Alte Männer in der Rockmusik, das ist eine undankbare Angelegenheit. Denn zur Attitüde des »Rock« gehört untrennbar der Schmelz der Jugend, die Naivität des ersten Mals ?? Wo sich Routine und Altersweisheit einschleicht, verliert die Sache schnell ihren Kick. Sie müsste sich auf der Kalibrierungsstufe ihres jeweiligen Lebensalters neu erfinden, denn im Grunde ist das hohe Alter weder in der Klassik, noch im Jazz oder Blues ein Hinderungsgrund, gute Musik zu machen. Muddy Waters etwa war 64 Jahre alt, als er das vor Energie strotzende »Hard again« einspielte. Klar, er hatte damals den jungen Johnny Winter an seiner Seite, trotzdem war die Platte von einer beispielslosen Altersvitalität.
Den Sauriern des Rock ’n‘ Roll ist so ein Spätwerk selten geglückt, allerdings war die Weltverschwörung der Musikkritiker lange Zeit reichlich ungnädig. Ständig wurde das neueste Werk darauf hin abgeklopft, ob es denn auf der Höhe der Zeit sei – und dementsprechend oft genug bei seinem Erscheinen in Grund und Boden gestampft. Erst nach den elektronischen 1990ern und der sich seither endlos drehenden Revivalschleife hat sich der Blick auf die Musikhistorie etwas entspannt. Von Dylan bis Neil Young, von Led Zeppelin bis Pink Floyd – nicht alles war Schrott ab den späten 1970ern – und nicht nur deswegen, weil es mit zunehmendem Alter noch schlechter wurde.
Aber Progrock?
Aber ein Sekunde: Yes, war das überhaupt Rock ’n‘ Roll? Wir kommen zur zweiten Frage. War Progrock nicht eher eine Geschmacksverwirrung? Sagt uns dieses Genre heute überhaupt noch etwas? Letzteres lässt sich mit einem klaren Jein beantworten. Progrock gibt es heute in unzähligen Differenzierungen von Neo-Prog über Progressive Metal, Rock in Opposition (RIO) bis hin zu Retro-Prog oder Postrock. Ein kaum überschaubares Gewirr an Subgenres, dem man immerhin eines nicht nachsagen kann, dass es sich endlos selbst reproduziert hat. Progrock ist eines der wenigen Genres, dem wohl nie eine Retromania droht. Denn vom ursprünglich Progrock ist eigentlich nur die unbedingte Abgrenzung gegenüber dem Mainstream und der Anspruch, aus dem Geist des Rock ’n‘ Roll eine ernstere, komplexere Musik zu machen, geblieben. Damit polarisieren auch heutige Bands noch das Publikum – von Mars Volta über Mew bis Muse oder der jüngsten Entdeckung White Denim.
Der bis heute aufrechte Vorwurf gegenüber Progrock lautet, dass das Ergebnis viel zu kopflastig sei, keine Musik, die aus dem Bauch heraus komme und unmittelbare Lebensgefühle beschreibe (Stichwort Konzeptalben). Daran knüpft sich die praktische Frage, woher sich diese vermeintliche Komplexität nähren sollte? Wenn Rock ’n‘ Roll eine Sache von drei Minuten und/oder drei Akkorden ist, wie füllt man damit 20 Minuten? Mit harmonischer Entwicklung, Kontrapunkt oder doch nur endlosen Soli? Oft genug wurde darum kritisiert, dass man es übertrieben hätte. »Tales of Topographic Oceans« von Yes besteht aus vier Plattenseiten mit je 20-minütigen Stücken. Auch heute noch gilt, dass die kompositorischen Einfälle und die daraus resultierenden Strukturen diese Länge nicht aushalten. Wären die Stücke deutlich kürzer, wäre »Tales« ein Meisterwerk. Ähnlich übertrieben hat es auch Genesis mit dem Doppelalbum »The Lamb lies down Broadway«, allerdings inhaltlich. Dieses bis heute kaum verständliche Konzeptalbum – ein Puertoricaner, der in einem apokalyptischen New York Kastrationsängste durchleidet? – ist allerdings eine Randerscheinung des Genres, denn Genesis standen dem Pop stets näher als dem Rock, weswegen man die frühen Genesis, so witzig und kreativ ihr Schaffen einst war (doch, doch), eigentlich unter Progpop katalogisieren müsste.
Pandora mal drei
Grundsätzlich gab es drei stilbildende Ansätze im Progrock. Zum einen nährte man sich von klassischen Vorbildern. Emerson, Lake & Palmer waren es, die mit ihren »Pictures of an Exhibition« die klassizistische Büchse der Pandora geöffnet haben. Das war eine Notwendigkeit einerseits, zugleich ein Verrat am Rock. Den Klassikfreunden war dieser Zugang stets schon zu lapidar und simpel, den Rockfreunden zu artfremd. Aber obwohl Eklektizistismus in der Klassik nicht mehr ganz so verpönt ist, würde man den Orchesterwerken eines Frank Zappa trotzdem eher den Vorzug geben als dem unsagbar verkitschten Pianokonzert von Keith Emerson (»Works I«, 1977).
