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Europa im Herbst

Im Grunde ist es ganz simpel: Wer nicht ersticken will in Ideologien oder bürgerlichen Illusionen, muss an die Veränderlichkeit der Verhältnisse glauben. Das fällt zuweilen sehr schwer, weil gewisse Grundbedingungen in Politik, Ökonomie und Gesellschaft unwandelbar erscheinen. Dementgegen könnte es hilfreich sein einmal zu versuchen, die »Revolution an sich« zu betrachten, was nicht mehr heißen soll, als die Spuren tiefgreifenden Wandels in der Geschichte aufzuzeigen.

Was ist überhaupt eine Revolution?

Das Wort Revolution wird permanent missbräuchlich verwendet, beispielsweise, wenn von »digitaler Revolution« geredet wird. Jede technische Entwicklung ist notwendigerweise Teil eines Kontinuums, innerhalb dessen vorhandene Einrichtungen aufgegriffen und verbessert werden. Die Reise geht von den Rauchzeichen über den optischen Telegrafen hin zum elektrischen und endet vorerst beim Smartphone. Gewisse Grundprinzipien, wie die Verwandlung von Sprache in Code, werden dabei stets beibehalten. Revolutionär wäre das Verhalten von IngenieurInnen, die die gesamte Entwicklung der Signalübertragung bewusst zurückweisen und versuchen würden, einen völlig neuen Weg einzuschlagen: z. B. Telepathie. Genau das, was in der Technikentwicklung absurd erscheint, vollzieht sich zuweilen in der Politik. Eine Revolution versucht, den vollständigen Bruch zu erreichen, eine Diskontinuität der Entwicklung. Diejenigen, die im Jahr 1789 die Bastille stürmten, hatten keine Verbesserung der französischen Aristokratie im Sinn. Sie wollten keine »Herrschaft 7.0 «, sie wollten etwas ganz anderes.

Hier ein Versuch, positiv zu bestimmen, was Revolution ist: Sie ist der einzige wahre Freiwilligendienst, da sie aus der grundsätzlichen und vollständigen Aufkündigung allen Gehorsams besteht. Diese Bereitschaft zur letzten Konsequenz muss bei einer Revolution erkennbar sein. Die Revolution ist immer Herzensangelegenheit, sie folgt eben keiner Idee oder einem Prinzip, sondern ist nur sich selbst, ihrem »Herzen«, wenn man so will, treu. Deswegen ist der von ihr initiierte Wandel niemals auf Institutionen oder etwa Kunstwerke aus. Eine »Revolution«, deren Ergebnis die Änderung der parlamentarischen Geschäftsordnung ist, entlarvt sich als Absurdität. Ebenso ist es keine Revolution, mit Fingern zu malen, egal wie beeindruckend und neuartig das ästhetische Ergebnis ist. Revolutionen können nur ein einziges Ergebnis haben und dies ist immer eine Art neuer Mensch. Dieser neue Mensch erkennt sich selbst durch seinen Bruch mit dem alten. Genau betrachtet ist das ein ungeheuerlicher Anspruch, weswegen die Geschichte auch nur eine Handvoll Revolutionen hervorgebracht hat.

»Neue Menschen«

Erst dieses schwer begreifliche Ergebnis, plötzlich einen neuen Menschen zu gebären, macht die Revolution so geschichtsmächtig. Alles, was davor war, wirkt plötzlich alt und überwunden. Revolutionäre und Vertreter des Ancien Régime erkennen sich wechselseitig als Verrückte. Beide haben aus ihrer Sicht dabei übrigens vollkommen Recht. Von einem »neuen Menschen« zu reden (und dies taten alle RevolutionärInnen) wirkt für die nicht revolutionär bewegten ZeitgenossInnen schlicht übergeschnappt. Folglich beginnt man, sich zu bekämpfen, womit Revolutionen in ihre unschöne Phase eintreten. Bemerkenswert ist hierbei, dass auf lange Sicht die Konterrevolution zuverlässig scheitert. In ihrem Kampf gegen das Neue ist sie gezwungen, dieses anzuerkennen, und muss es widerwillig in sich aufnehmen. Mit der Zeit wandert somit die neue Sicht in den Mainstream, die Eigenschaften und Zuschreibungen des »neuen Menschen« werden allmählich akzeptiert. Von neuen Menschen zu reden, ist keine Ûbertreibung, denn die freiwillige Herzensangelegenheit der Revolution wirkt umwerfend für die Beteiligten. Im revolutionären Ûberschwang werden plötzlich und unerwartet Ideen konkret und damit geschichtsmächtig. Was bereits zuvor gedacht worden sein mag, wird wirklich oder scheint zumindest verwirklichbar.

