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Berserkers Inventur – März & April 2022

Im Schnitzelparadies bimmeln zu Ostern die besten Neuveröffentlichungen zwischen Feldkirch und Favoriten – mit Affine Records, Tony Renaissance, Molten Chains und vielem mehr.

Danke für diesen guten Morgen, danke für jeden neuen Tag! Wer nicht auf einen liturgischen Erfahrungsschatz zurückgreifen kann, hat diesen Satz das letzte Mal zur eigenen Geburt gehört. Sogar nach drei Kilo Schokolade, 25 russischen Eiern und einem kleinen »Umtrunk« bleibt die Welt eine Reflexion unserer Sehnsucht. Das klingt nach Goethe, ist aber nur der Spruch aus einem traurigen Kalender. Bevor wir zu sehr abdriften, hier die besten Neuveröffentlichungen aus Österreich. Wie immer ungeordnet und ohne Gewähr – dafür im Rauschen.

Marie Vermont – »Find« (s/r)

Marie Vermont fabriziert im Brutkasten des Boiler Rooms im 20. wieder mal Krach, bei dem es einem die Nackenhaare versengt. Dazu gibt’s – eh klar – geile Grafiken und ein Lehrstück in angewandter Synthesizerologie für Kunstkacke und Knarzmenschen, die immer noch auf die UFO-Landung überm Gaußplatz spekulieren.

Potato Beach – »Run« (s/r)

Fear and Loathing in Downtown-Kottingbrunn, im Drogenkoffer nur Halluzinationen: Potato Beach sind eine Band aus Wien, die so klingt, als läge der letzte Trip drei Tage und einen Flashback zurück. Die Gitarren verdrücken in L. A. eine Träne. Man stopft sich der Coolness wegen ein Surfboard unter die Arme, rüsselt zwei Drinks weg und schmeißt drei mal fünf ist 15 Teile, um an der Copa Cagrana im Kaninchenbau zu buddeln.

Horizont – »Gift« (s/r)

Noise für Nihilist*innen und solche, die es nie werden wollten. Wer danach nicht zum Rennweg fährt, um mit den Kaputten rumzugifteln, hat sich nach Absturzträumen noch nie eine Henkersmahlzeit reingepfiffen.

Slow Ends – »Obsolete Bodies« (Alerta Fascista Records)

Irgendein Schaß geht zu Ende. Irgendwo fängt irgendwer neu an. Slow Ends sind eine neue Band aus Wien und bringen heuer ihr Debüt auf Alerta Antifascista Records raus. Damit ist gesagt, was gesagt werden muss, um zu checken, in welche Richtung der Demozug abbiegt. Mit »Obsolete Bodies«, der ersten Auskopplung des Albums, spitzt die Autonome schon mal ihre Lauscher.

Glim – »Music For Fieldrecordings« (s/r)

Irgendjemand müsste sich um den gesamten Back-Catalog von Karate Joe kümmern. Robert Pinzolits hat das Label in den 2000ern gegründet, es erschienen Alben, für die Jünger*innen von Faitiche in der Zero-Gravity-Liege einpennen. Glim, das Ambient-Projekt von liquid-loft-Mitgründer Andreas Berger, glubschte 2003 ins Träumeland. »Music For Fieldrecordings« ist ein Cut-up-Relikt seiner Zeit. Neu veröffentlicht und digital only.

asteraceae – »copper veins run dry« (s/r)

Ein Album wie ein Poesiealbum von Demenzkranken. Jede Seite anders, immer eine Überraschung. asteraceae aus Fugging (really, though?) findet allerdings nicht mal die Suchmaschine von Bing. Die Stücke kratzen zwischen Herumtuerei am Lötkolben und kaputtem Krach für kaputte Menschen, Elektroschocks für Deep-Listening-Therapierte und Klampfengeschrammel nach zwölf Liter Bockbier am Lagerfeuer.

