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Postmoderne Improvisationsnostalgien

Das Moers Festival fand anlässlich seiner 43. Ausgabe (6.-9. Juni 2014) erstmals im Festival-eigenen Konzertsaal statt. Im Programm überraschten ausgeprägte Retro-Tendenzen und ein berückendes Duo.


Foto:  Marc Ribot kredenzte beim Moers Festival launige »Protest Songs« und wird diese auch am 29. August 2014 beim Jazzfestival Saalfelden anstimmen. © Marco Zanoni.

Den festlichen Akt der Einweihung einer Kohlen-Lore musikalisch zu umrahmen, das zählt eher zu den untypischen Terminen einer arrivierten Jazzmusikerin. Wer als Artist in Residence des Moers Festivals ein Jahr in der 100.000 Einwohner zählenden Stadt im Westen des Ruhrgebiets verbringt, dem kann derlei freilich passieren. Umso mehr, als sich die Bereitschaft zu Kommunikation und Kooperation mit der Bevölkerung sowie ortsansässigen Vereinen nicht nur explizit im Anforderungsprofil findet, sondern der Berliner Pianistin Julia Hülsmann, die die Bürger und Bürgerinnen der Stadt etwa auch zu »Hörbar«-Musikgesprächen in ihr Haus am Moerser Schlosspark lädt, ein besonderes Anliegen ist. Dass die von Hülsmann beschallte Kohlen-Lore indessen niemals in einen Bergwerksschacht einfahren wird, sondern im Moerser Rathaus als Schaustück ausgestellt ist, das hat wiederum indirekt damit zu tun, dass beim 1972 gegründeten Moers Festival anno 2014 ein neues Kapitel aufgeschlagen wurde.
Denn der Steinkohleabbau ist hier wie anderswo im Ruhrgebiet längst Geschichte, in den 1990er-Jahren wurde die letzte der unrentabel gewordenen Zechen geschlossen. Der wirtschaftliche Strukturwandel ist eine Frage von Jahrzehnten, die Stadt hat mit sinkenden Steuereinnahmen zu kämpfen und musste sich einen harten Sparkurs verordnen. Mit Folgen auch für das Festival: Von den ursprünglich 600.000 Euro Subvention war nach einer erneuten Kürzung 2014 nur mehr gut die Hälfte übrig geblieben. Eine Lösung der prekären Situation fand der seit 2006 amtierende Festivalleiter Reiner Michalke in einer neuen Veranstaltungslocation: Das Zelt im Schlosspark wurde aufgegeben, stattdessen eine unweit davon stehende ehemalige Tennishalle zum Konzertsaal umgebaut. Die dafür notwendigen 2,2 Mio. Euro kamen angenehmerweise großteils vom Bund und dem Land Nordrhein-Westfalen. Die jährliche Kostenersparnis beläuft sich 300.000 Euro.
mf2014_Julia_Huelsmann_3.jpgDas wichtigste vorweg: Der rund 1.800 Menschen fassende Saal bestand die Feuertaufe bravourös: Die Bühne ist von allen Seiten gut einsehbar, die Akustik gut bis exzellent. Nur in den hinteren Rängen tönt die Musik zeitweise etwas scharf und grell. »Die Moers-Bühne ist sehr musikalisch«, konstatierte denn auch Schlagzeuger Han Bennink, der das Podium während seines Auftritts dem bekannten Elchtest unterzog: Pflegt das 72-jährige niederländische Enfant terrible doch stets auf der Rampe herum zu geistern und auch den Bretterboden auf seine akustischen Qualitäten zu überprüfen. Der 31-jährige Amsterdamer Pianist Oscar Jan Hoogland fungierte als gewiefter Interaktionspartner, ließ sich von Bennink nicht an die Wand spielen, sondern entwickelte mit der notwendigen Sturheit eigene Strukturen: sei es, indem er Thelonious-Monk-Kompositionen ins Spiel brachte, sei es, indem er am Keyboard schräge elektronische Soundcollagen entwickelte. Neben Veteran Bennink prägten alte Helden der New Yorker Downtown-Szene das Bühnengeschehen, deren Geschichte eng mit Moers verknüpft ist: Hatte Festival-Gründer Burkhard Hennen doch anno 1982 John Zorn und Co. erstmals nach Europa geholt und damit den initialen Impuls für die internationale Wahrnehmung gesetzt. 32 Jahre später intonierte Marc Ribot in Rahmen seines Soloauftritts launige Protestlieder vom »Cowboy Anti-War Song« bis zum »Protest Song Against Santa Claus«; die ungelenke Stimme konnte dabei nicht immer mit dem Charme der trashig scheppernden Gitarre mithalten. Kollege Fred Frith verbreitete mit dem Wiederaufgreifen seines tanzbaren »Gravity«-Albums von 1980 postmoderne Nostalgie-Stimmung, und der ergraute Arto Lindsay attackierte unverfängliche Bossa-Nova-Säuseleien mittels noch immer sympathisch heftiger Noise-Lawinen seiner berüchtigen Kettensägengitarre, angetrieben von Schlagzeuger Paal Nilssen-Love. Tja, soviel Retro-Stimmung war selten beim Moers Festival.
Neue, eigenwillige Ansätze, sie waren anno 2014 spärlich zu vernehmen: Etwa beim aktuell von Gitarrist Olivier Benoit geleiteten Orchestre National de Jazz, dessen auf hochkomplexen Patternstrukturen basierende Kompositionen aparte Originalität atmeten. Oder beim im Rahmen der »Night Sessions« angesetzten Duo-Konzert von Saxofonist Colin Stetson und der gerade mit Arcade Fire tourenden Violinistin Sarah Neufeld. Stetsons hochvirtuose, mit Zirkularatmung geblasene Analog-Loops verzahnten sich mit Neufelds repetitiven Texturen tatsächlich zu einer visionären Musik von verblüffender Sogwirkung. Das schmeckte nach jener Musik von morgen, von der man beim Moers Festival 2014 gerne mehr serviert bekommen hätte.

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