Wohnsitz von Anna und Adolf Markus in der Schubertstraße 35 in Linz, über den der Schriftsteller Erich Wimmer einen Text verfasste © Judith Wimmer
Wohnsitz von Anna und Adolf Markus in der Schubertstraße 35 in Linz, über den der Schriftsteller Erich Wimmer einen Text verfasste © Judith Wimmer

»Wenn einem alles genommen wird, was dann?«

Das Leo Baeck Institut veröffentlicht eine Sammlung seiner »Stolpertexte« bei Hentrich & Hentrich. Diese schöpfen aus dem größten Archiv deutsch-jüdischer Kulturgeschichte und geben Eindruck in die Schicksale bekannter und weniger bekannter Menschen. Wir sprachen mit Herausgeberin Miriam Bistrovic.

Der quer durch die Gesellschaft grassierende Antisemitismus wird immer unverhohlener und die Generation der Überlebenden der Shoah, deren Dasein allein bereits als Zeugnis galt, dessen Autorität kaum bestritten wurde, wird immer kleiner. Wie nun also umgehen mit der neuen Herausforderung, jungen Menschen von dem zu berichten, das nicht zu beschreiben ist? Ein Weg ist der über die Biografie. Das Leo Baeck Institut ist die wohl wichtigste Einrichtung, die sich mit dem Erbe der deutsch-jüdischen Geschichte befasst und aus ihren Archiven unter anderem genau daran arbeitet. Dies geschieht über Projekte wie die mit dem Grimme-Preis ausgezeichnete Website und Ausstellung »Library of Lost Books« oder die Podcast-Reihe »Exil« unter dem Motto »Wenn einem alles genommen wird, was dann?«, die im Deutschen von Iris Berben und in der englischen Version von Schauspieler Mandy Patinkin (»The Princess Bride«, »Homeland«) gesprochen wird. Oder eben über die »Stolpertexte«, deren Geschichten thematisch nahe an denen des genannten Podcasts angesiedelt sind. Das sind kurze literarische Texte, die in zum Teil kleinen regionalen Zeitungen veröffentlicht wurden und nun als Buch bei Hentrich & Hentrich erschienen sind. Autor*innen sind unter anderem Victor Sattler, Juli Zeh oder Karosh Taha.

skug: Was ist das »Stolpertexte«-Projekt und in welchem Zusammenhang steht es zum Leo Baeck Institut?

Miriam Bistrovic: Die »Stolpertexte« sind ein literarisches Projekt des Leo Baeck Institute New York | Berlin, bei dem deutschsprachige Literaturschaffende dazu aufgefordert wurden, sich mit Archivbeständen des Instituts, seien es Familiensammlungen, persönliche Nachlässe oder Gemeindeunterlagen, zu befassen und basierend auf dieser Beschäftigung eigene Texte zu verfassen. Die einzige einschränkende Vorgabe war, dass es sich um kurze Beiträge handeln sollte, um diese im Anschluss in Regionalzeitungen zu veröffentlichen, an den Orten, in denen die Schreibenden und die von ihnen porträtierten Personen lebten oder wirkten.                                                                                        

Wann kam die Idee dazu?

Die Grundidee zu dem »Stolpertexte«-Projekt war im Leo Baeck Institute New York | Berlin schon vor einigen Jahren aufgekommen, denn als Archiv sind wir stets auf der Suche nach neuen Wegen, unsere Bestände und die darin enthaltenen Lebensgeschichten einem breiteren Publikum näherzubringen. Die Bewahrung und Vermittlung von deutsch-jüdischer Geschichte, Kultur und Alltagserfahrungen gehören zum Gründungsauftrag des Instituts, seit dieses 1955 von deutschsprachigen jüdischen Emigrierten ins Leben gerufen wurde, um das zu retten, was nach dem Nationalsozialismus vom einst so vielfältigen und vielstimmigen Judentum in Mitteleuropa übriggeblieben war. Aus diesem Grund öffnete das Leo Baeck Institute New York | Berlin schon früh seine Bestände für Forschende. Aus der Wissenschaft und akademischen Diskursen ist das Institut und sein Archiv in New York sowie dessen seit 2001 existierende Archiv-Dependance am Jüdischen Museum Berlin kaum wegzudenken. 

