Siegfried Kracauer ist vielen als Film- und Kulturwissenschaftler bekannt. Drehli Robnik stellt in seinem 2024 erschienenen Buch »Flexibler Faschismus. Siegfried Kracauers Analysen rechter Mobilisierungen damals und heute« den politischen Denker Kracauer in den Mittelpunkt. Am 6. Februar 2025 um 18:00 Uhr findet in der Stadtbibliothek St. Pölten eine Buchpräsentation mit dem Autor sowie den Diskutantinnen Renée Winter und Martina Luef statt. skug sprach im Vorfeld mit Drehli Robnik ausführlich über gegenwartspolitische Aktualitäten von Kracauers Faschismus-Analysen, über das medial so gerne vermiedene F-Wort und darüber, dass kritische Menschen und Medien trotz trister politischer Lage nicht den Mut verlieren sollten, denn: »Ein Sprachrohr für Wahrheiten zu sein, das nimmt dir nichts an Menschlichkeit – im Gegenteil, das macht dich menschlich.«
skug: Siegfried Kracauer kennen viele in erster Linie als Film- und Kulturwissenschaftler. Du machst den politischen Denker Kracauer stark, der uns mit seinen Analysen zum Faschismus, besonders zum Nationalsozialismus, gerade heute viel zu sagen hat. Wann bzw. wie rückte für dich – der du dich ja auch schon lange intensiv mit Film, Kultur, Geschichte und Politik auseinandersetzt – diese Seite Kracauers in den Fokus?
Drehli Robnik: Ich bin erst spät, mit Anfang Dreißig, auf Kracauer gestoßen, und da zunächst auf ihn als Filmtheoretiker, im Kontext der damals boomenden Gedächtnis-Diskurse. Aber ich hätte schon sehr borniert sein müssen, um über seine Zeitungsessays aus der Weimarer Republik, sein Buch »From Caligari To Hitler« – in dem er Film als Symptomverdichtung von Faschisierungsprozessen liest –, seine Angestellten-Soziologie oder sein Buch »History«, um über all das nicht auf einen politisch denkenden und argumentierenden Autor zu stoßen. Allerdings: Den politischen Kracauer völlig zu marginalisieren, zugunsten eines literaturwissenschaftlichen Fokus, der Kracauer zum Vordenker der Aufmerksamkeit auf Alltagskulturen der kleinen Dinge stilisiert – das ist ein ideologisches Erfolgsprojekt des bürgerlich-elitistischen, geschmackssicheren Wissenschaftsbetriebs, zumindest in deutschsprachigen akademischen Milieus.
Du stehst Definitionen mit Merkmallisten, die einen Begriff wie den des Faschismus am liebsten ein für allemal festlegen wollen (mit Blick auf Umberto Eco und Anton Pelinka), skeptisch gegenüber. In Bezug auf den Titel deines Buches schreibst du: »Faschismus ist beweglich. Nicht nur als Bewegung, nicht nur aufgrund des Stellenwerts von Mobilität in seinen Propaganda- und Machttechniken … sondern auch in zeitlicher Hinsicht bleibt Faschismus nicht an seinem Ort in der Geschichte. Er kommt ins Heute.« Und da breitet er sich aus – wenn auch nicht zwangsläufig und nicht unaufhaltsam, oder?
