs geschmackvoll zelebriert. Saxophon-Kollege GREG OSBY, der ehemalige M-Base-Mitstreiter von Steve Coleman, der vor zehn Jahren dem Jazz in seinen HipHop-Projekten schon weit entrückt schien, ist im Arm von Blue Note an den Busen der Tradition zurückgekehrt. Alte Hadern wie »Summertime«, »Bernie’s Tune« oder »Shaw Nuff« finden sich auf der aktuellen Einspielung »Public« dargeboten; Osby demonstriert, wie hier jemand im Willen, bekannten Melodien seinen individuellen Stempel aufzudrücken, gegenüber deren historischem Gewicht den Kürzeren zieht und so in die Falle tappt … Auch im Gebiet des direkten Backkatalog-Recyclings ist man nicht untätig. Der niederländische DJ Maestro legt mit »Sunset – Sunrise« einen zweiten »Blue Note Trip« mit groovig aufgepeppten Tracks vor, eine erstaunliche phantasie- und lieblose Arbeit, wie sie sich Bobby Hutcherson, Grant Green, Lonnie Smith, Claire Fisher und KollegInnen nicht verdient haben. Unverdorbene Originale kann man immerhin auf der analog zu den Verve-»Unmixed«-Alben edierten »Untinted«-CD zu Madlibs »Shades of Blue«-Projekt hören. Am besten schmecken die alten Tropfen freilich immer noch im ursprünglichen Kontext: Aus der letzten Reissue-Tranche ragen Andrew Hills »Passing Ships« von 1969 und »Fuchsia Swing Song« heraus, Sam Rivers‘ 1964 mit Jaki Byard, Ron Carter und Tony Williams eingespieltes Blue-Note-Debüt: Lehrstücke aus alten Tagen, die mehr Substanz und Brisanz haben als vieles, was die Enkel heute so an Tönen von sich geben.

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Text
Andreas Felber

Veröffentlichung
14.06.2004

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