Maschinelle Taktvorgeber sind omnipräsent. Ob als abstrakte Algorithmen versteckt oder pochend laut präsent in den eigenen Hörgängen. Die Zeitlichkeit ist vorgegeben, sie kontrolliert und misst, alles andere: vermisst. Jede Form der Abweichung, jedes Ankämpfen und Dagegenauftreten wird zum funktionalen Teil des Ganzen gemacht, verwertet, ökonomisiert, standardisiert, naturalisiert. In diesem Monat greift Grundrauschen einige Kassetten auf, die diese Zeitkomponente auf ihre jeweils eigene Art bearbeiten. Manchmal auffällig und deutlich, in anderen Fällen wiederum ungreifbar verschlossen. In dieser Kolumne jedenfalls kurzweilig zusammengefasst, empfiehlt sich akustischer Aufruhr aus Phoenix, Experimentelles aus Tschechien und eine reflexive Rebellion aus England.
Rempis/Piet/Daisy – »Throw Tomatoes« (Astral Spirits)
»Someone is always taking care of the music.« Irgendjemand, so der Pianist Matt Piet, kümmert sich immer um die Musik. Dieser eine Satz steht stellvertretend für jenes umtriebige Treiben, das rund um das Trio von Matt Piet, Dave Rempis und Tim Daisy entsteht und auf dem Album »Throw Tomatoes« in kulminierter Reinform eingefangen wird. Eingefangen nämlich als brachiale Momentgestaltung, als ein tosender, frei improvisierter Wettlauf im Kampf um den nächsten Kontrapunkt, die nächste Wende und Ergänzung, die sich auf diesem Album über die Dauer einer knappen Stunde ereignen. Ein erlesenes Zusammenspiel, bestehend aus Saxophon (Rempis), Piano (Piet) und Percussion (Daisy) tritt gemeinsam gegeneinander an, wechselt sich in seiner temporären Vormachtstellung ab, gerät aus der Fuge, umgarnt sich, stößt vor und zurück und schwirrt in teils beträchtlichem Tempo dem eigenen existenziellen Abgrund entgegen, um sich doch wieder und immer wieder auf ein virtuoses, gänzlich ausgelassenes Liebesspiel einzulassen. Wie kopulierende Bienen, tänzelnd und in steter Bewegung, greift das Spiel des Trios ineinander. Der eine lässt ab, der andere steigt ein und wieder ein anderer klöppelt behutsam bedacht gegen den Gong, füllt kurz die Leere, verstummt. Das sorgt für anhaltende Abwechslung, für eine Dynamik in der inneren Anordnung der Dinge. Denn irgendjemand, so haben wir gelernt, kümmert sich ja doch immer um die Musik, und wenn auch nicht um die rhythmische Aufrechterhaltung, so aber immerhin um die Weiterführung des Spektakels. Das passiert abwechselnd in klassisch ausgelegten, dann wieder in jazzoideren Klavier-Kadenzen und kontrastiert die saxophonierten Harmoniekaskaden überraschenderweise wohlig weich. Die Spannung des Moments ist körperlich, sie ist fühlbar gemacht. »Throw Tomatoes« ist Free Jazz am Punkt seiner Zeit!