Das Problem betrifft zunächst, dass »Faschismus« unweigerlich auch ein politischer Signifikant, ein politischer Name im starken Sinn ist, der etwas aufruft, auch Leute aufruft. Und dass mitunter versucht wird, diese Dimension des politischen Benennens, die dem F-Wort eben stets auch anhaftet, gänzlich zu entsorgen bzw. in einem wissenschaftlichen Etikettieren aufzulösen. Ohne sich darüber Rechenschaft abzulegen, dass die affektiven, auch moralischen Aspekte, die der Rede vom Faschismus anhaften, nicht einfach nur ein Defekt gegenüber einem sauberen Sortieren sind, sondern part of the game. (Ui, das klingt jetzt nach einem Wort von Uwe Scheuch aus dem Kärntner BZÖ, Haiders FPÖ-Abspaltung …) Nicht unaufhaltsam, dazu nur so viel: Wenn da heute etwas »wiederkommt«, das faschistische Züge trägt, dann müssen wir uns klar sein, dass das Wiederkommen, der Vergleich, die Analogisierung, dass das symbolische Operationen sind, durch die wir uns in der Geschichte und in politischen Belangen orientieren. Was natürlich nicht heißen soll, dass wir uns das nur ausdenken, quasi, und dass gar nichts wieder oder weiter oder ähnlich geschieht. Jedenfalls sehe ich nicht eine Art Verhängniskontinuum bürgerlicher Herrschaft, die von griechischen Eroberern bis heute bzw. bis zu den modernen Massengesellschaften und den Formen, sie zu administrieren, reicht, wo es dann bei Horkheimer und Adorno um 1940 Tendenzen gibt, das über einen Kamm zu scheren, sogar auch den New Deal von Roosevelt in den USA mit den europäischen Faschismen nahezu gleichzusetzen.
»Flexibler Faschismus« erschien im Frühling 2024, also noch vor all den Wahlen, aus denen rechte bzw. rechtsextreme Parteien und Kandidaten erstplatziert oder mit bedenklichem Stimmenzuwachs hervorgingen. Was du an mehreren Stellen des Buches klar und weitsichtig in Erwägung ziehen musstest, ist mittlerweile tatsächlich eingetroffen: »eine drohende zweite Trump(ismus)-Präsidentschaft in den USA«; und scheint bald Realität zu werden: »eine dritte Koalition mit der antidemokratischen FPÖ, die deren ›konservativen Adepten‹, der ÖVP, nach 2000 und 2017 auch heute Regierungsmacht sichern soll … Fälle von Wiederholungen ohne lernenden Reflexionszuwachs; größer wird nur die diskrete Schamlosigkeit der Bourgeoisie«. Würdest du das Buch jetzt gerade fertig schreiben, müsstest du entsprechende gegenwartspolitische Passagen kaum aktualisieren, oder? Wie siehst du das?
Ich würde heute das Wort »Disruption« häufiger verwenden und als Konzept stärker ausbauen, weil dieses Institutionen zerstörende, teils auch anti-staatliche Moment an den rechten Mobilisierungen sich seitdem verdichtet hat, in Trump 2 oder bei Milei mit seiner Motorsäge. Andere wieder sagen »Der Staat muss seine Hausaufgaben machen« (soll heißen: »bevor wir auch nur daran denken, gigantische Vermögen, deren Vererbung und Stiftungen zu besteuern«). Anti-Etatismus, das meine ich jetzt nicht im Sinn von »Wir müssen alle total loyal zum jeweiligen Verwaltungsstaat stehen, und Anarchismus ist ein Übel«, nein – eher in dem Sinn von Hannah Arendt, die (nicht als einzige) betont, dass der Nationalsozialismus keinen Staat etabliert, sondern ein gezielt chaotisches, desorganisiertes Herrschaftsgeflecht – mit extrem destruktiven Energien und Effekten. Die Angriffe auf Sozialstaatlichkeit, auch auf Bildungsinstitutionen, auf staatlich mitgetragene Aufklärungsprozesse, das hat sich noch verschärft seit 2022, als ich das Buch geschrieben habe (mit viel Wartezeit, Kleinzeug, Admin, bis es dann im Dezember 2023 gedruckt vorlag). Und ich würde heute das rechte Hijacking der christlichen Religiosität genauer betrachten, sowohl im Kontext von Kracauer – bei dem in seiner Kritik an gesellschaftlichen Formbildungen, die sich zur Vollständigkeit und Ganzheit auswachsen, oft auch seine theologischen Anfänge nachhallen – als auch vor dem Hintergrund, wie Kickl heute katholische Folklore anzapft. Wohl auch in einer Opposition zu den christlich-humanitär orientierten Milieus, die in Österreich einiges an Arbeit für und mit Refugees tragen: denen ihre Worte, ihr Pathos streitig machen, es für die völkischen und schwurblerischen Opfermythen kapern und so dessen menschliche Aspekte ruinieren. Ich werde in meinem nächsten Buch, an dem ich grad arbeite, über »Vorletzte Wahrheiten in der Politik«, auch darauf, auf diese Wahrheits-Zerstörungs-Operationen der FPÖ-Propaganda, eingehen.
