M. Geddes Gengras – »Hawaiki Tapes« © Umor Rex
M. Geddes Gengras – »Hawaiki Tapes« © Umor Rex

Grundrauschen #5

Zeit für Kassetten! Grundrauschen bespricht wieder die interessantesten Neuveröffentlichungen aus dem unergründlichen Äther der Tape-Szene. Diesmal mit Grandiositäten aus Hawaii, Deutschland und dem Nordosten der USA.

Toll, was sich alles tut, wenn man mal einen Moment lang nicht aufpasst. Ich bekomme dann öfter Post, von der ich wirklich überrascht bin, weil ich längst vergessen habe, was ich eigentlich bestellt habe. Tapes aus Hawaii zum Beispiel. Die kamen letztens an und riechen ziemlich streng nach verbrannter Erde. Aber auch sonst hat sich einiges getan. Labels wurden gegründet und Herzen im Gegenzug gebrochen. Zum Glück nicht meines, aber im Sinne der Kunst kann ich sagen, dass ich darüber äußerst erfreut bin. Nach wie vor ungebrochen deshalb der unsortierte Blick auf einige neue Veröffentlichungen aus der Kassettenszene.

Will Samson – »A Baleia« (dauw)
Floating ist ein wunderbares Wort. Zugegeben, es ist ein aus dem englischen Sprachgebrauch eingebürgertes. Aber auch seine deutsche Übersetzung, schweben, ist nicht minder hübsch und sorgt für gedankliches Abschweifen in karg bewirtschaftete Landschaften, in denen alles ein bisschen einfacher von der Hand geht. Floaten kann übrigens vieles, beispielsweise eine Währung. Sie schwankt hin und her, ohne sich jemals festzulegen. Aber davon haben wir leider wenig bis gar nichts. Interessanter ist da schon das freie Schweben in hochkonzentrierter Salzlacke. Der Körper treibt dann schwerelos an der Wasseroberfläche, abgeschottet von äußeren Reizen findet er mit minimalem Aufwand zu maximaler Entspannung. Will Samson hat das kürzlich ausprobiert und seine gesammelten Eindrücke zu einem Album verarbeitet. Wie sich das also anfühlt, wenn man freischwebend in luluwarmem Salzwasser treibt, kann man auf dem jetzt auf dauw veröffentlichten Album »A Baleia« gut nachempfinden. Im Vergleich zu seiner im letzten Jahr erschienen Platte »Welcome Oxygen« ist die neue nämlich ein fließendes Etwas – irgendwie geisterhaft schön, weil langsam und verhaucht und traurig. Ganz besonders traurig. Der Körper wird eins mit seiner Umwelt und verschwindet plötzlich ganz. Er löst sich auf, geht unter. Blubb, blubb, blubb! Den Bon-Iveresken Singsang hat sich Wilson übrigens vor lauter Salz in den Ohren selbst ausgetrieben. Sei’s drum. Solange er so wunderbare Musik wie auf »A Baleia« macht, darf er seine Stimme auch gerne mit engelsgleichen Chorälen verzieren.

YOR – »YOR THE FUTURE« (U-Bac)
Kassetten sind schon eine tolle Sache, denke ich mir, während ich mal wieder in die Tasten haue, um eine Kolumne darüber zu schreiben. Die sind so wunderbar unhandlich, sagen die Leute heute. Und sie klingen wirklich schön und irgendwie total nach früher. Voll Retro, Himmelherrgott, wir sind wirklich von allen guten Geistern verlassen. Aber bevor wir hier noch länger um den heißen Brei herumschwadronieren, sollten wir lieber einen heißen Blick auf ein neues Kassettenlabel aus Leipzig werfen. U-Bac nennt es sich – und weil Kassettenlabels generell eine großartige Sache sind, in ihrer Ausübung aber oft mit der unverhältnismäßigen Selbstausbeutung höchstpersönlicher Zeit- und Geldressourcen einhergehen, rufe ich in meiner weitreichenden Macht als weltbekannter Kassettenkolumnist dazu auf, dieses (und überhaupt alle anderen) Kassettenlabels großzügig zu unterstützen, notfalls auch mit einer nett gemeinten E-Mail. Von solch einer allein lassen sich zwar weder Bands noch Tapes bezahlen, aber sie ermuntern vielleicht, etwas weiterzuführen, was als Gegenöffentlichkeit belächelt und noch viel öfter ignoriert wird. Jetzt aber zurück zu U-Bac. Das Label ist neu, aus Leipzig und gleich mal mit einem großartigen, liebevoll gestalteten Doppel-Release nach vorne gestartet. Einer davon ist die Debutveröffentlichung der ebenfalls aus Leipzig stammenden Band YOR. Die klingen wie das ungeborene Kind von Lydia Lunch und Glenn Branca und irgendwie hat sich Arto Linday, der Schlingel, auch noch heimlich dazwischen gekuschelt. Unkonventionell karg und lärmend! Superb übrigens auch das The-Who-Cover von »I’m a Boy«! Da tut sich was und wir sind mit dabei. I like to chew chewing gum in the future!

