Fischerle – »Beard & Parachute« (c) Pointless Geometry
Fischerle – »Beard & Parachute« (c) Pointless Geometry

Grundrauschen #1 – Kassettenmusik abseits des Mainstreams

Die Kassette ist wieder da! Fast 18.000 Veröffentlichungen hat Bandcamp 2017 verzeichnet – ein Rekord, der in diesem Jahr wohl weiter übertroffen wird. Die Rubrik »Grundrauschen« bietet monatlich einen Überblick zwischen abstrakten Atonalitäten, ambientösen Abgründen und körpererschütternden Klängen experimenteller und avantgardistischer Musik. Tapes aus allen Ecken der Welt, zusammengestellt von Radio-Orange-Sendungsgestalter Christoph Benkeser.

Haram Tapes – »Haram« (Haram Tapes)
Die »Haram Tapes« entstammen einer international ausgerichteten Co-Produktion zwischen Robin Jessup (See Safari) und Sumatran Black. Das Duo vereint sich schlicht unter dem Namen Haram und steht für die sonische Triade Marrokko, Wien und Istanbul. Über neun Stücke drängen sich verzerrte Field-Recordings aus ebenen jenen und verschiedenen anderen Orten dieser Welt, die in verworrenen Beat-Strukturen ihr Gegenüber finden. Das Album gibt sich offen politisch. Es sei der Soundtrack für all jene Menschen, die in dieser düsteren, von einer immer stärker werdenden autoritären und weiter nach rechts driftenden Welt leben müssen. Gemeint sind damit also zurzeit fast alle. »Remember What Is Gone and What Will Pass Again and Again« stellt dahingehend gleich als zweiter Titel die semantische Weiche für die folgenden Stücke. Das Gefühl unrechtmäßiger Entwurzelung, forcierter Vertreibung und einer sich auf klerikale Allmacht beziehenden Unterdrückung ist die treibende Kraft hinter den »Haram Tapes«. Dabei entsteht ein immersives Zusammenspiel aus weit in der Ferne verhallenden und kratzig übersteuerten Feldaufnahmen, die in gewisser Weise als Grundgerüst für das komplette Arrangement dienen. Das wirkt teils verstörend, oft genug aber, wie in den Stücken »Houses of Images, Marrakech« und »Istanbul is a Broken Dream« überaus betörend. Fast schon verträumt geben sich die die unterschiedlichen Sprachaufnahmen dann, werden fest ummantelt von Synthesizer-Fäden, die eine solipsistische Leere suggerieren. Die türkisch-österreichische Produktion »Haram Tapes« ist eine vielschichtige Darbietung zeitgenössischer elektronischer Musik und in Zeiten emotionaler Deprivation für manche sicherlich ein willkommener Ausblick.

Sharon Gal – »Delicious Fish« (Fractal Meat Cuts)
Wenn Sprache ohne Inhalt auskommt und nur formal als Ansammlung verschieden aneinandergereihter Laute verstanden wird, spricht man gemeinhin von Lautpoesie. Die Semantik verschwindet, der Klang tritt in den Vordergrund. Sharon Gal bezeichnet sich – und das zeigen so beeindruckende Veröffentlichungen wie ihre »Voice Studies« von 2015 – als experimentelle Vokalistin. Sie arbeitet mit ihrer Stimme. Oft alleine, bevorzugt aber auch in Kollaborationen, die das klangliche Spektrum ohne Zuhilfenahme technischer Erweiterungen (Looper) stark verbreitern. Das im Jänner auf dem britischen Experimental-Label Fractal Meat Cuts erschienene Album »Delicious Fish« war ursprünglich als dreiteiliges Werk für das in London ansässige Juice Ensemble bestimmt. Ihre eigenen Interpretationen, die nunmehr auf einer limitierten Kassettenedition veröffentlicht wurden, dienten dem Trio dabei als künstlerische Anleitung zur Umsetzung ihrer Ideen. Sharon Gals Ansätze nehmen hingegen in vielerlei Hinsicht Bezug auf die dadaistischen Arbeiten von Jaap Blonk, wirken aber grundsätzlich geheimnisvoller und fast schon ominös. Das mag daran liegen, dass Gal gewissen Wert auf die Tiefe ihrer Arbeit legt. Raum und Räumlichkeit sind offenkundige Inspirationsanleihen, die sie zu einem teils überaus dichten Amalgam aus Stimmen und Lauten knüpft. Dass dabei nicht immer Musik im klassischen Sinn von Ö3, Ö1 oder FM4 entstehen mag, ist ein gewollt herbeigeführter Effekt, der ihre – nicht selten improvisierten – Kompositionen, zu einem interessanten Ausflug in die experimentelle Lautpoesie werden lässt.

