Bôlt Records, das polnische Label für »Neue Musik in Osteuropa«, begann vor wenigen Jahren mit der besonders schrillen »Populista«-Reihe von Michal Libera, der früher auch mal für skug schrieb. Unter anderem sind darin Beethoven-, Schumann- oder Luc Ferrari-Ûberschreibungen zu entdecken. Mittlerweile hat man sich vom einstigen Vertriebspartner Monotype Records emanzipiert und der Werkkatalog hat sich aufgefächert. Eine Schiene widmet sich etwa zur Gänze dem Schaffen des Experimentalstudios des polnischen Radios.
Hier ist zuletzt unter anderem die Doppel-CD »Attitude« erschienen, die das Schaffen von Kåre Kolberg, einem norwegischen Pionier der Elektroakustik, dokumentiert. Das ist verdienstvoll, aber Kolbergs Werke sind in erster Linie aus historisch-technischer Hinsicht interessant. Für heutige Hörverhältnisse repräsentiert das Kolbergsche Oeuvre viel zu stark jene Ecke der Elektroakustik, in der man sich entlang endloser Spielereien mit Sounderzeugungsmöglichkeiten im Wald der kompositorischen Beliebigkeit verirrte. Seltsam gestaltlos und deutungsoffen wirken seine Stücke heute, aber das ist natürlich weniger Kolberg anzulasten, sondern man muss gewissermaßen mit zeitreisendem Ohr in seine Stücke hören und staunend feststellen, wie viele zeitgenössische Soundtüftler es gibt, die dem, was Pioniere wie Kolberg schon in den 1970ern geschaffen haben, wenig hinzuzufügen wussten. Für das Selbstverständnis des Genres ist diese Dokumentationsarbeit darum umso wichtiger.
The electroacustic business as usual
Springen wir in die Gegenwart: die »Blind Man Tales« vom litauischen Soundartist Gintas K. wirken anfangs zwar ebenso wie der übliche elektroakustische Einheitsbrei aus Soundschnipsel und sphärischerem Beigemenge, doch mit zunehmender Dauer wird das 40-minütige Hauptstück konziser und entwickelt einen fast hypnotischen Sog. Dass diese Erzählungen eines blinden Mannes als Mehrkanalmix einiger Stücke fungieren, mit denen der Litauer zuvor unzufrieden war, überrascht nicht weiter.
Auch Arturas Bumšteinas stammt aus Litauen. Sein Vorjahresrelease »Sleep (An Attempt at Trying)«, ebenfalls auf Bôlt Records erschienen, war eine prächtig gelungene Radiosuite für Freunde schlaftrunkener Stimmungslagen. Mit »Different Trains« bleibt er sich treu, doch fehlt hier ein ähnlich stimmiger Grundgedanke. Das erste Stück »Wielka Improwizacja« wirkt, als hätte Bumšteinas fröhlich an einem Radioregler gespielt, dabei zwischen einem Hörspiel und einer Klassiksendung gewechselt (bzw. diese Sendungen überlagert), und dann nachträglich das Frequenzrauschen entfernt. Tatsächlich hat Bumšteinas das Stück komponiert und in einer Kirche in Vilnius einspielen lassen. Die anderen beiden Kompositionen sind näher dran an dem eigenwillig tranceartigen, nachtschlafenem Flair, das die »Sleep«-CD auszeichnete, besonders das Stück »Pinavija«, das auf einer historischen Aufnahme eines jüdischen Gebets beruht. Alle drei Stücke haben übrigens einen religiösen Kontext, der Grundgedanke wäre also schon da, aber nicht umsonst lautet der Titel der CD »Different Trains«, verschiedene Züge, die eben auch in verschiedene Hörerfahrungen münden.