Lana Del Rabies – »Shadow World« (Deathbomb Arc)
Die Zukunft hatte einen Termin. Jetzt ist es fünf nach zwölf und wir haben nicht auf die Uhr gesehen. Die Zeit verpasst, den Kipppunkt verschlafen. Von jetzt an geht es beständig bergab – oder schlimmer: einfach so weiter wie zuvor! Der Zorn, der angesichts dieser nicht vorhandenen Aussichten entstehen kann, mag unerträglich und zermürbend sein. Aber nur wenige vermögen es, die angestaute Wut so grausam herzlich aus dem Leib zu brüllen wie Lana Del Rabies, die eigentlich Sam An heißt und ihren Nom de guerre einem Kunstprojekt verdankt, bei dem sie Songs von Lana Del Rey in abstrakte Drones verwandelte. Die aus Phoenix, Arizona stammende Künstlerin veröffentlichte nun vor Kurzem ihr zweites Album. »Shadow World« heißt das auf 50 Kassetten limitierte Überfallkommando symptomatisch, gilt es doch als stilsichere Bestandsaufnahme für einen Zustand, der, so scheint es zumindest, mit herkömmlichen Mitteln der Musik nicht mehr zu vermitteln ist. Die Schattenwelt also, von Geistern und anderen, höchst fragwürdigen Kreaturen bevölkert. Menschen gibt es natürlich keine mehr, sofern man moralische Maßstäbe als deren Identifikation heranziehen möchte. Was noch relativ bieder zwischen Industrial und Noise beginnt, sich in wahnwitzig überdrehten Synthesizer-Fahnen emporschwingt und einen mit schneidenden Bässen zurück auf den Boden der Tatsachen wirft, ist nichts anderes als beißende, hochkonzentrierte Säure in sublimierter Form akustisch-taumelnder Signale. Stellt euch den räudigsten, kratzigsten Shoegaze vor, multipliziert ihn durch eure schlimmsten Albträume, komprimiert auf einen einzigen, endlos langen Horrorsoundtrack, und ihr seid nicht ansatzweise in der Nähe dessen, was sich euch hier in unkonventionellem Stampfen in den Weg stellt. »Reign« zum Beispiel: Ein Inferno aus glühenden Metallstäben, die in riesig anmutenden Lagerhallen mit wuchtigen Hammerschlägen bearbeitet werden. Die Maschine gibt den Takt vor. Die Sirenen heulen. Man gehorcht. Der Rhythmus als einzige Hoffnung auf der Suche nach der Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen. Dazu Del Rabies Stimme, ein zur Unkenntlichkeit verschwommenes Säuseln, dann ein übersteuertes Kreischen, das unweigerlich an Elvin Brandhi erinnert und so klingt, als wäre Carla del Forno im Riot-Grrrl-Modus. Anmutig und düster!
Blood Room – »Breakers Yard« (Proto Sites)
Der Brite Tim Matts gründete vor einigen Jahren zusammen mit Andy Billington das Kassettenlabel Seagrave – seit jeher eine der innovativsten Institutionen für die experimentellen Auswüchse der Tape-Szene und sicherlich ganz vorne dabei, wenn es darum geht, die Grenzen tradierter Clubmusik in ihre verrosteten Einzelteile zu zerlegen. Ganz nebenbei ist Matts aber auch ein hervorragender Produzent mit einem Gespür für hyper-abstrahierte Beatstrukturen. Das hat er auf mittlerweile elf Alben für verschiedenste Labels von Hylé Tapes über Fort Evil Fruit bis hin zu Søvn und Always Human Tapes eindrucksvoll unter Beweise gestellt. Sein zwölftes erschien jetzt vor Kurzem auf dem slowakischen Proto Sites Label und birgt ein wahres Sammelsurium an zerstückelten Micro-Samples, experimentellem Sounddesign und wunderbar verschleiertem, abstrahiertem UK Garage. Massive Kicks (»This Got Boom«) sorgen für ein solides Fundament, auf dem sich von staubtrockenen Snares bis hin zu markiger Percussion alles tummelt, was sich in ein klanglich aufgeräumtes, übersichtliches, dabei immer kantiges aber gleichzeitig auch unglaublich durchdachtes Arrangement einordnen lässt. Der Rapper Sensational steuert außerdem seine Stimme auf der A-Seite bei, was dem Ganzen unwillkürlich einen humanoiden Touch verleiht. Irgendwie weiß man nie, ob man zu den vertrackten Rhythmen jetzt schon tanzen oder doch nur lässig den Kopf nicken soll. Funktionieren würde jedenfalls beides – irgendwie zumindest. »Breakers Yard« klingt, als hätte man Squarepusher probeweise mit nichts als einem verrosteten Sampler auf entschlackende Rohkostdiät gesetzt.