Leider handelt es sich nicht um eine self-frustrating prophecy, die Schlimmes vorhersagt, jedoch mit dem Bewusstmachen auch zu positiven Veränderungen beiträgt, sodass das Übel nicht (so schlimm) eintritt. Aber es hätte freilich auch anders kommen können und könnte wieder anders – besser – werden. Du verweist da auf Kracauers Geschichtsverständnis, das stets Kontingenz hervorhebt, weder »vorgegebene Entwicklungsverläufe noch retrospektive Prophetik« behauptet. Kracauer kritisierte »Posen des unbeirrbaren Bescheidwissens«; auch mit Blick auf die von dir zuvor erwähnten Horkheimer und Adorno, mit denen er ja zu tun hatte. Er wurde aber nie zum inner circle der Frankfurter Schule gezählt. Solche »Posen« seitens Polit-Expert*innen sind uns ja heute auch nicht fremd. Ich habe den Eindruck, der Vorrang der Prognostik lenkt allzu oft die Aufmerksamkeit ab vom Denken (widerständiger) Alternativen.
Das mit der self-frustrating prophecy ist super. Es ist nicht von Kracauer, aber er bringt es in seinem Buch »History«: Wenn Marx voraussagt, dass der Kapitalismus zu Massenverelendung führen wird, dann ist das vielfach nicht eingetreten, weshalb die Oberg’scheiten und antisozialistischen Stimmen dann gleich spotten, was für ein irriger Prophet Marx doch war. Da wird aber verkannt, dass – Kracauer führt das kurz aus – Marx’ Aussagen in diese Richtung, im Kontext seiner Politik, Philosophie und Analytik genommen, eben performativ sind, weil sie Kräfte (Klassenkampf-Organisationen, Gewerkschaften) mit inspirieren, die bewirken, dass das Vorausgesagte nicht oder nicht so arg eintritt (nicht in den Industriestaaten, nicht für ein organisiertes Industrieproletariat, wo die weiblich gegenderte Sorgearbeit unbezahlt bleibt). Heute will das Kapital, wollen die neofeudalen Oligarchen-Regimes wieder, dass die Voraussage eintritt (wollen Steuern, Umverteilung, Sozialhilfen weghaben). Zu Prognostik und Alternativen nur so viel: Beim Faschismus ist vielen Leuten das regelrechte Drama seines Kommens, gewisse historische Eckdaten rund um Mussolini und v. a. Hitler ja geläufig. Und das erscheint dann bisweilen als Blueprint oder Referenz für die heutige Zeit-Dramaturgie. Wobei aber die dankbare Dramatisierbarkeit beinhaltet, dass man so leicht davon redet, wie Hitler die Demokratie zu deren Abschaffung missbraucht hat – und vergisst, dass in Deutschland schon drei Jahre vor Hitler rechte Kanzlerdiktaturen am Parlament vorbei regiert haben, dass die NSDAP nur eine von mehreren antisemitischen militarisierten Rechtsparteien war, dass also nicht ein Idyll namens »Demokratie« durch ein paar Wahlgänge oder gar plötzlich in den Faschismus kippt. Erstens: Es brauchte damals wie heute bürgerliche Rechtsparteien mit autoritär-antidemokratischen Zügen, um der völkisch-disruptiven Rechten per Koalition zur Herrschaft zu verhelfen. Zweitens, das ist wieder Kracauer, ist die bürgerliche Gesellschaft schon in den Jahren vor Hitler zunehmend brutalisiert, der Kapitalismus enthemmt, der Konkurrenzkampf, die Verachtung der Schwachen, die unterwürfige »Erfolgsanbeterei« … Das sind Kräfte und Habitus (Wilhelm Heitmeyer schrieb um 2018 von der »rohen Bürgerlichkeit«), die gleichsam darauf warten, politisch gebündelt zu werden.