Ein alter Bekannter ist der Norweger Helge Sten, Mitglied der Impromeisterklasse Supersilent und Produzent von Motorpsycho, sonst meist eher für das sehr geschätzte norwegische Label rune grammofon tätig. Auf »Monochromes« gibt er sich eher karg und zurückhaltend, mit einer sperrigen Reserviertheit, die man als Zuhörer spontan mit selber Münze zurückzahlt. Auch die Umsetzung des Tomasz Sikorski-Stücks »Solitude of Sounds« reißt nicht wirklich vom Hocker. Wie so oft sind es die Zwischentöne, die Details, die vielen subjektiven Präferenzen, die den Unterschied machen. Denn »Gostak & Doshes« von dem in Warschau ansässigen Drummer Hubert Zemler ist kaum weniger sperrig, verbreitet eine ebenso diffus-triste Stimmung wie »Monochromes« (bzw. die »Blind Man Tales« oder auch die »Different Trains«), aber Zemler entfaltet seine Sphärik rein perkussiv, mit wummernden Basstrommeln, zischenden Hi-Hats und minimalistischen Melodieeinschüben auf dem Vibraphon. Der schummrige, verwaschene Sound des Albums rührt daher, dass die Tracks in einer Warschauer Kirche aufgenommen wurden. Nur auf zwei Tracks lässt Zemler den Drummer auf vordergründige Weise raushängen, ansonsten ist »Gostak & Doshes« streckenweise dem Ambient näher als der Experimentalmusik und hat über weite Strecken eine ebenso hypnotische Wirkung wie die »Blind Man Tales« von Gintas K. Ganz große Hörempfehlung!
The classizistical downfall
Der polnische Pianist & Komponist Marcin Masecki hat in diesem Jahr gleich zwei Alben auf Bôlt veröffentlicht. Wirklich witzig und schrill ist seine Kollaboration mit der argentinischen Sängerin Candelaria Saenz Valiente mit dem Titel »Hymnen«. Das ist wortwörtlich zu verstehen, präsentiert werden hier tatsächlich Nationalhymnen – und zwar von Griechenland, Zypern, Nepal, Haiti, Afghanistan, Vanuatu und Guyana. Diese eigenwillige Auswahl wird mit in den bemerkenswert offenherzigen Linernotes erklärt. Man wollte ein politisches Album machen und suchte nach der zündenden Idee. Diese lautete am Ende: »Anthems of countries that are not doing very well!« Arme oder exotische Staaten sollen hier also »vorgestellt« werden, wobei diese Vorstellung bei Masecki und Valiente zur Freakshow wird, die zwischen Betty-Boo-Stimme und satanischem Höllengerassel (ausgerechnet bei der afghanischen Hymne übrigens), zwischen schepperndem Stride-Piano und schummriger Hammondorgel keinen Genierer kennt. Das scheint dem Präsentationsgedanken zwar zu widersprechen, folgt aber dennoch einer Logik, bei der es offenbar darum geht, die mutmaßliche Länderexotik in den Irrsinn zu übersteigern. Dieses Experiment ist durchaus gelungen!
Marcin Maseckis Soloalbum »Variations« hingegen präsentiert 17 Variationen über das chilenische Lied »El pueblo unido jamás será vencido« (»Das vereinte Volk wird niemals besiegt werden«), das als bekanntestes Freiheitslied der Chilenen gilt. Bereits 1975 komponierte der Amerikaner Frederic Rzewski »36 Variations« dazu, die als eine der schwersten Pianopartituren überhaupt gelten, schlimmer noch als die »Diabelli«-Variationen von Beethoven. Aus eben aus diesem Grund gelten Rzewskis Variationen als Kult, an dem sich immer wieder Meisterpianisten versuchten. Dass eine derartige Fetischisierung für Masecki, der für einen unelitären, unentkrampften Umgang mit Klassik plädiert, eine Herausforderung darstellt, liegt irgendwie auf der Hand. Dass er seine Variationen, obwohl selbst Pianist, von seinem Kollegen Piotr Nowicki einspielen lässt und das Resultat als »gescheitert« kommentiert, unterstreicht die Verweigerungshaltung, die der ganzen Sache zugrunde liegt. Gescheitert sind diese Variationen aber nur insofern, als sie weder die Genialität von Beethovens »Diabelli«-Stücken, noch die prätentiöse Virtuosität der Rzewski-»Variations« toppen. Aber das war auch nicht das Ziel, vielmehr ging es um ein Understatement, das (wie bei den »Hymnen« übrigens) fast schon in Richtung Persiflage ausschlägt. Anders lässt sich die demonstrative Sperrigkeit und die minimalistische Redundanz an manchen Stellen kaum erklären. Was aber wiederum weniger puristisch gepolten HörerInnen einen Einstieg erlaubt. Zudem sind ironische Konzepte in der Musik generell viel zu selten zu finden und haben darum erhöhte Aufmerksamkeit verdient.
