© Thomas Schäkel
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Retrogott über Identität und Trauern

Kurt Tallert veröffentlicht als Retrogott seit 20 Jahren deutschsprachigen Rap. Jetzt erschien sein schriftstellerisches Debüt »Spur und Abweg«, in dem er sich mit der Verfolgung seines Vaters durch die Nazis auf ganz persönliche Art und Weise auseinandersetzt. skug hat mit ihm gesprochen.

Wer jüdisch ist und wer nicht, darüber streiten sich vor allem Juden und Jüd*innen, und bei zweien derer sind bekannterweise bereits drei verschiedene Meinungen zu befürchten, so lautet der bekannte Witz. Und dann sind da noch so Menschen wie Kurt Tallert, die sich selbst nicht als Jude bezeichnen, aber dennoch auf eine jüdische Familiengeschichte blicken, die einen wesentlichen Einfluss auf die eigene Identität ausübt. »Was auch immer mein jüdisches Erbe ist: Objektiv betrachtet ist nichts mehr daran jüdisch.« Doch subjektiv, so zeigt der bisher v. a. unter seinem Pseudonym Retrogott bekannte 38-jährige Tallert, ist das nicht so einfach.

Kurt Tallert ist der Sohn von Harry Tallert, dem 1927 geborenen, späteren SPD-Politiker, der als Kind davon träumte, Hitler zu retten, und dann von den Nazis verfolgt und ins KZ gesperrt wurde. Zeit seines Lebens litt er unter den Folgen dieser Barbarei, wurde Alkoholiker, starb früh, als sein Sohn kaum 11 Jahre alt war. Aber, so erfährt man in dem Buch »Spur und Abweg«, er war ihm ein guter Vater. Und doch blieben da quälende Fragen, blieb da eine Lücke, ein Raum, der nach Erklärungen verlangte. Nach einem Brand im Haus seiner Mutter beginnt Kurt, sich ausführlich mit Briefen und anderen Dokumenten seines Vaters zu beschäftigen und der Frage nachzugehen, wer dieser war und wie er selbst eben zu jenem wurde, der er nun ist. Man liest ihm dabei zu, wie er Erinnerungen anordnet und Querverbindungen schafft. Man sieht seiner Schreibe an, dass er aus dem Rap kommt, wenn er gekonnt mit Worten hantiert und spielt und dabei schlaue, schöne oder ganz berührende Bilder entstehen, die selbst sprechen.

Seine Art zu sprechen changiert zwischen kritischen Selbstbefragungen, wütenden Anklagen, kenntnisreichen Referaten, klugen Analysen und ganz persönlichen, rührenden, poetischen Passagen. Sein Thema sind die Widersprüche, das Absurde. Während er am Computer sitzt, Wolfenstein spielt und Nazis tötet, schreibt sein Vater noch auf einer analogen Schreibmaschine, vielleicht über seine eigenen Erfahrungen mit Nazis, als ihr Opfer. Es scheint eine riesige Lücke zwischen den beiden zu geben, die Kurt Tallert auslotet und erkundet, und dabei fördert er zugleich einige wesentliche Verbindungen und Gemeinsamkeiten zutage, die viel mit ihrer Familiengeschichte und der Geschichte Deutschlands zu tun haben.

skug: Wie sind die Reaktionen auf dein Buch? Wie wird es in der Rap-Szene angenommen?

Kurt Tallert: Bisher erfreue ich mich regen Interesses daran. Auf die Lesungen kommen auch viele Leute, die mein musikalisches Schaffen verfolgen. Mit der »Rap-Szene« im Ganzen sehe ich mich gar nicht so in großem Kontakt, aber die paar Künstler, mit denen ich auch künstlerisch oder freundschaftlich verbunden bin, haben bisher auch großes Interesse gezeigt.

