Quizfrage zu Beginn: Was ist der womöglich einzige akustische Synthesizer der Welt? Wer darauf eine Antwort sucht, muss weit in der Zeit zurückreisen. Ein paar Jahrhunderte. Es ist die alte Orgel, die wir aus der Kirche kennen. Das erklärt Valle Döring im Interview – und dreht die Sache abermals um. Er spielt die Miniorgel, das Harmonium, als wäre sie ein elektronischer Synthesizer. Ausgestattet ist sein über 100-jähriges Instrument mit mehr als 25 Mikrofonen – ob am Kniehebel, an der quietschenden rostigen Feder des rechten Pedals oder am Blasebalg. Die einzelnen Register, aber auch Klänge der maroden Mechanik gehen in den Mixer und ergeben in summa einen kosmischen Klang. Mal sphärisch, mal sakral, mal noisy, mal glitchy. Das alte Tasteninstrument knarzt und lebt – und erinnert auf Dörings Album »And other strange songs from the remote planets« (Umland Records, 2023) mehr an ein außerirdisches Instrument als an die gewohnten Orgelsounds von Bach und Co. Selbst nennt der Leipziger Musiker sein sanft modifiziertes Harmonium auch »Weltraumorgel« oder »Cyborginstrument«. Und so fliegen wir mit ihm aus der Dorfkirche ins Weltall.
Vom Dorf ins All
Dieses Motto könnte auch über dem Essener Label Umland Records stehen. Ob Pop, Neue Musik, Drone, Noise oder Jazz – seit einer Dekade ist Umland ein Sammelbecken für alle besonderen Sounds, die so auf dem Kesselboden des Ruhrpotts lagern. Darunter auch die von The Dorf, einem jazzig-progressiven Soundkollektiv, in dessen »Umland« sich das Label damals formierte. Für die Labelbetreiber Florian Walter und Jan Klare war aber auch die Struktur des Ruhrgebiets eine dankbare Vorlage: »Das Ruhrgebiet ist sehr kleinteilig organisiert, wenn man in die sozialen und kulturellen Strukturen hineinschaut, oft wirkt es tatsächlich eher dörflich und nicht wie die Metropole, die es eigentlich ist.«
Oft machen dörfliche Bedingungen freien Szenen aber zu schaffen: »Vor Umland und vor The Dorf gab es eigentlich keine Konzentrierung der freien Szene, keine Klammer, keine Definition – verglichen zum Beispiel mit Köln und der Stadtgarten-Szene oder Berlin. Eine erste richtig handfeste Definition der hier gemachten Musik passierte erst durch The Dorf und Umland.« Nichts anderes, als einen Boden zu bereiten, hieß es also für die Umland-Gründer – mit neuen Formaten, Bands oder der Kollaboration mit anderen Szenen. Wobei durch die Labelarbeit auch der Kontakt zu anderen Regionen möglich wurde – auch nach Österreich: Mit dem Label Boomslang Records aus Bezau entsteht heuer eine Kollaboration. Eine große Herausforderung bleibt es dennoch, die umländischen Sounds ins wirkliche Umland und darüber hinaus zu tragen.
Da passen die weiten und sphärischen Orgelklänge Valle Dörings gut ins Profil. Drone-Musik, wie er sie spielt – stehende Töne über lange Zeiten –, klingt zeitlos, international, gar nicht dörflich. »Nach den Konzerten haben mir Menschen gesagt, dass sie ihr Gehirn abschalten konnten, weil die Musik sie davongetragen hat. Auch Menschen, die sonst gar keinen Zugang zu experimenteller oder abstrakter Musik haben. Insofern ist meine Musik im besten Falle die Sinne erweiternd und sinnlich.« Unwirklich wie sinnlich soll die Musik wirken, über-rational und transzendental – unwahrscheinlich und damit umso reizvoller. »Dass unsere Realität, wie sie gerade ist, unterm Strich einfach nicht ausreicht, empfinden vermutlich viele Menschen im Moment. Meine Musik ist ein Plädoyer für das Unwahrscheinliche, das durch Hingabe und Liebe zum Leben erweckt und spürbar werden kann.«

Unwahrscheinliche Erfolge
Und wieder eine Tagline für Umland Records. Entgegen aller Wahrscheinlichkeit existierte das Label mit seinen physischen Releases nach Corona und Streaming-Boom nicht nur, sondern trug bis Ende 2023 sogar Früchte. Dann verschlechterte sich die Lage. Fans und Angehörige der freien Szene kennen die Leier: Das Verlangen nach physischen Tonträgern nahm noch stärker ab, Konzerte waren noch schwieriger zu organisieren und oft stehen die Menschen hinter kleinen Labels auch nicht ewig zusammen. Als einer der Umland-Begründer Ende 2024 ausstieg, war zwangsläufig ein Wandel gefragt. Jetzt soll alles schlanker werden, die Artists mehr in Verantwortung genommen werden, aber – so beteuern Florian Walter und Jan Klare – nicht im Sinne des allgegenwärtigen Entschlackungskapitalismus, »eher in einem sozialistischen Sinne, da wir auf diesem Weg auch die Kosten senken können und den ganzen Prozess viel ökonomischer und damit für alle gewinnbringender gestalten können.«
»Equal Wages« heißt ein Track auf Valle Dörings kosmischem Orgelalbum. Die verschwommene Stoßrichtung auch von anderen Titeln wie »Physical Truth« oder »Breathing The Same Air« weist auf jene Utopien, auf die wir uns alle einigen können, die leider aber nicht Realität geworden sind. Trotzdem wünschen wir sie uns – und spannenden Projekten wie den Umland Records. Ausdauernd sein, Banden bilden, bei Mark Fisher bleiben. Der sagte einst, dass der sture Rückbezug auf das noch nicht Erreichte eminent für den Widerstand in Kunst und Kultur bleibe. Also auf ins Weltall, in die Kirche der Cyborgs.