Über den 1824 ins Ansfelden in Oberösterreich geborenen Anton Bruckner wurde schon viel geschrieben. Um sich erneut (oder auch zum ersten Mal) auf unter- und hintergründige Art diesem Jubilar zu nähern, empfiehlt skug drei aktuelle Publikationen, die in oberösterreichischen Schreibstuben das Licht der Welt erblickten: Der österreichische Germanist Christian Schacherreiter hat Anfang des Jahres 200 AB (ante Bruckner natum) mit »Bruckner stirbt nicht. Eine Romanbiographie in vier Sätzen« eine packende und schelmische Bruckner-Exegese vorgelegt. Ein paar biografische Worte zum Autor, der zwischen 1977 und 1993 kabarettistisch gemeinsam mit dem Musiker Gerald Fratt erfolgreich und ausgezeichnet (Salzburger Stier) unterwegs war. Von 1982 bis 1992 war er freier Mitarbeiter der Abteilung Literatur und Hörspiel im ORF Oberösterreich und ist nun Mitglied des Adalbert-Stifter-Instituts. Stifter und die österreichische Literatur des 19. Jahrhunderts sind neben der Gegenwartsliteratur und der Kulturgeschichte des Humanismus wissenschaftliche Arbeitsschwerpunkte. Seit 1999 ist er als Kolumnist, Literatur- und Musikkritiker freier Mitarbeiter der »Oberösterreichischen Nachrichten« und veröffentlichte eine große Zahl von Artikeln, vor allem zu Literatur, Sprache und ihrer Didaktik. Seit 2010 widmet sich Christian Schacherreiter verstärkt wieder dem eigenen literarischen Schreiben.
Wie anno dazumal der oberösterreichische Komponist von Weltruhm mit seinen Heiratsanträgen bei (oft sehr jungen) Frauenzimmern, fällt der Roman von Christian Schacherreiter über einen angehenden Bruckner-Biografen mit der Tür ins Haus: »Bruckner ist tot, mein Bruckner noch nicht am Leben.« Die Romanbiografie über einen jungen Musikstudenten aus Waidhofen an der Ybbs, angesiedelt im ausgehenden 19. Jahrhundert, ist ebenso erhellend wie erheiternd. Oder sollte man gar sagen, eine Hetz? Aber vorsichtig, man erfährt in diesem schelmischen Bildungsroman so manches über die Eigenarten nicht nur des großen Sinfonikers, dessen 200. Geburtstag heuer mannigfaltigst gefeiert wird, sondern auch über die Eigenheiten seiner Wirkungsstätten, wie zum Beispiel seiner letzten, nämlich der Kaiserstadt Wien: »Die Kunstdiskussion – eine Hetz … Also doch keine Glaubensfrage? Oder wird vielleicht nur so getan, als sei es eine Glaubensfrage, damit nachher die Hetz umso größer ist? Wien ist wahrscheinlich der einzige Ort, an dem für eine Verfolgungsjagd dasselbe Wort verwendet wird wie für das Vergnügen, die Gaudi oder auch Mordsgaudi. Ich ging der Sache nach. Künstler, auch Architekten, also Baukünstler, haben sich in Wien umgebracht, weil ihnen die Hetz auf sie zu viel geworden ist. Die Wiener sagen dann: Na geh, das war doch nur eine Hetz. Dass der das so ernst nimmt, hat keiner wissen können. Sie lesen im Kaffeehaus die Zeitungsberichte und gehen zur Leich, die hoffentlich eine schöne ist, vielleicht umrahmt von der Musik eines Menschen, der das nächste Opfer einer Hetz sein könnte.«
Organische Sinfonien
Und weil der sinfonisch aufgebaute Roman in vier »Sätzen« – die Sätze entsprechen im Buch den Aufenthaltsorten Wien, Linz, St. Florian und Ansfelden – im Rückwärtsgang das Leben von Anton Bruckner durchmisst, sei hier gleich auf noch eine weitere Besonderheit der Großstadtbewohnenden hingewiesen: »Die Bildung dieser selbstbewussten Wiener Kaffeehausbesucher ist, was der Komödiendichter Nestroy in einer seiner Possen eine Millefleurs-Bildung genannt hat: eine Ahnung von Philosophie, ein Anflug von Politik, ein Schimmer von Literatur, ein Hauch von Medizin und ein Anklang von Musik. Genau genommen besteht ihre Bildung darin, zwanzig bedeutende Namen zu kennen und mit zehn Zitaten den Anschein zu erwecken, man kenne deren Gesamtwerk in- und auswendig. Es geht in diesen Kreisen auch darum, sich am Kaffeehaustisch ein Alleinstellungsmerkmal zu erarbeiten, das Profil und Charakter verleiht.«