In einem deiner Texte sagst du »Schön’ guten Abend, meine Damen und Herren! Ich mache deutschen Rap, aber ich höre ihn nicht gern.« Hängt deine Abneigung gegenüber deutschem Rap mit der Skepsis gegenüber deutscher Kultur generell zusammen? Deutschrap hat ja unter anderem auch ein Antisemitismusproblem

In dem Song ist das natürlich ein wenig ironisch gesagt. Es ist ja ein halbes Zitat von Afrob und Ferris MC. Etwas, gegen das ich mich eben immer gesträubt habe, ist die Hurra-patriotische Selbstbeweihräucherung der deutschen HipHop-Szene, die sich für mich sehr prägnant in dem Begriff »Deutschrap« zeigt. Ich vermute darin eine Selbstwahrnehmung als nationales Genre, das sich von den US-amerikanischen Ursprüngen emanzipiert hat. Für mich ist das einfach eine falsche Auslegung, eine Kolportage von HipHop. Dieser Begriff ist natürlich eine musikjournalistische Kreation und kann keinem einzelnen Künstler zulasten gelegt werden. Nur irgendwann gab es mal den Trend, Partys zu machen, auf denen ausschließlich deutschsprachiger Rap lief. Das ging mir definitiv zu weit und da hatte ich auch wieder Assoziationen von national-kultureller Reinheit, die mir negativ aufstießen und die zu HipHop wirklich nicht passt. 

Was den Antisemitismus angeht, da sehe ich gerade seit dem 7. Oktober eine große Bereitschaft, verkürzende, teilweise bizarre Narrative über Juden, über den Holocaust und über Israel unkritisch zu übernehmen, eine Bereitschaft, die ich mir teils nur durch Antisemitismus erklären kann. Dennoch möchte ich folgenden Gedanken einwerfen: Wenn Dinge wie Antisemitismus, Rassismus, Sexismus und andere Diskriminierungsformen auch eine strukturelle Komponente haben (und diese Ansicht teile ich), dann darf es nicht überraschen, dass sie auch im HipHop ihren Ausdruck finden. Damit entschuldige ich nicht die einzelnen Diskriminierungen, sondern möchte nur darauf aufmerksam machen, dass es in diesen Diskussionen leider manchmal die Tendenz gibt, ein subkulturelles Genre haftbar für etwas zu machen, das viel größer ist als es selbst. Das passiert auch mit anderen Musik-Genres und Kulturen. Antisemitismus ist in der heutigen Gesellschaft immer noch so weit verbreitet, dass ich es fast komisch fände, wenn er nicht auch im HipHop auftauchen würde. Noch einmal: Damit will ich nur sagen, dass es nicht am HipHop liegt. Grundsätzlich sollte man sowas auch mal in der eigenen Bubble ansprechen, die in meinem Fall eben hauptsächlich HipHop ist. Deshalb finde ich den Standpunkt eines Ben Salomo sehr wichtig und innerhalb der HipHop-Szene leider kläglich missachtet.

Wann kam die Entscheidung, ein Buch zu schreiben, und wie war das für dich als Texter rein handwerklich?

Die Entscheidung, ein Buch über meinen Vater zu schreiben, reifte immer mehr heran, als ich selbst mein erstes Kind bekam. Ich begann nach langer Zeit, mich wieder mehr für seine Geschichte zu interessieren, fragte mich, was davon noch mit mir zu tun hat, was er mir davon vielleicht mitgegeben hat, was ich mal meinen Kindern mitgeben will, ob ich vielleicht auch etwas davon von ihnen fernhalten will. Dann habe ich erste Texte meines Vaters dazu gelesen und bemerkt, dass er selbst gern ein Buch über seine Erfahrungen geschrieben hätte, dies aber einfach nicht mehr geschafft hat. Meine literarische Herangehensweise war dann sehr geprägt von seinem schriftlichen Nachlass und von der Lektüre anderer Zeitzeugenberichte sowie wissenschaftlicher Literatur zum Thema. Inwieweit ich das handwerklich gelöst habe, weiß ich nicht genau, aber mir war es ein Anliegen, die Stimme meines Vaters nicht zu übertönen und auch die Stimmen dieser anderen Zeitzeugen einzubauen. Denn so sehr ich auch eine direkte, biografische Verbindung zu der Erfahrung meines Vaters hatte, so bleibe ich doch immer ein Außenstehender. Diese Gleichzeitigkeit von Nähe und Distanz spürt man, glaube ich, im Text. An der Prosa genieße ich es grundsätzlich, viel mehr Raum für Reflexion und Ambivalenz, für Sperriges zu haben. Davon habe ich viel Gebrauch gemacht.