The easy listening avantgarde
»MSZA« von der polnischen Komponistin Joanna Halszka Sokolowska ist eine im Studio eingespielte Kammeroper, die sich um die Themen Identität & Differenz, facebook und Gott dreht. Oder anders ausgedrückt: um Fragen, die sich unmöglich musikalisch auflösen lassen, aber man kann fröhlich mit ihnen jonglieren, etwa in dem man Textfragmente von Sara Powell Hardt, Claude Henri de Saint-Simon, Luigi Pirandello oder Jane Austen mit computerverzerrter Stimme einwebt, die »Mondscheinsonate« von Beethoven zitiert und davon spricht, dass sich all diese Bezüge auch von einem Discoball einrahmen lassen. Was natürlich ein bisschen viel Referenzlärm für eine Komposition ist, die eher nach einem Acappella-Oratorium in der Nachfolge von Meredith Monk klingt. Mit einem nervigen Intro, einigen sehr hübschen, vielleicht zu niedlichen Vokalpassagen, dem schon erwähnten Beethovenzitat und einem unvermuteten Ende. Das ist schon ganz okay, aber dann driften wir lieber doch ganz in die Twilight Zone zwischen Pop und Avantgarde. Die CD/MC »BIALO« von der polnischen Sängerin und Soundkünstlerin Joanna Bronislawska aka Asi Mina ist bei Bôlt Records unter dem Nenner »Kikazaru Pleasures« geparkt, genauso übrigens wie die »Hymnen« oder Bumšteinas‘ »Sleep«. »BIALO« überrascht mit seiner Zugänglichkeit. Manche Tracks klingen wie ein müheloser Balanceakt zwischen dahingehauchter slawischer Folklore und Elektropop aus den frühen 1980ern (z. B. Vince Clark), begleitet von eher geringfügigen experimentellen Einschüben im Stil akusmatischer Radiolandschaften, die aber in dieser Dosierung eher nur das experimentelle Salz auf dem veganen Popbraten sind. Auch textlich dürfte Bronislawska einen recht gewitzten, in Richtung Dekonstruktion weisenden Zugang gefunden haben (was sich aber für einen des Polnischen nicht mächtigen Rezensenten nicht verifizieren lässt).
Wir sehen also und bestaunen die beachtliche Auffächerung des Werkkanons bei Bôlt Records (die an dieser Stelle übrigens gar nicht erschöpfend behandelt wurden, auch die »Populista«-Reihe besteht ja nach wie vor). Für alle »Fächer« des Bôltschen Werkkanons kann man jedenfalls getrost versichern, dass hier sorgfältig und mit Blick auf möglichst spannenden Hörerlebnisse ausgesucht wird. Im Reich der Elektroakustik wurde zwar auch noch nicht das Rad neu erfunden, dass man sich aber mit der »Kikazaru«-Reihe darum bemüht, auch neue HörerInnen ins experimentelle Boot zu holen, kann gar nicht genug gewürdigt werden – was zuletzt übrigens auch dem renommierten britischen Musikmagazin »Wire« aufgefallen ist.