Wo anfangen? Unübersichtlich, verwirrend oder gar chaotisch mag der musikalische Output von MV&EE auf den ersten Blick erscheinen. Discogs listet über einhundertzwanzig Veröffentlichungen, viele davon unter wechselnden Namen und in allen gängigen Formaten: Kassetten, CD-Rs, CDs, Singles und LPs – manche davon in Kleinstauflagen und nur auf Konzerten oder über die Homepage von MV&EE erhältlich.
Flashback
Zusammen Musik zu machen begannen Matt Valentine und Erika Elder nach dem Ende der Tower Recordings (deren Geschichte hier aus Platzgründen nicht erzählt werden kann). Der mit dem Vorgängerprojekt eingeschlagene musikalische Weg wurde aber beibehalten: Folk-Music im Sinne der (Wieder-)Entdeckung und Kultivierung des »alten, unheimlichen Amerikas« – psychedelisch aufgekocht. Versatzstücke aus Pre-War-Blues und Appalachian-Folk zusammengeführt mit den musikalischen Traditionen der jüngeren Vergangenheit – hier vor allem die so genannte »psychedelische Rockmusik« und der Free-Jazz der 1960er und 1970er Jahre. Voilà: Free-Folk!
Matt: »There is the spirit of the dead with free improvisations colliding head on with the compositions«. Ûber Musik kann man manchmal besser auf Englisch sprechen. »The dead« meint hier sowohl die toten musikalischen Vorfahren wie auch die Grateful Dead, die als historisches Vorbild für ein erweitertes Verständnis von MV&EE fungieren können. Waren die Studioalben der kalifornischen Acid-Heads immer ihre weithin wahrnehmbaren Lebenszeichen, so galt und gilt es für »Deadheads« vor allem im Blick zu behalten, was neben diesen regulären Alben (manchmal nicht ganz der an der Oberfläche) erschien und noch immer erscheint: Myriaden von Live-Alben, Bootlegs und Veröffentlichungen mit Versionen und Studio-Outtakes.
Ähnlich verhält es sich mit MV&EE: »Fuzzweed«, das neue Album, kann zurückverfolgt werden, die Entstehungsgeschichte von Songs und Alben im Rahmen von Live-Shows wird dokumentiert und auf limitierten CD-Rs veröffentlicht: »Es gibt zum Beispiel eine frühe Version von »Jacked up« auf einer dieser CD-Rs (»Pay Yer Rates«), die wir im Vorfeld von »Fuzzweed« veröffentlicht haben. Diese Version ist bereits von 2009«, so Matt, und natürlich besteht der Spaß darin, die Versionen miteinander zu vergleichen, den Prozess der Entstehung und Veränderung nachzuvollziehen – auch für Matt und Erika selbst: »Unsere Musik und deren Entwicklung permanent zu dokumentieren, das eröffnet uns aufschlussreiche Perspektiven an Songs zu weiter zu arbeiten, sie zu verändern«, und letztlich gibt es unter den vielen Versionen eines Songs keine definitive.
On The Road
Das umfangreiche Archiv der Band entsteht auf Tour. Offensiv fordern MV&EE ihr Publikum dazu auf, Live-Mitschnitte anzufertigen: »See you in the tapers pit!« Die bandeigenen und die Aufnahmen von Fans dokumentieren bisher hunderte von Shows, ein Ende ist nicht abzusehen und nach und nach werden diese Shows veröffentlicht, wie jüngst die sieben Konzerte der »Zebulon Residency«, eines Aufenthaltes in New York.
In diesem Zusammenhang ist es wichtig nicht zu vergessen, dass MV&EE zwar ein Paar aber kein Duo sind. Die vielen Kombinationen, in denen Matt und Erika zusammen mit anderen auftreten, verweisen auf ein weit verzweigtes Netzwerk von Musikerinnen und Musikern, das international die Band ist, die viele Namen tragen kann, zumeist aber als »The Golden Road« firmiert. Unter anderem der Improv-Drummer Chris Corsano, Willie Lane, Mick Flower, The Doozer, Samara Lubelski, John Molony und Ron Schneiderman von Sunburned Hand Of The Man und sogar J. Mascis zählen zu diesem Kollektiv. Matt: »Es ist großartig, all diese Leute unterwegs antreffen zu können, um mit ihnen Musik zu machen. Sie gehören alle zur Band. Sie sind die »Golden Road««.
Green Blues
Offene Strukturen kennzeichnen auch den Sound von MV&EE. Neben den Songs, die live über die Jahre hinweg immer wieder gespielt werden und so in unterschiedlichen Formen bestehen und sich immer wieder verändern, gibt es so genannte »Environments« – Soundumgebungen, improvisierte Klangräume, eingefangene Stimmungen. Der Bezug zum Raum, in dem MV&EE Musik machen und leben – und vom Musik machen versuchen zu leben – ist alles andere als zufällig: »Die Natur und unsere unmittelbare Umgebung stellen sicherlich einen entscheidenden Einfluss auf unsere Musik dar. Und der Prozess des Aufnehmens von Musik, das Hegen und Pflegen von Sounds und Songs ist durchaus mit dem Sähen und Ernten vergleichbar; nicht umsonst heißt eines unserer Labels: Heroine Celestial Agricultures«.
Die »Heldin himmlischer Agrikulturen« ist gewissermaßen die Schutzgöttin von sonisch-schillernden Schlingpflanzen, psychedelischen Pilze und wild wucherndem »Fuzzweed«, dem jüngsten musikalischen Gewächs von MV&EE, das Ende Februar auf dem amerikanischen Label Three Lobed eingetopft wurde.
Wer jetzt denkt: »Hippies, bekloppt!«, dem oder der gebe ich ein freundliches »Friede sei mit Dir, Bruder oder Schwester« mit auf den Weg in die falsche Richtung. Matt Valentine und Erika Elder sind ebenso down to earth wie sie in der digitalen Gegenwart des 21. Jahrhunderts mit den alltäglichen Widersprüchen umzugehen wissen: »You can’t pay the rent with happiness, you can’t pay the rent with love!« singen sie über eine an Canned Heats »On The Road Again« angelehnte Melodie – und das fabelhafte Paar ist eben auch far-out genug, um sich angesichts von Anforderungen und Widersprüchen eines Lebens als Musiker_innen unter den Bedingungen von »Musik = Müll« (Neidhart/Platzgumer) nicht in den Zynismus treiben zu lassen. Matt: »Hard to say what is next, a lotta wheels but not sure where to roll. MV&EE action; we’ve been workin‘ on some studio music and I’m pretty deep in working on a solo LP, hopefully I’ll be able to finish soon. Lots of love in and around all of there.« The Golden Road goes on and on – long may they run!
Auswahldiskographie
MV&EE »Fuzzweed« (LP, Three Lobed 2013)
MV&EE »Zebulon Residency Box Set« (7-CD-R, Child Of Microtones 2012)
MV&EE With The Golden Smokehound ?»Helderberg Haze« (MC, Tape Drift Records 2012)
MV&EE: »Pay Yer Rates« (CD-R, Heroine Celestial Agriculture 2012)