OMA – »OMA« (Tombed Visions)
»OMA« klingt wie ein pulsierender Backflash in eine Zeit, in der Krautrock der heiße Scheiß und psychotrope Substanzen noch irgendwie en vogue waren, weil ja eh alles neu, zumindest aber in greifbarer, aussichtsreicher Nähe war. Dass von diesem zweckdienlichen Optimismus tatsächlich nichts mehr übrig ist, merken wir jeden Tag aufs Neue. Ein Leben im Loop aus beständig wiederkauenden Vergangenheiten, in einer Gesellschaft, die nichts anderes zu kennen scheint als Neid und Gier und das selbstverachtende, den Körper auf eine Maschine reduzierende Diktum der absoluten Selbstverwirklichung. Gerade recht kommt daher dieses sich über vier Stücke ausdehnende Minialbum einer Gruppierung, die sich aus Bandmitgliedern von Action Beat und Bad Boy zusammensetzt und zusätzlich durch den ehemaligen The-Ex-Frontman G.W. Sok ergänzt wird. Letzterer verließ die niederländische Anarcho-Punk-Band vor einigen Jahren, um eigene, dem zunehmenden Alter vielleicht bekömmlichere Wege einzuschlagen. Sei’s drum. Das Kollektiv um OMA hat mit deren selbstbetitelter Debutveröffentlichung auf Tombed Visions eine unglaublich interessante Kassette gemacht – irgendwo zwischen Spoken Word und geisterhaftem Ambient mit dumpfem, unterdrücktem Grollen. Klaustrophobe Stücke sind es, die während mehrerer Sessions in den berühmten WORM Studios in Rotterdam entstanden sind. Ohne Licht und Sonne, eine ein düsteres Bild abzeichnende Momentaufnahme von ganz in Schwarz gekleidetem Nihilismus. Die Beklemmung ist immerhin nahbar, die Bedrohung zwar noch selten, aber die Angst als steuernde Konstante real. »Aberfan« zum Beispiel: Rauschende Wogen, nicht greifbar, aber da. Sok trägt einen Text vor, der sich auf jenen titelgebenden Ort in Wales bezieht, in dem 1966 ein Erdrutsch über 100 Menschen unter sich begrub. Seine Stimme ist nüchtern, sein Tonfall barsch, man fühlt sich wahrscheinlich an Mark E. Smith erinnert. »Black Mirror« dagegen ist ein sphärisches Korsett, flüchtig floatend. Hi-Hats, spitz wie kleine Nadeln, messen sich immerfort mit dem engelsgleichen, schier ewig verhallten Gesang von Bianca Biblioni. Kontrast ist Kontrast ist Kontrast. Schön aufgemacht und eine wirkliche Empfehlung!
Jordan Anderson – »Selected Acoustic Works« (Geology Records)
Eigentlich ist das alles längst vergessen. Jordan Anderson, ein junger Musiker aus dem Nordwesten der USA, hat sich nämlich umorientiert. Seine frühen musikalischen Wege begann er noch unter anderen, um nicht zu sagen leiseren Vorsätzen. Grand Mal nannte er sich damals, weit über fünf Jahre ist das her, seitdem hat sich einiges getan. Die akustischen Aufnahmen eines durchaus beflissenen Gitarristen und Pianisten sind einer elektrifizierten, flächigeren, von jäher Leichtigkeit getragenen Variante seiner melancholischen Ausdruckskraft gewichen. Viele seiner Alben erschienen in der kürzeren Vergangenheit auf dem Experimental-Label Illuminated Paths und zeichnen sich durch eben jene künstlerische Zäsur, den Weggang von seinen analogen Wurzeln hin zu Volt-gesteuerter Computermusik aus. Elektronisch ambientös, breit produziert, glänzend antreibende Breaks – irgendwie traumartig und doch so ganz anders als das Vorangegangene. Die organischen Feinheiten seiner frühen Alben sind nunmehr in fiktive, unwirklich anmutende, Blade-Runner-eske Welten getaucht. Seine akustischen Songs verleugnet der Amerikaner dennoch nicht, nimmt er doch bisweilen immer noch ein oder zwei aufs Wesentliche reduzierte Piano-Stücke mit auf ein neues Album. Zurück zum Ursprung geht es aber trotzdem nicht. Das Label Geology Records hat jetzt die beiden großartigen Erstlingswerke in einer Kassettenedition veröffentlicht, die unter dem Titel »Selected Acoustic Works« zusammengefasst ist. Mehrheitlich sind die Stücke instrumental eingespielt, schlicht und einfach gehaltene Aufnahmen, eher zurückhaltend intoniert. Leise klingt dann die Gitarre, seltener noch das Klavier, manchmal auch von einer müden, matten Stimme begleitet. Es rauscht klassisch im Hintergrund, das vereinzelte Knacksen am Boden überträgt die melancholische Grundstimmung direkt. Das wirkt ehrlich, schön und kein bisschen unverfroren!
»Grundrauschen« im Radio
»Grundrauschen« ist nicht nur der Name dieser Kolumne, sondern auch ein Gefühl, das sich in und mit Musik beschreiben lässt. Auf Radio Orange 94.0 wird jeden dritten Dienstag im Monat ab 21:00 Uhr genau diesem Gefühl nachgespürt – mit interessanten KünstlerInnen und experimenteller Musik, die sich dem Mainstream weitläufig entzieht. Je größer die Verstärkung, umso deutlicher das Grundrauschen.