Glochids – »An Awareness Of Perfection In Our Minds« (enmossed)
James Roemer alias Glochids aus dem Südwesten der USA veröffentlicht nach längerer Schaffenspause mal wieder ein Album. »An Awareness Of Perfection In Our Minds« heißt das neue, über 100 Minuten lange Werk, das vor Kurzem auf dem US-Label enmossed erschien und auf 75 Stück limitiert ist. Darauf zu hören sind verschiedenste Fragmente aus dem erlesenen Katalog von Roemer. Es sind Momente der unscheinbaren Ekstase, die sich darauf zu einem großen Ganzen verbinden. Die Imperfektion der Perfektion, eigentlich nicht zu erklären, aber gerade durch die Unmöglichkeit der Erklärung wahrhaftig. Die einzelnen, nahtlos ineinander übergehenden Stücke sind allesamt nach unterschiedlichen Musikerinnen und Musikern benannt, die in dieser Hinsicht wohl nicht nur aus samplingtechnischen Hintergründen als Inspirationsquelle gedient haben. Die Auswahl der Namen zeigt die breit gestreuten musikalischen Vorlieben von Roemer: Satoshi Ashikawa und Éliane Radigue finden unter anderem ebenso Erwähnung wie Visible Cloaks, Wim Mertens und Félicia Atkinson. Eine stille Hommage an jene KünstlerInnen also, deren Einfluss sich in der Abstraktion der Stücke wiederfinden lässt. Sie verflechten sich magnetartig, breiten sich aus, verlieren einander in manchen Momenten und finden dann doch wieder mühelos zueinander zurück. Das Ergebnis sind zwei über 50 Minuten lange Reisen in alternierenden Sphären aus unbeschreiblicher Glückseligkeit und der Flüchtigkeit innerer Ruhe, weder aufdringlich noch belanglos. Im Gegenteil: Das Konzept der beständigen Fluktuation wird über die gesamte Spielzeit konsequent durch- und aufrechtgehalten. Die Bandbreite variiert dabei zwischen aufwühlenden Dissonanzen, gesprochener Poesie, einzelnen Lauten, harmonischen Drones und quirligen Percussion-Sequenzen. Glochids neues Album ist wie ein ambientöser Mix, eine ethnologische Expedition durch die Welt der Klänge und ihren Essenzen. Ein großartiges Werk und ein beständiger Begleiter zur akustischen Untermalung jedweder Tagträumerei.

