Vor knapp einem Jahr hat »Die Zeit« vier zeitgenössische KomponistInnen zu einem Gespräch geladen, das mit der Frage begann: »Was ist eigentlich los mit der neuen Musik?« Die Frage war symptomatisch, ebenso, dass die Antworten darauf sehr heterogen ausfielen. Einigen konnte man sich jedenfalls darauf, dass die gesellschaftliche Relevanz klassischer Musik weitgehend dahin ist, obwohl es bis zu einem gewissen Grad eine Verklärung ist zu glauben, früher hätte man KomponistInnen noch mehr Gehör geschenkt. Für einen Teil des Musikfeuilletons mag das stimmen, doch stattdessen gibt es heutzutage viele kleine Aufmerksamkeitsnischen, die man auch das Internet nennt. Radikal gewandelt hat sich jedenfalls die Rolle des Komponisten bzw. der Komponistin. Sie oder er kann zwar noch akademische Autorität beanspruchen, doch die Zahl autodidaktisch Kunstschaffender, die im Auftrag künstlerischer Selbstermächtigung aktiv sind, ist so stark angestiegen, dass eigentlich nur noch ein etwaiger Kompositionsauftrag den klassischen Komponisten prädestiniert. Aber auch diese Grenze ist längst durchlässig geworden. Auf dem Schweizer Label Domizil ist unlängst der Sampler »Ten Years Institute for Computer Music and Sound Technology« erschienen, auf dem sich hübsch nachhören lässt, wie akademisch zugeknöpft sich auch die elektroakustische Szene geben kann. »Ten Years …« bietet eine profunde Rundschau mit teils stimmigen, teils technologisch schwer selbstverliebten Zugängen. Erst der Vergleich z. B. mit der im Vorjahr erschienenen CD des »Decoder Ensemble« verrät, dass zeitgenössische Musik richtig knackig eher dann wird, wenn sie sich herausfordernde Themen anstatt technischer Zugänge sucht.
Audience lost
Aber vielleicht ist die Genrezuordnung in Elektroakustik und zeitgenössischer Klassik ohnehin obsolet geworden. Jedenfalls durfte sich der klassische Komponist ebenso wie der Elektroakustiker vom elitären Ruhekissen des einsamen Genies längst verabschieden – um sich stattdessen um eine Begegnung mit seiner Hörerin bzw. seinem Hörer auf Augenhöhe zu bemühen. Denn wenn es eine zentrale Erkenntnis für Musikrezeption im angehenden 21. Jahrhundert gibt, dann diese, dass sie vom Publikum erlebt, nicht bloß konsumiert werden will. Was uns indirekt wieder zurück zur Frage bringt, wie zeitgenössische Moderne heute überhaupt noch klingt? Die Antwort lautet: Nach allem und nichts, denn die »kontroversiellen Lager haben sich aufgelöst, der musikalische Kanon ist dahin«. Neoklassizismus steht neben Neomodernismus, komplette Verweigerung kompositorischer Prinzipien steht neben klassischem Komponieren nach Noten. Immer noch wird danach gesucht, neue Klänge und unerhörte Stücke zu komponieren, während zugleich das große Feld der traditionellen Klassik fröhlich beackert und überschrieben wird.
Hier hat sich seit der Ausrufung der Postmoderne Anfang der 1980er nur atmosphärisch etwas getan. Denn während die Erkenntnis des »anything goes« damals für kulturpessimistische Lamentos sorgte (»Wir befinden uns in einer Phase der Erschlaffung, ich spreche von Tendenzen der Zeit« meckerte etwa Jean Francois Lyotard), setzt es dafür heute bloß noch vereinzeltes Achselzucken, während eine Armee fleißiger Bienchen ans kompositorische Werk geht und weiterhin unablässig Musik produziert – nur eben nicht mehr als Antwort auf einen kulturhistorischen Strang namens Moderne, sondern parallel dazu, sich mitunter wiederholend bzw. überschreibend. Dabei stets auf der Suche nach einem interessierten Publikum, aber selten auf der Suche danach, einem kulturhistorischen Kanon eingeordnet zu werden. Denn ging es danach, müsste man einen Großteil des aktuellen Schaffens womöglich sofort wieder eindampfen.
Schubert again and again
Diese Tendenz wird durch vier Neuerscheinungen hervorragend dokumentiert, die sich trotz völlig unterschiedlicher Zugänge allesamt auf Franz Schubert beziehen. Da haben wir zunächst Joanna Halszka SokoÅ‚owska plays »Franz Schubert Winterreise«, erschienen in der Populista-Serie des polnischen Labels Bôłt Records. Diese Serie gehört vermutlich zu einem der schrillsten Einträge ins Kapitel zeitgenössische Moderne überhaupt. Hier ist man, nicht immer, oder doch auffallend oft, spezialisiert auf das Thema »Ûberschreibungen« – von Schumann über Beethoven bis hin zu Luc Ferrari. (siehe hier.) Die polnische Sängerin Joanna Halszka SokoÅ‚owska jedenfalls nimmt sich den berühmten Schubertschen Liederzyklus vor – nur ohne Klavierbegleitung. Wir hören eine einsame Stimme, die live und etwas brüchig Schubertlieder singt, allerdings nicht die ganzen Songs, sondern nur Ausschnitte daraus, diese aber mantrahaft wiederholt, sie in gewisser Weise vom Kunstlied zur Folksongmeditation herunterdrosselt. Das ist eine bemerkenswerte Transformation, die allerdings auf Dauer etwas lähmend wirkt. Ähnliches gilt für den Versuch von Barbara Kinga Majewska und Emilia Sitarz, die ebenfalls die Winterreise von Franz Schubert überschreiben, nur wurde hier offenbar für jedes Stück ein individueller Zugang gesucht. Mal wird ein Song zum hysterischen Miniaturmelodram, fast ein wenig nach Sparks in High Heels klingend, dann wieder wird ein Lied auf rauchigen Sprechgesang reduziert oder ganz dahingewispert. Das ist zwar abwechslungsreicher, dafür aber weniger stringent. Ähnliches hat man bereits von Reinhold Friedl und Bernhard Schütz in Bezug auf Robert Schuhmanns Liedzyklus »Dichterliebe« vernommen, nur dass dort alle Lieder klangen, als hätte sie ein verhinderter Herbert Grönemeyer am Anfang seiner Karriere einfach mal ausprobiert, Dilettantismus mit Vorsatz also. Dementsprechend wollen auch die mehrfach prämierte Klassikinterpretin Barbara Kinga Majewska und ihre Pianistin Emilia Sitarz ihren Schubert als »crazy« bzw. »ironic« verstehen.