M. Geddes Gengras – »Hawaiki Tapes« (Umor Rex)
Schön, endlich wieder was von Ged Gengras zu hören. Seit dem großartigen »Interior Architecture«, das 2016 erschien, war es nämlich ziemlich ruhig um den in Kalifornien unter Palmen lebenden Amerikaner geworden. Wer annimmt, dass dieser sich angesichts des großen, für ein Ambient-Album vielleicht sogar sehr großen, aber angesichts der insgesamten Verkaufszahlen sicher nicht zu unvorstellbarem Reichtum führenden Erfolgs seiner Vorgängerplatte nach Hawaii abgesetzt hat, der dürfte damit vielleicht gar nicht so falsch liegen. Jedenfalls, so hört man, habe der Arme das schwere Los gezogen, auf der großen Insel urlauben zu müssen. Es ist schon schlimm, zu sehen, wie schwer es das Schicksal mit manchen Menschen meint. Andererseits, und das möge man ihm an dieser Stelle zugutehalten, ist Gengras kein faules Tier. Während sich dort also die meisten Leute in der Sonne räkeln und von einem Vulkan zum nächsten gehelicoptert werden, sperren sich triebsame Gestalten wie Gengras in ihrem Hotelzimmer ein, um die heimlich im Koffer eingeschmuggelten Gerätschaften anzufeuern und schnell ein paar catchy Melodies reinzuhämmern. So entstand dieses Album – zugegebenermaßen im Schutz der Nacht – auf irgendeiner der drei Millionen Mikroinseln von Hawaii und sicherlich fernab von Sonne und Strand, tatsächlich in zehn Hotelsessions im Dunklen, während ihm nur die schwachen Lichtlein seiner Klangmaschinen Gesellschaft leisteten. Im Hintergrund glaubt man an manchen Stellen, auch wirklich das nächtliche Meer rauschen zu hören. Ganz so, als hielte man sich eine Muschel ans Ohr, pfeift es dann. Hui! In Wahrheit sind das aber nur deine Gedanken, die mal wieder verrücktspielen und zwischen all dem harmonischen Geklimpere dafür sorgen, dass du g a n z tief reingezogen wirst. Die »Hawaiki Tapes« pack ich mir für den nächsten Urlaub ein!

Uton – »Sax On, Sax Off« (Eiderdown Records)
Uton macht elektronische Musik, die das Rauschen des Bluts hörbar macht. Seine verschrobenen Spielereien verursachen Beklommenheit, die nichts mit den Grenzen des Raumes zu tun hat. Sie lösen etwas Ureigenes, tief im Körper des Menschen Verankertes aus, das sich über die Jahrtausende angestaut hat und jetzt endlich raus muss. Vielleicht ist es ganz einfach der Drang nach Abgeschiedenheit, nach einer gewissen solipsistischen Leere bei gleichzeitiger Weite. Es ist doch nämlich so, dass sich der Mensch heute einiges einfallen lässt, wenn es darum geht, authentisch zu wirken. Auf Dauer macht dieses industriell klingende, schroff abweisende Mischmasch-Psychedelikum aber völlig gaga in der Birne. Darum hat sich Uton mit Janne Martinkauppi noch einen Saxophon spielenden Seelenverwandten dazugeholt, der eifrig Luft durch den gekrümmten Entenhals bläst und seine eigenen Verstörtheiten artistisch begleitet. Begleiten ist übrigens ein schöner Euphemismus für die absolute Steigerung einer totalen Verstörung. Synths und Saxophon nähern sich immer wieder an, verbinden sich in manchen Momenten gar unheimlich zu einer unkontrollierbaren Masse, um, wie Uton selbst schreibt, eine neue mentale Exotik zu vertonen. »Sax on, Sax off!« Aber richtig!

Anne Malin – »AM« (s/r)
Schöne Stimmen wollen gehört werden. Gerne auch öfter. Wenn es dann noch dazu ganz wunderbar im Hintergrund zu rauschen beginnt, wird das ziemlich sicher eine ziemlich gute Sache. Anne Malin Ringwalt und Will Johnson bringen alles mit, was für flauschige Nähe und heimelige Geborgenheit sorgt. Intim wird es auf dem – endlich – auf Kassette erschienenen Album »AM« also auf jeden Fall. Das hängt einerseits damit zusammen, dass Malin mit einer ausgesprochen charismatischen, einen richtiggehend in den Arm nehmenden Stimme gesegnet ist, und andererseits an der völlig auf ihre Zurücknahme bedachten Begleitung. Denn Johnson ist kein dilettantischer Selbstdarsteller. Er weiß ganz genau, wohin er in diesem Duo gehört. Ausschweifende Gitarrensoli gibt es dementsprechend keine zu hören. Wie gesagt, alles sehr zurückgenommen und gerade deshalb auch so ansprechend, weil verrucht und deshalb toll! Rauschen tut es derweil wie neben einem Wasserfall. Sentimentalität macht sich breit. Angesichts der Umstände ist das aber keine Überraschung. »AM« erinnert phasenweise an das Traurige im Traurigen, den portugiesischen Fado, angereichert mit der übersteuerten Weite des amerikanischen Nordostens und einer latenten Popausrichtung. Lagerfeuer-Gitarren-Folk, ohne Glitzer! Tieftraurig, und doch so schön.

»Grundrauschen« im Radio
»Grundrauschen« ist nicht nur der Name dieser Kolumne, sondern auch ein Gefühl, das sich in und mit Musik beschreiben lässt. Auf Radio Orange 94.0 wird jeden dritten Dienstag im Monat ab 21:00 Uhr genau diesem Gefühl nachgespürt – mit interessanten KünstlerInnen und experimenteller Musik, die sich dem Mainstream weitläufig entzieht. Je größer die Verstärkung, umso deutlicher das Grundrauschen.

Link: https://o94.at/radio/sendereihe/grundrauschen/

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