So lange die Gegenmacht stark genug ist, um die revolutionären Neuerungen einzufrieren, herrschen meist die schlechtesten und blutigsten Umstände. Letztlich aber zeigt sich, was gedacht wurde, wurde gedacht und ist in der Welt. Was einmal politisch greifbar erschien wird nicht mehr vergessen. Keine Gegenreformation bekommt die Zahnpasta zurück in die Tube. Revolutionen können nicht wiederholt werden, jede neue kennt die alten und muss deren Anspruch übersteigen. Mit dem Anspruch ändert sich auch der Name: Reformation, Great Rebellion, Révolution oder Weltrevolution. Es gibt in der Abfolge der Revolutionen keine klar erkennbare Teleologie, dennoch zeigt sich, dass jede Revolution um eine weitergehende Befreiung der Menschen stritt und dass ihre Basis sich dabei stets verbreiterte. Die frühen Revolutionen liefen unter höfischen Snobs ab, die späteren ergriffen das ganze Land.

»RevolutionsheldInnen«

Echte Revolutionen lassen sich auch daran erkennen, dass die Beteiligten davon überrascht werden. Was nachher an Legenden erdichtet wird, stimmt meist mit den Ereignissen nicht überein: Die großen »FührerInnen« sahen die Revolution nicht vorher und konnten sie deswegen auch nicht geplant gestalten. Mitunter wollten sie sogar das Gegenteil von dem, was sie erreichten. Martin Luther wollte vor 500 Jahren den Papst unterstützen und die Einheit der Kirche wahren – das ging tüchtig nach hinten los. Auch wenn Personalisierungen immer ein wenig falsch und irreführend sind, dann soll doch im Folgenden anhand der Revolutionsjubilare Luther und Lenin illustriert werden, welchen tiefgreifenden und geschichtsträchtigen Wandel ihre Revolutionen vor genau 500 beziehungsweise 100 Jahren bewirkt haben. Ûbrigens, entgegen jeder Heldenverehrung muss erwähnt werden, beide waren in vielem Opportunisten, was sich allein daran zeigt, dass sie ihre jeweiligen revolutionären Umschwünge überlebt haben und eines natürlichen Todes sterben durften. Wilde Zeiten überleben nur die Anpassungsfähigen und dies gelingt ihnen meist nur durch eine Rücknahme oder vielleicht sogar einen Verrat an der Revolution.

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Luther behält die Ruhe – wieder mal alle gegen ihn (Quelle: YouTube)


Luther

Der Mönch aus Eisleben ist zunächst ein vorzügliches Beispiel dafür, wie revolutionärer Umschwung sich gerne ins Gewand hochtrabender Erwägungen hüllt. Im Gedenkjahr 2017 soll nun ernstlich jenes spirituelle Zeug beweihräuchert werden, das 500 Jahre später kaum noch wer versteht. Es darf angenommen werden, dass auch damals wohl nur sehr wenige über die divergierenden Auffassungen der Transsubstantiation im Bilde waren. Nur in einem Punkt hatten die theologischen Erwägungen echte »Substanz« und das war eine ungeheuerliche, eine, die Europa für immer veränderte. Martin Luther, mehr Jurist als Theologe, begründete einen revolutionären Gedanken: Göttliche Ordnung kann nicht weltlich werden. Ein Gesetz Gottes kann folglich niemals durch menschliche Gesetze erfasst und verwirklicht werden. In diesem Moment war aus dem Vatikan und dessen Herrschaftsanspruch die Luft raus. Jeder spätere Versuch, hierin zurückzukehren, erschien zumindest einigen Zeitgenossen, die innerlich diese Revolution vollzogen hatten, als Wahnsinn. Wenn heute manche polnische KatholikInnen, syrische IslamistInnen oder amerikanische Evangelikale Gottes Reich auf Erden per Gesetz erzwingen wollen, dann werden sie von ihren eigenen Landsleuten verlacht (oder gefürchtet). All jene, die zum »neuen Menschen« gereift sind und begreifen, dass eine göttliche Ordnung von Menschen nicht festgeschrieben werden kann, machen bei diesem zelotischen Programm nicht mit. Ein Zurück hinter die einmal gemachten revolutionären Errungenschaften kann somit nur mit Gewalt und nur zeitweilig erreicht werden. Und tatsächlich, göttliche Reiche haben heute ein schweres Standing.