»Spur und Abweg« beginnt mit deiner Lektüre von Claude Lanzmanns Biografie. Was fasziniert dich an seiner Person? Was hat das mit dir gemacht?

Claude Lanzmanns filmisches Werk hat mich sehr beeindruckt. Vor allem, dass er in seiner umfangreichen Arbeit gegen das Vergessen nicht auf bestehendes Archivmaterial zurückgriff, sondern die Erinnerung immer aus der damaligen Gegenwart heraus dargestellt hat, das hat mich sehr abgeholt, denn auch mein Bezug zum Thema war von Anfang an, biografisch bedingt, etwas aus der Zeit gefallen. Ich glaube, Lanzmanns unermüdliche Arbeit an der Erinnerung, wenn man das so nennen kann, ist von einem starken Bewusstsein der Fehler geprägt, die dabei unterlaufen können. Dass man erstens die Vergangenheit nicht lückenlos aufklären kann, dass immer Leerstellen bleiben und dass zweitens so eine Arbeit nicht abgeschlossen werden kann, dass sie keine Vorstufe des Vergessens sein darf. Lanzmann merkte man an, dass ihn selbst das Thema nicht losließ und dass er sich mit großer Demut und Bescheidenheit den Zeitzeugen näherte. Und mit sehr viel Mut, denn als er einige der Täter interviewte, hat er mitunter sein Leben riskiert.

Welche Texte haben dich sonst noch beeindruckt?

Vor allem die Werke der Zeitzeugen wie Primo Levi, Jean Améry, David Rousset und Jorge Semprún. Vor allem Letzterer hat mich stark beeinflusst. Er war als sogenannter »Rot-Spanier« in Buchenwald inhaftiert. Als zwei zentrale Themen seiner Werke habe ich zwei Dinge ausfindig gemacht: erstens die Unmöglichkeit, diese Erfahrung der unmittelbaren Todesnähe ganz zu überwinden und zweitens der drastische Unterschied zwischen ihm als politisch verfolgtem Kommunisten und den rassisch verfolgten Juden. Seine Betonung dieses Unterschieds scheint mir essenziell für sein Werk zu sein. Des Weiteren hat mir seine Art zu erzählen imponiert, wie er seinen filmischen oder szenischen Blick, sein Gespür für die Vielschichtigkeit einer Kulisse ins Literarische übersetzt hat. Ein anderer Autor, der mich sehr beeinflusst hat, ist Juan Marsé, der hauptsächlich Romane über die Franco-Diktatur geschrieben hat. Bei ihm ist die Gegenwart immer eine Chiffre der Vergangenheit (in seinen Werken des spanischen Bürgerkriegs).

In einer Tonbandaufnahme stellt dein Vater fest, dass von den Gräueln eigentlich »nichts zu vermitteln sei, dass kaum etwas zu lernen sei, von einer Generation zur nächsten«. Was hat dich dazu gebracht, es doch zu versuchen?

Man könnte das als eine Trotzreaktion gegenüber dem Vater interpretieren. Ich habe ihm das nicht ganz glauben können. Positiv gesagt: Ich glaube, er hat mir und meiner Familie einiges vermittelt. Letztlich respektiere ich aber natürlich sein Gefühl der Einsamkeit mit seinen Erfahrungen. Ich glaube, es ist ein Grundzug jeder Kommunikation und vor allem der sprachlichen, etwas schier Unmögliches dennoch zu versuchen, und im besten Fall bewirkt man damit Annäherungen, das war auch hier mein Antrieb.

Dein Buch hat stellenweise etwas Unruhiges, teilweise sehr Melancholisches oder Depressives. Julia Kristeva beschreibt Depression als die Trauer um ein »sich der Sinngebung entziehendes Reales«. Kannst du damit etwas anfangen?