Am 24. Jänner 2025 wurde der Rechtsextremismusbericht des DÖW präsentiert. Auf 196 Seiten wird die FPÖ 231 Mal erwähnt. Was mich aber immer wieder aufregt, ist, wie man sich selbst in (prinzipiell ja guten) Ö1-Journalen davor drückt, Aussagen und Positionen als »rassistisch« oder »rechtsextrem« zu markieren. Da werden z. B. O-Töne, in denen von »Remigration« und »Bevölkerungsaustausch« die Rede ist, ohne weitere Erläuterungen gebracht. Du sprichst klar an, wie das »Wahlmotiv Rassismus« den Rechts-Wähler*innen im Expert*innendiskurs regelrecht abgesprochen wird. Und du diskutierst, wie die selbsternannte politische »Mitte« danach trachtet, nicht nur sich selbst, sondern auch ihre – potenziellen – Koalitionspartner von entsprechenden Zuschreibungen fernzuhalten. Dem »So sind wir nicht« folgt das »So sind die nicht«, »weil wir uns mit ihnen einlassen dürfen sollen«. Ist das eher eine jüngere Folge der Kurz’schen Message Control oder eh schon langfristig eingeübt – analog dem Vermeiden, den Austrofaschismus als einen solchen zu benennen?
Je stärker diese Parteien werden, desto weniger markiert der Mainstream-Diskurs (für mich ganz markant in gegenwärtigen ORF-Fernseh-News) deren Extremismus. Über die FPÖ wird im ORF fast nur noch nach ablauftechnischen Gesichtspunkten gesprochen. Eine ganz normale Partei – mit zahllosen Neonazi-Skandalen und Rechtsextremismus-Verbindungen. In Sachen Austrofaschismus: Sicher, da fehlen der Massenmobilisierungsaspekt, das »innovative«, disruptive Moment, die Einsetzung neuer Eliten, die den Faschismus von einer reaktionär-autoritären Herrschaft im engeren Sinn unterscheiden. Interessant sicher, darauf hinzuweisen, wie das Dollfuß-Schuschnigg-Regime bei seiner Faschisierung scheitert, wie es anderseits die Kirche inthronisiert, sich auf K.u.K-Traditionen beruft … aber: Wenn das einer Exkulpation der Christlichsozialen, der Vorgänger-Organisationen der ÖVP dient, dass die ÖVP dann sagen kann, jaja, genau, wir haben immer gesagt, wir haben mit diesen bösen F-Dingen nix zu tun, dann lieber schon auch auf den Gebrauch des politisierten Namens Faschismus – also eben Austrofaschismus – beharren, um die »Parlaments-Ausschaltung« (wie’s heute heißt, wieder nur ein technischer Ausdruck, wen juckt das, wem vermittelt das etwas im Kontext von demokratischem, anti-herrschaftlichem Sinn?) und deren Agenturen weiter zu delegitimieren und zu diskreditieren.
Du hältst es ja auch mit Laurie Penny und ihrer an die allzu vorsichtigen, um »Nüchternheit« und »objektive Distanz« bemühten Stimmen gerichtete Frage: »When the real fascists show up, will you be ready?« (in »Sexual Revolution: Modern Fascism and The Feminist Fightback«). Quasi Pennys »Alerta Antifascista«-Weckruf.