Tony Renaissance – »Xxxerberus« (Tender Matter)

Als hätte man eine Bravo Hits CD von 1999 in einem Drogencocktail aufgelöst, die Plörre auf ex runtergekippt und danach total drauf den kompletten Monatslohn beim Autodrom im Prater verprasst. Genial!

Kenji Araki – »Nabelschnurtanz EP« (Affine Records)

Hallo Gestern, wir brauchen dich heute schon morgen. Kenji Araki macht Musik, die Modeselektor in 25 Jahren als heißen Scheiß kuratieren werden. Bissle gitarrisch, bissle elektronisch, oarge Beats und eine Stimme, für die man Gott anruft und um eine Vertragsverlängerung bittet.

Ode An Louis – »Sauna Sessions Vol. I« (Offene Luft Records)

Offene Luft ist das Paradebeispiel für Hipsterpartys, bei denen Lederhosen mit Bauchtascherln rumlatschen und Dirndln statt Gabalier lieber Gabber durch den Subwoofer pressen. Dass mit Ode An Louis ein Dreiergespann jetzt experimentellen Atmo-Kram mit Breakbeats macht, für den sich Four Tet mit Bonobo zum Saunieren verabredet, führt zu hochgezogenen Augenbrauen. Recht so!

VA – »Ceasefire Compilation« (Tongræber)

Annika Stein hat das Tongræber-Kollektiv Anfang dieses Jahres um das Labelstandbein erweitert. Inzwischen erschienen drei Releases, die »Ceasefire Compilation« kommt im Geiste des Friedens. 24 Artists steuern Tracks bei. Wer wissen will, was zwischen Ambient-Ausflugszielen, Breakbeat-Ballern und Techno-Tralala in Wien gerade abgeht, muss reinhören – und für den guten Zweck zwei Bier abzwicken!

Nasihat – »Perde« (s/r)

Boom Bap auf Türkisch. Oder was, um an der Ampel im 3er-BMW das Standgas zu massieren. Nasihat bastelt seit 20 Jahren in Salzburg an Beats, verkauft die Dinger international und lässt die Homies spitten. Das Zeug verwandelt den Kopf in einen Wackelpudding. Sollte man nicht nur auf der Ottakringerstraße ballern!

nekrodeus – »Asbest« (grazil Records)

Zwischendurch was zum Durchpusten! Nekrodeus prügeln Black Metal aus ihren Instrumenten, dass sich sogar das dunkelste Kürbiskernöl in durchsichtige Ecstasy-Pisse verwandelt.

Wiener Planquadrat –»Dschungel (IDI005)« (Wiener Planquadrat)

Kurzer Umtrunk, fett ins Planquadrat gecrasht, die Dienstpläne ausgetauscht und »Im Dschungel« aufgewacht. Krasse Story, glaubt uns niemand! Deshalb zünden die Wiener Herzbuben vom Prater-Planquadrat eine Nebelgranate und schmeißen ihre zweite Platte hinterher. Die FM4-Bubble freut es, alle anderen auch, weil die beiden Daniel-Richter-Disco für wohlstandsverwahrloste Akademiekinder produzieren.

Zosia Hołubowska and Julia Giertz – »Community of Grieving« (Unsound)

Zosia kennt die Szene-Bubble als Mala Herba. Letztes Jahr kam die Debütplatte, davor sollte am Krakauer Unsound-Festival eine Auftragsarbeit mit Soundcheckerin Julia Giertz entstehen. Das depperte C kam dazwischen, inzwischen trauert man im Kollektiv – um und über eine Welt, die so sehr am Arsch ist, dass man die Tempo-Taschentücher palettenweise vollschnäuzt. Immerhin: Mit »Community of Grieving« bricht man für 24 Minuten aus der Scheiße aus. Danke!

OGO Vertex – »Blenders Renders« (Morbit Exile Records)

Hätte Super Mario mit Zelda eine g’scheite Internet-Connection aufgestellt, die neueste Ableton-Version gecrackt und nach fünf Lines Speed mit Dubstep-Samples am Wobble-Bass rumgeschraubt, OGO Vertex könnte sich seine Platte auf Morbit Exile sparen. Aber wir wissen: Der Konjunktiv ist der Feind des Erfolgs. Also gusch!