Zum anderen stand Progrock auch an der Schwelle zur Avantgarde. Diese Büchse wurde von den Beatles schon mit »Revolution No. 9« geöffnet, hat aber seither nur selten Anwendung gefunden, weil diese Operation meist zum sofortigen Ableben des Rockpatienten führte. So bediente sich Yes auf »Relayer« etwa bei der musique concrète, die ansonsten genial in Richtung Minimalismus wandernden King Crimson sind auf ihren Experimentalpassagen fast ungenießbar, und die berüchtigten Van der Graaf Generator verirrten sich gerne in Freejazz-Exkurse. Diese Resultate waren stets zwiespältig und standen mehr für die Notwendigkeit, auch diese Sackgasse unbedingt auszuprobieren. Eine Sackgasse aber nur deswegen, weil es einfach zu weit weg von der Kernkompetenz des Rock ’n‘ Roll führte.
Bleibt der dritte und wesentlichste Aspekt, der Versuch die Komplexität im Stilkanon (und basierend auf der Formensprache) des Rock ’n‘ Roll selbst zu finden. Hier eben standen Yes im Mittelpunkt. Wir finden hier hübsch komplexe Stücke, die auf kunstvoll gedrechselten Rockriffs beruhen und sich weitab vom klassischen ABABC-Schema bewegen. Die natürlich auch ihre endlosen Soli und ihre unnötigen Redundanzen haben, aber wie kreativ und gelungen das bei Yes war, wird klar, wenn man sich manche der Bands anhört, die es nicht in den engsten Kreis des Genres geschafft haben. Gentle Giant etwa, die einen eher wohlgefällige Karnevalstanz harmoniesüchtiger Virtuosität veranstalteten, oder Rush, die sich etwa auf »2112« streckenweise wie eine Monsterrockpersiflage im Stil von Spinal Tap anhören. »Close to the edge« von Yes hingegen klingt heute noch wie aus einem Guss, stilsicher, essentiell – und dennoch eine Spur zu ausufernd.
The Rockfollies
Das klingt jetzt fast so, als wäre Progrock ein eigentlich stets unterschätztes Unterfangen, ganz einfach Rock mit Anspruch zu machen. Woher dann der enorm schlechte Ruf? Der kommt leider nicht von ungefähr. Pompöse Stageperformances, unsagbar pathetische Songtexte und ein abgehobenes Sendungsbewusstsein waren im Kanon des Progrock offenbar unvermeidbar. So wollte der Yes-Keyboarder Rick Wakeman 1976 sein Oeuvre namens »The Myths And Legends Of King Arthur And The Knights Of The Round Table« (sic!) mit einem Symphonieorchester zur Aufführung bringen – und zwar in einer Eislaufarena. Und Ian Anderson grummelt in den Kommentaren der remastered Jethro Tull CDs über den Unfug, Ende der 1970er noch mit einem kompletten Piratenschiff auf der Bühne zu touren. Obwohl nach 1975 bei den meisten Bands großteils Schluss mit überlangen Stücken war, wirkte der Pomp des Progrock noch lange nach – und wurde dann zwei Jahre später umso radikaler vom Punk ins Nirwana der Dekadenz gepfeffert. Diese Schattenseite von Progrock ist bis heute als negatives Attribut erhalten geblieben – und haftet seither jeder übertriebenen Stadionrockperformance an, vom überkandidelten »Steel Wheels«-Live-Set der Rolling Stones bis zur unsagbar prätentiösen »Zooropa-Tour« von U2.
Auch dazu muss man aus heutiger Sicht sagen: Schade eigentlich, denn es heißt, dass wir so ein absurdes Spektakel im November von Yes nicht zu sehen bekommen werden. Vielmehr steht zu befürchten, dass wir vor allem ehrwürdig ergraute Rockhandwerker sehen werden, die dem Sport des melodiösen Rock frönen. Es wird ein Abend im Zeichen der Nostalgie werden. Wer zeitgemäßeren Progrock hören will, schlägt nach bei oder wartet auf Mars Volta, Mew, Tortoise oder die ganz neue Entdeckung White Denim, die bereits mit der vielversprechenden Bezeichnung »Southern Prog« geadelt wurden. So selten, wie diese Bands bei uns zu sehen sind, so sicher ist es auch, dass die nächste Progrockwelle noch lange nicht vor der Tür steht. Aber lohnt es nicht gerade deswegen, in diese versunkene Nische der Rockmusik reinzuhören?
Die Progrock-Legenden Yes kommen am 27.11.20011 ins Wiener konzerthaus!