Der Ruf ist nicht ganz mein Geschmack, aber das sagt nicht viel bzw. sagt es mehr über mich (Schöngeist) oder über Geschmack, wo es doch um Kollektive geht, die in öffentlichen Räumen sich so oder so bekunden. Wo es darum geht, wie das funktioniert, und dass das seine eigene Massen-Intelligenz, auch Erkenntnisfunktion hat. Traditionen sind da auch wirksam – nicht per se automatisch immer super, aber sie sind eine nicht zu unterschätzende Kraft. Laurie Penny verspottet ja sehr treffend jene, die sagen, mit dem F-Wort und mit Antifa-Maßnahmen muss man warten, bis die real fascists da sind, da darf man nicht voreilig etwas benennen und bekämpfen, das ja gar nicht so schlimm ist. Auch hier eine Verwechslung von Politik mit Garantien gesicherter Erkenntnis. Und eine performative Handlung, denn das Beharren auf Zuwarten, nur nicht zu früh vehement gegen Faschisierung aufzutreten, sendet ja auch ein Signal, nämlich in der Art von »Ihr könnt ruhig machen, kaum jemand wird euch stören«.
Jetzt sind es 25 Jahre, dass die ersten Demos gegen Schwarz-Blau I stattgefunden haben. Wenn ich mich richtig erinnere, wurde schon damals der treffende Slogan skandiert: »Was bedeutet Schwarz und Blau? Rassismus und Sozialabbau!« Aktuell ist sich in Wirtschaftsprogrammen niemand so einig wie die Türkis-Schwarzen in Industriellenvereinigung und »WKOligarchie« (wie ich sie bezeichne) sowie die F-nahen Horte (oder sollen wir sie »Festungen« nennen?) des Neoliberalismus Austrian Economics Center und F. A. v. Hayek Institut (Leiterin: Barbara Kolm). Die ersehnte wirtschaftliche »Entfesselung« geht Hand in Hand mit der politischen – beide Stoßrichtungen antidemokratisch. Hierzulande, in Europa wie in den USA. Auch dazu gibt’s bei Kracauer etliche Anknüpfungspunkte, basierend auf dem, was er auch in den USA erlebt hat. Du erwähnst u. a., wie er 1946 festhielt, dass in der US-Gesellschaft »demokratische Formen und fuel for fascism« ineinander übergehen.
Was damit nicht zuletzt angesprochen ist, sind Beziehungen zwischen Faschismus und gesellschaftlichen Klassen: wie die militarisierte Rechte Protest gegen ungleiche Reichtumsverteilung, gegen Zumutungen der ökonomischen Rationalisierung kooptiert und umformuliert; wie sie kleinbürgerliche Ressentiments pflegt und moduliert, die Ängste vor Abstieg, vor dem Verlust des Gefühls, »jemand zu sein«. Und dann ist da das, was Kracauer das »ideologisch stumme Großkapital« genannt hat, nämlich ein Profitkalkül, ein Kalkül in Bezug auf Regulierungen, die wegfallen sollen – und wenn die relevanten Kapitalakteure (meist männliche) das Gefühl haben, dass die militarisierte Rechte, dass ein Faschisierungsprojekt ihren Interessen besser dient als konservative oder neoliberale Agitation im parlamentarischen Rahmen, dann … bekommt die Industriellenvereinigung den Volkskanzler, dessen völkisch-autoritäre Ambitionen ihr vermutlich kein Herzensanliegen sind, aber dessen Regime garantiert, dass die sozialstaatlichen Elemente und Verteilungsmechanismen weitestmöglich zurückgefahren werden. Dass das Kapital Verteilungs- und Aneignungskämpfe härter führen kann. Da wäre dann auch von den massiven Bemühungen und leider großen Erfolgen des Anti-Bablerismus zu sprechen (auch etwas, was in meinem Buch über »Vorletzte Wahrheiten« auftauchen wird).