Einen völlig anderen Weg geht Uwe Rasch mit »aus vierundzwanzig« (Gruenrekorder). Hier verrät der Untertitel Folgendes: »Schubertadaptionen. Ein Materialhaufen zu Franz Schuberts Winterreise«. Ohne diese Zusatzinformation würde man diesen Konnex wohl kaum herstellen, ist dieser Materialhaufen doch in erster Linie ein audiovisuelles Amalgam aus »Videos, Fotos, Collagen, Choreographien, Texten, Audiozuspielungen und Instrumentalkompositionen«. Wo SokoÅ‚owska, Majewska und Sitarz gewissermaßen in den Fußstapfen Schuberts wandeln, diese aber auf ihre Weise übertrampeln, schnappt sich Rasch ein paar Partikel dieser Abdrücke (wobei ihm die Texte Wilhelm Müllers ebenso als Bezugsquelle dienen) und formt diese in eigenwilligster Weise um. In einer Komposition bezieht sich Rasch z. B. überhaupt nur auf eine Viertelnote aus einem Schubertstück, um sie zum Angelpunkt seiner Ûberarbeitung zu machen. Da der Wiederkennungseffekt dementsprechend gleich Null ist, provoziert das zwangsläufig die Frage: Warum sich dann überhaupt auf Schubert beziehen? Vermutlich, weil es so hübsch diskursförderlich ist. »Zusammenhänge werden nicht einmalig und final behandelt, sondern tauchen in jeweils neuen Konstellationen auf, sind unabgeschlossen, beispielgebend, erweiterbar, prozessual« wird Rasch im ausführlichen Booklet zu »aus vierundzwanzig« zitiert. Womit wir wieder beim achselzuckenden »anything goes« sind, weswegen es nicht wundert, dass auch das deleuze’sche Rhizom zitiert wird, das ja fast immer bemüht wird, wenn es darum geht, künstlerische Freiheit in einen kulturtheoretischen Bezugsrahmen hinein zu interpretieren.
Tanz, Franz.
Aber es geht nochmals ganz anders. Die Osttiroler »Musikbanda« Franui verknüpft Klassik mit Volksmusik bzw. akademische Romantik mit volkstümlicher Tanzbarkeit. Wichtigster Bezugspunkt in diesem Fall ist Schubert, aber auch Bela Bartók, womit gleich konkretisiert wird, dass hier kein allzu harmlos-traditionelles Musikverständnis vorliegt. Trotzdem geht es auf »Tanz!(Franz)« (Col Legno) grundsätzlich sehr eingängig zu. Man schnappt sich aus diversen Schubertkompositionen eine Art melodiöses Best-of und verknotet die Sache zu einer hübsch angeschrägten Tanzbodengaudi (ähnlich wie Joanna Halszka SokoÅ‚owska, nur eben »kunstfertiger«). Da freut sich der distinguierte Hörer über den erhabenen Wiedererkennungsgenuss, und die klassikerferne Hörerin findet auch einen Zugang, was ja grundsätzlich nicht schlecht ist – und unterhaltsam sowieso.
Und die Frage, welcher dieser vier Schubert-Zugänge jetzt künstlerisch wertvoller oder angemessener ist, stellt sich ja ohnehin nicht (siehe Einleitung). Tanzboden oder radikale Uminterpretation, Umdeutung oder Ûberschreibung bis zur Unkenntlichkeit, all das sind legitime Optionen zeitgenössischer Klassik – und unterscheiden sich maximal dadurch, dass manche Zugänge noch darauf hoffen, ein Publikum zu begeistern, während sich andere offenbar selbst genügen und dementsprechend ihre eigene Auslegung gleich mitliefern. Was aber natürlich ebenso als Konzession an ein potentielles Publikum verstanden werden kann.
Die CDs & Links
Diverse Interpreten: »Ten Years Institute for Computer Music and Sound Technology« / Domizil
www.domizil.ch
Joanna Halszka SokoÅ‚owska: »Franz Schubert Winterreise« / Bôłt Records
Barbara Kinga Majewska, Emilia Sitarz: »Franz Schubert Winterreise« / Bôłt Records
www.boltrecords.pl
Uwe Rasch: »aus vierundzwanzig« / Gruenrekorder
www.gruenrekorder.de
Franui: »Tanz!(Franz)« / Col Legno
www.franui.at