Wissenschaftler*innen sind nicht immer gut in Öffentlichkeitsarbeit …

Es zeigte sich über die Jahrzehnte, dass der Austausch zwischen Forschung und breiterer Öffentlichkeit nur in den seltensten Fällen intensiv erfolgte. Hinzu kommt der bevorstehende generationelle Wandel, der mit dem Verstummen der letzten Zeitzeuginnen und Zeitzeugen einhergeht und Archive wie das unsere vor die Herausforderung stellt, unsere Vermittlungsarbeit zu überdenken, um die bei uns seit Jahrzehnten sicher konservierten Lebensgeschichten und -erfahrungen vor dem Vergessen zu bewahren. Das Projekt war daher eine ungewöhnliche Möglichkeit, unsere eigene Komfortzone zu verlassen und die Archivboxen nicht nur für Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zur historischen Aufarbeitung und akademischen Forschung zu öffnen, sondern den Versuch zu wagen, Literaturschaffende einzuladen, sich mit diesen vielfältigen und oftmals kaum beachteten Biografien auseinanderzusetzen.

Sind die Texte so, wie ihr euch das erhofft hattet?

Das Ergebnis hat uns selbst überrascht, in mehrerlei Hinsicht. Die entstandenen Texte zeichneten sich durch eine ungewöhnliche Vielstimmigkeit und Multiperspektivität aus, die sowohl in der Heterogenität ihrer Verfassenden, deren unterschiedlichen biografischen und generationellen Hintergründen als auch deren individueller Herangehensweise begründet war. Zugleich offenbaren die »Stolpertexte« sehr deutlich die überaus feinfühlige Annäherung der Autorinnen und Autoren, die den Porträtierten stehts mit Respekt, Empathie und auf Augenhöhe begegneten, was uns darin bestärkte, mit diesem Projekt den richtigen Weg beschritten zu haben, um die sorgsam behüteten Archivalien in einem würdigen Rahmen einem größeren Publikum vertrauter zu machen. 

Victor Sattler schrieb über den Wiener Architekten Leo Hochner … © Leo Baeck Institute New York | Berlin

Der Name »Stolpertexte« lässt unweigerlich an die von Gunter Demnig ins Leben gerufene Verlegung der Stolpersteine denken. Was haben diese beiden Projekte gemeinsam?

Es war von Anfang an klar, dass wir einen biografischen Ansatz verfolgen wollten, der einen persönlichen, mitunter sogar intimen Zugang zu Geschichte und Vergangenheit bietet und weder die Literaturschaffenden noch ihre Lesenden unberührt lassen würde. 

Wie waren die Rückmeldungen der Autor*innen?

Im Gespräch mit den Autorinnen und Autoren zeigte sich rasch ein großes Interesse an lokalen Biografien, deren geografische Nähe und sichtbare Spuren im Alltag die zeitliche Distanz überbrückten. Je mehr sie sich mit Archivalien, Dokumenten, Briefen, Tagebüchern oder Fotografien aus unseren Beständen befassten, desto häufiger berichteten sie von einem Innehalten beim Anblick alltäglicher Umgebungselemente, seien es Straßenschilder oder charakteristische Gebäude. Oftmals waren es gar nicht die bekannten Wahrzeichen eines Ortes, sondern die kleinen, unscheinbaren Dinge, die die Gedanken wandern und Fragmente des Gelesenen und Gefundenen aufblitzen ließen und damit die Grenze zwischen Vergangenem und Gegenwärtigem überschritten. 

Profane Alltagsgegenstände werden quasi zu Mahnmalen.

Die Berichte von einem regelrechten Stolpern im Alltag weckten sofort die Assoziation zu den Stolpersteinen, die in vielen Städten Europas ebenfalls die Routine der Vorbeigehenden unterbrechen und zum Verweilen auffordern, um die Namen der ehemaligen Anwohnenden zu lesen, die im Nationalsozialismus verfolgt und oftmals ermordet wurden, und dabei en passant das Interesse an ihrer Geschichte zu wecken. 

Es verbindet die beiden Projekte also eine Beziehung mit dem Ort.

Die Stolpersteine sind durch die Natur ihrer Beschaffenheit eng mit dem Ort ihrer Verlegung verknüpft. Wegen ihres Formats und ihrer Entstehungsgeschichte können sie als Inbegriff von urbanen Grassroots-Bewegungen, privaten Initiativen zur Erforschung lokaler Geschichte(n), gewertet werden. Häufig von Anwohnenden initiiert und ohne staatliche Unterstützung umgesetzt, sind die Stolpersteine ein sehr persönlicher und individueller Zugang zu Geschichte, denn sie sind immer an Personen gebunden, jeder Stolperstein verweist auf eine einzelne Biografie. Aufgrund dieser Ähnlichkeit in der Herangehensweise bot sich der von Matthias Pfeffer vorgeschlagene Name »Stolpertexte« fast schon zwangsläufig an und wurde als solcher auch mit Gunter Demnig abgesprochen, ehe er sich innerhalb des Projekts und bei den Literaturschaffenden etablierte.