Tocotronic ließen sich in ihrem aktuellen Song »Denn sie wissen, was sie tun« von Kurt Tucholskys Gedicht »Rosen auf den Weg gestreut« (1931) inspirieren. Sein »Küsst die Faschisten, wo ihr sie trefft« wird zu »Wenn wir sie auf die Münder küssen, machen wir sie schneller kalt«. Kennst du oder könntest du dir einen (diskurs-)poppigen Einfluss Kracauers vorstellen?
Vorstellen, wünschen … ja, warum nicht? Aber da müssten einerseits die Kracauer-Missverständnisse aufgelöst werden – seine Missdeutung als Kultur-Denker etwa; auch das Missverständnis, dass viele bei seiner prominentesten Wortprägung »Massenornament« reflexartig sofort an SA-Kolonnen-Geometrien in Leni Riefenstahls NSDAP-Parteitagsfilm »Triumph des Willens« denken. Wo doch Masse und ihre Ornamente, ihre Formbildungen, soviel an Unbestimmtem, nicht Vorgesehenem an sich haben, soviel Kaleidoskopie, soviel an Exodus aus festgefügten Identitäten … Und anderseits müssten Pop und Politik wieder innigere Fühlung miteinander aufnehmen (wenn ich mir was wünschen dürfte).
Am Ende deines Buches führst du nochmals fünf Ideen an, die es zurückzugewinnen, zu verteidigen und zu verwirklichen gilt: Solidarität, Radikalität, Kritik, Vernunft, Menschlichkeit. Möchtest du vielleicht diesbezüglich noch etwas sagen, erläutern, Mut machen?
Ja, zurückzugewinnen gilt es sie gegen Deformationen und gegen ungerechtfertigte Besetzungen dieser Ideen durch identitätsfixierte und antipolitische, auch antidemokratische Gesinnungen. Das war von mir nicht gedacht als eine Liste, im Sinn von »Drehli Robnik sagt uns, was zu verteidigen ist, nämlich The Furious Five«, sondern mir schien, dass sich (zumal mit Kracauer) kontern lässt, wie diese Ideen, diese Wahrheiten, heute antidemokratisch teilgekapert und ruiniert werden: Solidarität etwa als eine Art karitativer Volksgemeinschaft. Dann: Kritik wird unverständlich, wenn es heißt, die FPÖ oder Fratelli d’Italia seien »migrationskritisch« – Hass auf Menschengruppen ist keine Kritik. Vernunft, ja – wenn zunehmend das regiert, was aus den Männern und den Leitkulturen an Selbstgenuss-Zelebrierung hervorquillt, im Gegensatz zu diesem Gefühlsausbruchs-Dauerdurchfall also Vernunft als ein schönes Gefühl im Denken. Menschlichkeit als Handeln, Verhältnisse verändernd, nicht als das reine Menschelnde, das angeblich bleibt, wenn wir uns nicht mehr auf hochtrabende Wahrheiten und Ideen (Gerechtigkeit, Gleichheit) kaprizieren. Kracauer sagt: Ein Sprachrohr für Wahrheiten zu sein, das nimmt dir nichts an Menschlichkeit – im Gegenteil, das macht dich menschlich. Und schließlich: Radikalität – an Rechtsextremen, an der Hamas, am Djihadismus – da ist nichts radikal (im Nachrichten-Fernsehen heißt es »die radikalislamische Hamas«), weil da wohl viel Gewalt und deren Anbetung ist, aber nichts auf den Grund geht. Und der Grund ist ein Bruch, eine zu konfrontierende Bruchstelle – auch das ein Gedanke von »Krac«, der den Bruch und Knacks schon im Namen trägt; Ernst Bloch hat das einmal angemerkt. Ich hab’ immer im Kopf, dass die »Kronen Zeitung« »radikal« als Kreuzworträtselantwort für »extrem, rücksichtslos« im Blatt hatte, und das ist ja eine verbreitete Irrmeinung, die dazu dient, jegliche Politik als brutal, rücksichtslos, schreckenerregend zu diskreditieren, die ungerechte, unmenschliche Verhältnisse mit einer gewissen Grundsätzlichkeit angeht.

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