Artjom Astrov, Kisling, Till Megerle – »Guiding Light IV« (Serious Serious)

In der Kunsthalle hat man die Schnipo-Schranke zwischen Video-Wahnsinn und Folk-Fun schon im März hallen lassen. Das Dreierdings um Wienerin Michaela Kisling faselte da noch von deepem »hanging out« und ließ sich vom Licht leiten. Tja, gäb’s den Bums nicht nur als USB-Stick, man müsste sich sofort die Platte holen.

Lime Crush – »Timewaster« (Fettkakao)

Immer wann die Leute von Lime Crush veröffentlichen – und sie haben schon mit dem grantigsten aller Grantler Jens Rachut veröffentlicht – brennt ein innerliches Freudenfeuer ab. Dabei parken die Fettkakao-Spezis den Polo rückwärts in der Garage und pluggen Gitarren in Verstärker, als wäre es Neunzehn-fucking-dreiundachtzig und Die Tödliche Doris noch lange keine tödliche Dosis.

Laut Fragen – »Grau (Viva Beton)« (s/r)

Die Stadt ist eine Wüste, in der Gold wächst. Weil Betongold aber Scheißgold ist und sich selbst die letzte Gstetten vertschüsst, rücken Laut Fragen aus, um der Versiegelung unserer Verantwortung zweieinhalb Minuten Mörtel in die Fugen unserer Gehörgänge zu gießen. Hoffentlich bekommt das der Haselsteiner nicht mit!

Paul Plut – »Kurz nach Schalling unterm Berg (Original Soundtrack)« (s/r)

Ohne Paul Plut wären wir arm dran. Der Wiener Wiegenliedsänger für Verlorene und Wache geistert als Wächter der Nacht mit seiner Quetschen durch dunkle Gassen und lässt uns allein gemeinsam sein. Für David Lapuchs neuen Film hat er den Soundtrack geschrieben und die Dur-Akkorde gestrichen. Nur so viel: »Kurz nach Schalling unterm Berg« wird sicher keine Romcom.

seha eks – »Gib Dem Drachen Zucker« (Unseen Music)

seha eks ist Rapper in Wien. Seine Beats schreibt er selbst, die 16er funktionieren so stabil wie die Seitenlage im Erste-Hilfe-Kurs. Den Prolo-Bullshit zwischen Schwurbler-Kollegahs und Hurnkindern bekommt man bei seha eks also nicht. Dafür spechtelt sein Flow sowieso zu sehr in die 90er. Nice!

Molten Chains – »Orisons of Vengeance« (s/r)

Die Double Kick glüht, das Messer ersetzt das Plektrum, die Riffs werden zum elektrischen Stuhl – wenn die Wiener Band Molten Chains ein Album in der Pipeline hat, kreiseln Köpfe, bis sich der Abgrund auftut, der Heiland erscheint und sogar überzeugte Atheisten zum Pfaffen pilgern.

Heidnir – »Jenseits des Kosmos« (s/r)

Heidnir geht gern in den Wald. Allein. Dort schmiert er sich Corpse Paint ins Gesicht, haut sich hinters Schlagzeug, entzündet drei Kerzlein und hängt sich die Klampfe um, während er so lange ins Mikrofon brüllt, bis die letzten Dämonen ausgetrieben sind. \m/

Zanshin – »In Gloom« (Affine Records)

Das neue Album von Zanshin ist wie ein Zen-Garten auf Acid – ungefilterte Einflüsse, absolute Durchlässigkeit, eine Reizüberflutung in vollkommener Harmonie. Der Wiener Producer, der Ende der 2000er als Hälfte von Ogris Debris zwischen Pratersauna und Panoramabar die Miezekatze schnurren ließ, hat sich lange Zeit gelassen. Bevor die Platte im Juni kommt, ein Sprung in die FM4-Charts.

le_mol – »Live Noise Everywhere« (s/r)

Wer türmt die meisten Gitarren? le_mol, zwei Staplerspezis aus Wien! Die Truppe aus zwei Typen feiert mit Loops und ihrem Boss eine Shoegaze-Party. Die Stücke blinzeln gerade so durchs Zehn-Minuten-Gloryhole, jedes einzelne schlafwandelt für sich. Weil das so geil geht, hat man sich letztes Jahr in die Arena gestellt und den Bums aufgenommen. Beschte!