Die Romanfigur Jakob Weinberger macht sich nach einem Erweckungserlebnis, der Uraufführung von Anton Bruckners »Achter Sinfonie« in Wien, wie besessen an der Erarbeitung eines Alleinstellungsmerkmals zu schaffen, um »Schöpfer einer wegweisenden Schrift, die den Musikliebhaber erfreuen und die professionelle Musikwelt bereichern wird«, zu werden. Von diesem Musikerlebnis überwältigt versucht er, die Person des Komponisten zu enträtseln: »Wie war es möglich, dass ein Mann, der mir bisher als Künstlerkarikatur vermittelt worden war, als lebensfremder Provinzkauz, naiver Frömmler und letzter praktizierender Vertreter der katholischen Restauration – wie war es möglich, dass dieser Mann eine Sinfonie komponierte, als deren Schöpfer man einen Übermenschen der Zukunft vermuten musste!«
Was findet der Bruckner-Fan Jakob Weinberger nun im Laufe seiner Recherchen in Wien über die spezielle Beschaffenheit der Sinfonien von Anton Bruckner heraus? »Ein nur vorläufiges und vorsichtiges Urteil erlaube ich mir über die Behauptung, man verstehe Bruckner Sinfonien nur, wenn man sie aus der Eigenart der Orgel begreift. Geäußert wurde diese Behauptung schon mehrmals. Begründet wurde sie mit Hinweisen auf die Instrumentierung, die den Registern der Orgel entspräche, auf die kontrapunktische Führung der Stimmen, auf den stufenartigen Bau, den bisweilen abrupten Wechsel von zarten kammermusikalischen Sequenzen mit Tutti-Sequenzen im Fortissimo. Ein Geiger der Wiener Philharmoniker meint, die langen Tremolo-Passagen erinnerten ihn an die liegenden Töne der Orgel. Zutreffend könnte vielleicht auch der Umkehrschluss sein, in der Weise nämlich, dass Bruckners außergewöhnliche Improvisationskunst auf der Orgel das schöpferische Denken eines Sinfonikers verriet.«
Unfassbare Reparaturen
Zu den vielen verschiedenen Versionen seiner Sinfonien entwickelt der Biograf bei seinen »Nachreisen« eine interessante Hypothese: »Als ich die ländlichen Gegenden bereiste, in denen Bruckner aufgewachsen ist, fielen mir die vielen reparierten Gegenstände auf. Man wirft schadhafte Dinge nicht einfach weg, man repariert und verbessert sie. Könnte diese Haltung Bruckners künstlerische Arbeit bestimmt haben? Er reparierte seine Dritte Sinfonie und legte eine zweite Fassung vor, die 1877 im Wiener Musikverein aufgeführt wurde.« In Linz spürt der Biograf den Beginn eines charakteristischen, Bruckner’schen Klangbildes auf: »Die d-Moll Messe war nicht Bruckners erste Messkomposition, es war aber die erste, die unverkennbare Kennzeichen jenes persönlichen Kompositionsstils trägt, den wir dem Meister aus heutiger Sicht zusprechen. Ich begnüge mich mit Andeutungen: kunstvolle Verknüpfungen von Chromatik und Diatonik, Taktteilung in Triole und Duole, Streicherbewegung in Achtel- und Sechzehntelnoten, markante Oktav-, Quint- und Quartsprünge, absteigende und aufsteigende Stimmführung im Oktavraum, ostinate Begleitmotive, polyphone Elemente. Man bedenke: Seit Anton Bruckner aus St. Florian weggezogen war, hatte er die mit größtem Ernst betriebenen Studien bei Sechter und Kitzler hinter sich gebracht, er hatte die Linzer Erstaufführung des Tannhäuser gehört.«
Schließlich kommt es auch zu einer traumatisch endenden Begegnung des Biografen mit seiner Forschungsfokusperson: »Der Zeitpunkt schien mir jetzt günstig zu sein … Meister, sagte ich, umso wichtiger ist es, dass künftige Generationen nicht nur Ihre unsterbliche Musik hören, sondern auch über Ihr Künstlerleben Bescheid wissen. Ich trage mich mit dem Gedanken, Ihre Biografie zu schreiben und nichts wäre für mich ermutigender und aufmunternder als Ihre Zustimmung zu meinem Vorhaben. Das ist sehr lieb von Ihnen, sagte Bruckner, das freut mich, aber tun Sie sich die Plage nicht an. An meiner Biografie, da arbeitet ja schon seit ein paar Jahren der Göllerich, der August. Vielleicht kennen Sie ihn eh. Die wenigen Sekunden, die Bruckner brauchte, um diesen Satz auszusprechen, genügten, um mich zu vernichten.«
Gegen Ende des Buches ist der Biograf auf Spurensuche in Ansfelden. Wie haben die ersten Lebensjahre von Anton Bruckner ausgesehen? Er erkennt, »wie beharrlich der Tod Bruckners Kindheit begleitet hatte.« Den vielleicht aufschlussreichsten Ansatzpunkt zur Interpretation seines Schaffens könnte der vierte Geburtstag von Anton Bruckner liefern, denn da »hatte er schon vier Geschwister verloren! Was macht diese Erfahrung mit einem Kind?«