… und seinen Freund, den Wiener Arzt Robert Bachrach © Trude Geiringer, Leo Baeck Institute New York | Berlin

Im Buch finden sich auch drei Beiträge zu Personen aus Österreich. Gibt es etwas, in dem sich die Schicksale der Menschen verschiedener Herkunft unterscheiden? 

Der Unterschied zwischen den in Österreich oder Deutschland verorteten Biografien ist weniger geographisch als vielmehr im unterschiedlichen Erfahrungshorizont zu verorten. Zum Zeitpunkt des »Anschlusses« im März 1938 hatten österreichische Jüdinnen und Juden den schleichenden Prozess der Entrechtung, der sich in Deutschland ereignete, bereits eingehend beobachten können. Zwar hätten sich die wenigsten das Ausmaß, die Vehemenz und die erniedrigenden Gewaltkaskaden von Passanten und Nachbarn vorstellen können, mit der diese neue Realität quasi über Nacht über das österreichische Judentum hereinbrach, doch zugleich zerstörte es auch die Illusion, dass es sich dabei nur um eine vorübergehende Phase handeln könnte, die sich mit Resilienz und Durchhaltevermögen überstehen ließe. Viele entschieden sich somit frühzeitig zur Ausreise und versuchten, dem Zugriff der Nationalsozialisten und ihrer im vorauseilenden Gehorsam agierenden Kollaborateure zu entkommen. 

Wie viele waren das?

Tatsächlich gelang mehr als der Hälfte jener Österreicherinnen und Österreicher, die von den Nazis als »jüdisch« verfolgt wurden, die Auswanderung. Spätestens nach dem 9. November 1938 war jedoch für alle Jüdinnen und Juden in Deutschland, Österreich und anderen annektierten Bereichen Europas offensichtlich, dass es keinen Weg zurück gab und die einzige Rettung die Flucht war – sofern sie noch rechtzeitig gelang.

Und werden bestimmte Gesellschaftsschichten besser als andere in den Archiven abgebildet?

Es liegt in der Natur von Archiven, dass uns vor allem über die Leben derjenigen, die selbst darüber berichten konnten, mehr bekannt ist. Historisch betrachtet besaß nur ein kleiner Teil der Gesellschaft die Muße und Kenntnisse, seine oder ihre Biografie zu verfassen oder Gedanken zu verschriftlichen. Dies änderte sich erst seit der Aufklärung, als die Alphabetisierungsraten stiegen und Verbrauchsmaterialien wie Papier und Tinte auch für Angehörige einkommensschwächerer gesellschaftlicher Schichten erschwinglich wurden. Trotzdem sind auch in diesen Fällen nur selten umfangreiche Ego-Dokumente wie Tagebücher oder Manuskripte erhalten geblieben. 

Bei den »Stolpertexten« waren es nicht unbedingt nur Texte, die Grundlage für die Geschichten waren, richtig?

Genau. Das »Stolpertexte«-Projekt führt eindrücklich vor Augen, dass es nicht unbedingt umfangreicher Schriftstücke bedarf, um ein vergangenes Leben in seinem Facettenreichtum und teilweise auch seiner Widersprüchlichkeit näherzubringen. Mitunter genügten winzige Fragmente, Fotos, erhaltene Kunstwerke oder fragile Blütenblätter als Ausgangspunkte, anhand derer sich berührende Einblicke in Biografien und Lebensgeschichten gewähren ließen, die am Ort ihres Wirkens inzwischen längst vergessen waren. 

Die versammelten Texte sind nur eine Auswahl der bereits erschienenen Porträts. Wie geht es weiter mit den »Stolpertexten«?

Dazu kann ich eigentlich nur eines sagen: Lassen Sie sich überraschen! Denn es wird definitiv mit den »Stolpertexten« weitergehen. Für 2025 haben wir schon einige spannende Ideen, die ich ungerne vorab verraten möchte. Nur so viel, wir freuen uns auf den engen Austausch mit weiteren Autorinnen und Autoren, es wird Lesungen der bereits veröffentlichten Texte geben und auch beim Medium selbst werden mithilfe des MDR ab dem Frühjahr neue und ungewöhnliche Wege beschritten. Es lohnt sich also, die Augen und Ohren offenzuhalten. 

Leo Baeck Institute New York | Berlin (Hg.): »Stolpertexte. Literatur gegen das Vergessen«, Hentrich & Hentrich, 2024, 166 Seiten, € 19,00.

Link: https://www.hentrichhentrich.de/buch-stolpertexte.html 

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