Slobodan Kajkut – »Elements« (GOD Records)

Man muss nur lange genug an ihnen rütteln, den Konventionen des guten Geschmacks. Irgendwann knicken sie unter der Druckkraft des Subbasses ein. Slobodan Kajkut, der Godfather von God Records in Graz, gießt der Neuen Musik deshalb ein Fundament aus Beton. Den Sesselpickern passt das gar nicht, die Revolution pfeift trotzdem von den Dächern. Schließlich sitzen im Konzerthaus nur die Coolen mit einem Godflesh-Shirt in der ersten Reihe.

SanTra – »Tausendfüßer« (s/r)

SanTra ist die Sookee des alpenländischen HipHops. Unterm Patscherkofel skitouren sich die Double Rhymes zwischen zweiter Lautverschiebung und Innschbrucker Idiom zu einem Soziologieseminar im fünfundreißigsten Semester.

braun.haar – »Formless Soundtrack« (s/r)

Noise und Techno aus der Fabrik für Halbleiter und Herrgottswinkel. Oder: »Gegen die Fastfood Musik-Fashion und Gesellschaft«, leiwand!

Robert Schwarz – »Clear Cues« (ETAT)

Einparkhilfe Robert Schwarz schraubt weiterhin an Sounds, die dazu führen, dass man sich entweder den Kopfgärtner spart oder bei ihm den nächsten 10er-Block bucht. Die Wahrheit liegt bekanntlich irgendwo im Nirgendwo. Was auf »Clear Cues« grunzt und gnatschelt, während sich das große Krabbeln abspielt, führt straight ins Unterholz des Oberstübchens. Bei Risiken oder Nebenwirkungen fragen Sie ihren Arzt oder Plattenhändler.

oh alien – »This Might Be The Place« (Phat Penguin Records)

oh alien sind drei liebe Menschen, die so aussehen, als hätten sie sich in der Zara-Werbung gefunden und zu einer Bande zusammengeschlossen, um Kopfstimmen-Pop für Hafermilch-Frappuccino-taugliche Nachmittagsekstase zwischen FM4 und Förderantrag rauszuhipstern. Geil wie Mate auf Vodka.

Autor – »Nektar EP« (Urban Lurks)

Der Autor ist tot, die Autorin lebt! Deshalb grindbatzt die Wiener Band aus Gründen der Gerechtigkeit im generischen Maskulinum auf dem Eh-immer-leiwand-Label Urban Lurk zu Punksongs, bei denen die Post seit zwei Monaten den Briefkasten verstopft.

Florian Tiefenbacher – »Music From A Quiet Place« (s/r)

Eigentlich trommelt Florian Tiefenbacher zwischen Adelaide, Paris und Zagersdorf für SOHN. Mit »Music From A Quiet Place« quetscht er sich aber schon aus Gründen der Lautstärke hinters Klavier, verdrahtet den Kasten mit ein paar Mikros und lässt es klimpern und knarzen, dass Nils Frahm in seinem Funkhaus zu Berlin den Piano Day vergisst.

Red Gaze – »Healing Games« (Numavi)

Das Beste wie immer zum Schluss: Red Gaze, die Grazer Noisemaker bei Carport-Partys und Garagenfesteln, haben bei Numavi eine neue Platte veröffentlicht. Endlich! Schließlich ist die letzte schon wieder eine halbe Ewigkeit her. »Healing Games« rasiert sich einen Irokesen, schrammelt in den Punkkeller und lernt sich im Pogokreis besser kennen. Kaufen!

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