Kobermann – »Katalysator« (goldgelb records)
Hinter dem Pseudonym Kobermann steckt schon seit einer ganzen Weile Johannes Piller, seines Zeichens Geschäftsführer der Grellen Forelle in Wien. Wer Piller sagt, muss aber zwangsläufig auch Laminat erwähnen. Unter diesem Namen ist Johannes Piller nämlich für ClubgehrerInnen nicht nur innerhalb Wiens ein Begriff. Laminat steht für treibenden und atmosphärischen House. Das, was dort in anmutig klingende Reinform gegossen wird, lässt wenig Platz für die Erkundung experimenteller Abgründe. Genau dafür hat Piller aber mit Kobermann ein Ventil gefunden. Auf »Katalysator«, seiner ersten Langspielveröffentlichung, die jetzt auf dem Wiener Kassettenlabel goldgelb records erschienen ist, fällt gleich einmal zu Beginn die Sonne vom Himmel. Düster und unheimlich gibt sich der Sound des Albums, wobei hier bewusst auf alles verzichtet wurde, was in irgendeiner Weise als Störfaktor wirken könnte. So abstrahiert die Stücke auch daherkommen mögen, es tut sich beim genauen Hinhören einiges. Mit Field-Recordings wird ein Fundament gelegt, das sich über einen Großteil der 60 Minuten des Albums erstreckt. »Zero Hit Wonder«, das 13 Minuten lang auf wunderbar entspannten 100 bpm dahinschlurft, lässt irgendwann überhaupt nur noch die Umgebungsgeräusche für sich sprechen. Spielende Kinder, singende Vögel, das in der Ferne ertönende Tatütata der Polizei. Diese freizügige Sinnlichkeit findet allerdings bald ihr vorzeitiges Ende. Mit rauschenden Synth-Fahnen, intelligent zurückhaltenden Drum-Patterns und verhallten Sprachfetzen versteht es Kobermann, eine außerordentlich beklemmende Stimmung zu evozieren. Die geballte Wut (»Below Zero«, »Trust«) verpackt in einer Dark-Wave-Attitüde, die sich über das Album kontinuierlich steigern kann und schlussendlich etwas ratlos zurücklässt. War das jetzt echt oder nur die hyperreale Abbildung von gutgemachtem Sci-Fi-Horror?

Fischerle – »Beard & Parachute« (Pointless Geometry)
Fischerle ist Masocki Wyteuz aus Polen. Im letzten Jahr veröffentlichte er auf dem schottischen Kassettenlabel Czaszka Records ein vielbeachtetes Album, das innerhalb kürzester Zeit völlig zu Recht vergriffen war. »Post-functional Dub Objects« stellte für den Produzenten allerdings auch eine wichtige künstlerische Zäsur dar. Die einst so verworrenen, wenig greifbaren und selbst für experimentelle Verhältnisse nur selten durchstrukturierten Arrangements wichen einer tanzbareren Mischung aus umfunktionierten Dub-Techno, ohne dabei auf die für ihn so charakteristischen Percussion-Spielereien zu vergessen. Die Geometrie seiner Musik war immer schon schwer zu fassen. Sie wirkt dabei auf seinem neuen, laut eigenen Angaben in einer frei improvisierten Jam-Session entstandenen Album »Beard & Parachute« aber noch eine Spur komplexer. Es wabert, es pfeift, im Hintergrund rattert es ganz aufgeregt. Und die verstolperten Kicks kneten die untere Magengegend in stoischer Repetition ordentlich durch. Das bringt Auflockerung in von Maschinen kontrollierte Arrangements, wird nervöse Füße aber nicht so schnell zur Ruhe kommen lassen. Immerhin: Seine Musik führt unweigerlich dazu, sich verworrene Kabel und wild leuchtende Kästen und Gerätschaften vorzustellen, die genau diese Sounds überhaupt erst möglich machen. Fischerles Welt steht eben auch für analoge Festspiele. Das Album selbst kann allegorisch für eine Ansammlung von surrealistischen Gemälden gesehen werden, deren Komposition durch dissonante Töne neue Themen einleitet und zu einigen Überraschungsmomenten führt. Mit »Beard & Parachute« setzt Fischerle das fort, was letztes Jahr mit »Post-functional Dub Objects« begann. Verschleppte Rhythmen verwachsen in anspruchsvoll montierten Strukturen, die sich in ihrer beständigen Abwechslung nicht selbst überholen, sondern für einige überraschende Momente sorgen.

»Grundrauschen« im Radio
»Grundrauschen« ist nicht nur der Name dieser Kolumne, sondern auch ein Gefühl, das sich in und mit Musik beschreiben lässt. Auf Radio Orange 94.0 wird jeden dritten Dienstag im Monat ab 21:00 Uhr genau diesem Gefühl nachgespürt – mit interessanten KünstlerInnen und experimenteller Musik, die sich dem Mainstream weitläufig entzieht. Je größer die Verstärkung, umso deutlicher das Grundrauschen.

Link: https://o94.at/radio/sendereihe/grundrauschen/

Home / Musik / Review Collection

Text
Christoph Benkeser

Veröffentlichung
05.02.2018

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