Neben dem inneren Bruch vollzog sich auch ein äußerer. Luther verhalf mit der Reformation den nordischen Fürsten dazu, einen eigenständigen Weg einzuschlagen, indem sie den Papst in Rom und den ungeliebten Kaiser in Wien loswurden. Dieses Ergebnis ist bis heute so offensichtlich, dass es schwerfällt, sich die Situation von vor 500 Jahren noch einmal vorzustellen. Selbstverständlich hat heute niemand in Wien oder Rom noch Einfluss auf die Geschicke des wenig liebenswürdigen deutschen Giganten, dessen enormer Industriekomplex die Geschicke Europas nach seinem Sinne lenkt. Auch das ist das Erbe Luthers. Er stellte sich und seine Reformation den hohen Herren des Nordens zur Verfügung. Wie bedingungslos er sich den Interessen der Fürsten ergab, zeigte sich, als er jene verriet, die seine Interpretation des Evangeliums ernst nahmen und wirklich glaubten »vor Gott seien alle Menschen gleich«. Mit der von ihm leidenschaftlich gerechtfertigten blutigen Niederschlagung der Bauernaufstände streute Luther jene böse Saat aus, die als deutsche Obrigkeitshörigkeit periodisch Europa ins Elend führt.

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Lenin beim Mansplaining vor angetanen ZuhörerInnen (Quelle: YouTube)

Lenin

Neben den großen Ideen geht es bei Revolutionen stets auch um die Umverteilung von Macht und Besitz. Im 16. Jahrhundert wollten die deutschen Fürsten nicht mehr mit Papst und Kaiser teilen, später wurde »Enrichissez-vous« zum wahren Wahlspruch der Französischen Revolution, als der Aufruf der Bürgerlichen, den Adeligen das Land wegzunehmen, und zwei Jahrhunderte später hatte das Proletariat seine große Stunde gegen das Bürgertum. Ein Muster zeigt sich. Weil Besitzverhältnisse ohne Revolution kaum verändert werden können, wird der sich historisch wandelnde Klassenkampf zum entscheidenden Auslöser. Wir dürfen annehmen, Lenin hat bei seiner sorgfältigen Marx-Lektüre zumindest dies verstanden. Kurioserweise hielt Lenin eine Revolution im Jahr 1917 für ausgeschlossen. Die gescheiterten russischen Aufstände der Vorjahre stimmten ihn pessimistisch. Er begriff nicht, dass diese bereits Teil des revolutionären Geschehens waren.

Lenin hatte einen revolutionären Gedanken entwickelt: Die zu errichtende Sowjetunion sollte die Konsequenzen aus der Entwicklung des Kapitalismus ziehen und zur Erziehungsanstalt einer planetarischen Gesellschaft werden, die als einzige die Industrialisierung steuern und gestalten kann. Dieser Gedanke ist in gewisser Weise bis heute richtig. Er wurde in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vorbereitet, nicht zuletzt durch eine intensive Marx-Rezeption in Russland. Im Herbst 1917 sollte dies nun endlich mittels der Weltrevolution durchgesetzt werden. Im euphorischen Ûberschwang dekretiert Trotzki die Abschaffung des Außenministeriums, fortan sollten alle Schwierigkeiten der Menschheit als weltweit zu behandelnde Innenpolitik verstanden werden. Eine irgendwie liebenswürdige Sicht der Dinge, die den heutigen Problemen angemessen wäre. Nur leider versank der Gedanke gänzlich im Sumpf eines grausam unterdrückenden Staatskapitalismus und er hatte auch dem innersowjetischen Nationalismus nichts entgegenzusetzen. (Für die Nationalitätenfrage war ein gewisser Stalin verantwortlich – sicherlich der falsche Mann).

Ohne den nächsten Schritt einer wie auch immer gearteten Revolution, die ein allgemeines, planetarisches Bewusstsein vermittelt, wird vermutlich ziemlich das Gleiche mit der EU oder den USA passieren. Fehlt ein solches, planetarisches Bewusstsein der Probleme, können allenfalls eine Zeit lang Mauern gebaut und die Probleme ins Ausland verschoben werden, Lösungen lassen sich so nicht finden.

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In Andrei Tarkowskis Film »Ivans Kindheit« umarmen sich die Liebenden in einem herbstlichen Wald über einem ausgehobenen Schützengraben (Quelle: YouTube)

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