Ja, ich denke schon. Das Buch ist definitiv, wenn auch nicht nur, ein Sprechakt der Trauer. Dasjenige, was hier betrauert wird, die Vernichtung der europäischen Juden durch die Nazis, das rührt an etwas gleichermaßen Entsetzliches wie unleugbar Menschliches. Da kommt die Sinngebung schon mal abhanden. Dennoch glaube ich, dass es nicht vergebens ist, dass wir durch künstlerischen und anderen Ausdruck dieser Gefühle auch wieder woanders hingelangen, wo eben echte Kommunikation und Menschlichkeit stattfindet.

Eine Szene, die einen besonderen Eindruck hinterließ, ist die, wo du auf einen Tagebucheintrag deines Vaters reagierst, in welchem er bei seinen Kindern um Verzeihung bittet. Du reagierst darauf, indem du sagst, dass du ja längst kein Kind mehr seiest. Ich habe den Eindruck – ich hoffe, ich trete dir damit nicht zu nahe – dass da auch der Sohn in dir in eine sehr menschliche Kommunikation mit seinem früh verstorbenen Vater tritt und auf Antworten hofft.

Mich treibt da die Frage an, was ich ihm zu verzeihen habe. Mein Vater war als Überlebender von Schuldgefühlen geplagt, gegenüber all denjenigen, die nicht überlebt haben, das ist eine große, eine gleichzeitig historische wie ganz intime Last, denn unter den Opfern waren einige seiner nächsten Angehörigen. Gleichzeitig fühlte er auch eine gewisse Schuld gegenüber seinen Mitmenschen, seiner Familie, dass er eben nicht ein normaler Vater sein konnte, sondern trotz aller Anstrengungen beschädigt durchs Leben ging. Ich glaube, er selbst hat bis zu seinem Tod mit seinen großen Zweifeln an der Welt, die eben aus der Nazi-Zeit herrührten, gekämpft. Mir war es wichtig, zu sagen, dass es hier nichts zu verzeihen gibt, dass ich dankbar bin, dass meine Eltern es geschafft haben, mir gleichzeitig die Abgründe der Menschheit nicht zu verheimlichen und mir dennoch die Bedeutung von Liebe und Zuversicht näherzubringen.

Man erfährt nur wenig über deine Geschwister. Hat das einen Grund?

Nun, das Buch behandelt meine Perspektive und natürlich hat das auch Gründe der Diskretion. Es gäbe da vieles mehr zu erzählen. Soweit ich meine Geschwister aber verstanden habe, haben sie durchaus das Gefühl, dass das Buch in allem, was es über mich, meine Gefühle und Gedanken aussagt, auch über sie spricht, denn wir teilen ja das Grunderlebnis, dass sich unsere Geschichten mit der meines Vaters und seiner Familie überschneiden.

Du bringst im Buch mehrfach zum Ausdruck, dass es gewisse Fragen gibt, die niemals beantwortet, und Widersprüche, die nicht aufgelöst werden können. Ist für dich mit dem Beenden des Schreibens trotzdem eine gewisses Kapitel abgeschlossen?

Ich sehe das Buch als eine Momentaufnahme von meiner Auseinandersetzung mit dem Thema. Mein Schreiben darüber hat seitdem nicht aufgehört, meine gedankliche Auseinandersetzung damit ist Teil meiner Identität. Ich glaube, von Umberto Eco stammt der Begriff des »offenen Kunstwerks«, demzufolge (gute) Kunstwerke viele Zugänge der Interpretation erlauben, die eigentlich ein unendliches Spiel von Möglichkeiten sind. Die Rezeption ist dabei Teil des Werks und gewissermaßen wird man als Autor ja auch sein eigener Rezipient, eine unendliche Selbstaufspaltung. Mein Text eröffnet einen Raum für Diskussionen, für Gedanken aber vor allem einen Raum zum Trauern. Nichts davon ist abgeschlossen, diese Räume haben Ein- und Ausgänge und sie können erweitert und mit anderen Räumen verbunden werden.

Kurt Taller »Spur und Abweg« (DuMont), 240 Seiten, € 24,00

Link: https://www.dumont-buchverlag.de/buch/kurt-tallert-spur-und-abweg-9783755810087-t-5919 

Home / Musik / Artikel

Text
Lutz Vössing

Veröffentlichung
08.03.2024

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