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Klassikaner

Die Kolumne über zwölf und manchmal auch mehr Töne in der komponierten Musik.

Zwei bemerkenswerte Einspielungen der Staatskapelle Dresden (Teldec) unter Giuseppe Sinopoli zeigen auf, dass die Entwicklung der Neuen Musik kontinuierlich und auf der Musikhistorie aufbauend erfolgte. So geriet ARNOLD SCHÖNBERGS Wiener Uraufführung der »Kammersymphonie« 1907 nur wegen der Vielzahl an Neuerungen zum Skandal. Vor allem die Quartenakkorde, die den Terzaufbau der Harmonik ersetzen, überforderten viele Hörer, obwohl diese bereits in der Symphonischen Dichtung »Pelleas und Melisande« Vorgänger hatten. Das synagogale Motive und in einer hebräischen Melodie die Grundgestalt der Zwölftonreihe enthaltende »Ein Überlebender aus Warschau« ist eine erschütterndes, aufs Wesentliche komprimiertes Oratorium, das die Massaker im Warschauer Ghetto zum Thema hat.

Doch sei an die »Sechs Orchesterlieder« angeknüpft, um auf den Schönberg-Schüler ALBAN BERG zu stoßen. Waren Bergs früheste Kompositionen noch Klavierlieder, so lenkte er auf Anregung seines Lehrers Schönberg seine Schaffenskraft bald auf Lieder in Orchesterstärke. Seine Talentprobe gab er mit den »Sieben frühen Liedern« ab, doch erst mit den »Altenberg-Liedern« gelangte er zu expressiver Meisterschaft. Die Konzertarie »Der Wein« nach drei Gedichten von Charles Baudelaire, die Bergs Affinität für unglücklich Liebende zwischen Sehnsucht, Leidenschaft und Einsamkeit widerspiegelt, birgt bereits Bergs brillante Handhabung der Reihentechnik. Zäumt er hierorts noch einen gewaltigen Orchesterapparat in aller Kürze, so hat er mit den »Drei Orchesterstücken« eine komplizierte Partitur (1914) geschrieben, die infolge der schwierig zu spielenden Parts erst 1930 uraufgeführt wurde.

Von ANTON WEBERN, dem zweiten großartigen Komponisten der Wiener Schule, liegt das Gesamtwerk, aufgenommen unter Pierre Boulez, vor. Die 6-CD-Box »Complete Webern« bezieht nicht nur die Opuszahlen 1-31, sondern auch von Webern selbst nicht vorgesehene Werke wie »Im Sommerwind« (1904) oder »Fünf Ochesterstücke« (1913) ein. Letztlich ist erst durch diese Stücke sowie seinem Oeuvre für Klavier, Violine und Cello, Kammermusik etc. Weberns Werdegang vom Schönberg-Schüler zum Wegbereiter des Serialismus nachvollziehbar. Zwar blieb ein poetischer Kern romantischer Tradition (Naturverklärung etc.) erhalten, aber die ungeheuerliche Konzentration auf das Wesentliche im Ausdruck (etwa die Reduktion reihenkombinatorischer Möglichkeiten in der nur 10minütigen »Symphonie, op 21«) macht Webern auch heute noch für viele zeitgenössische MusikerInnen zum geistigen Vorbild. Webern, dem der Austrofaschismus die Haupteinnahmequelle aus der Dirigententätigkeit für Singverein und Arbeiter-Sinfonie-Konzerte entzog, verließ Österreich auch in der Zeit des Nationalsozialismus nicht, obwohl alle seine jüdischen Freunde verfolgt oder vertrieben wurden. Obwohl selbst verfemt, blieben seine Kompositionen (zur Uraufführung von »Variationen für Orchester op. 30« durfte er 1943 nach Winterthur reisen) unpolitisch. Die »Zweite Kantate«, als op. 31 (1941-43) Weberns letztes Werk, widerspiegelt nicht die nahende Katastrophe, sondern fungiert als Fluchtpunkt in Natur- und Geistesprinzipien. So bewahrte ihn diese indifferente Haltung gegenüber dem Dritten Reich zwar vor dem KZ, nicht aber vor seinem tragischen Tod. Infolge eines Missverständnisses wurde Anton Webern am 15. September 1945 in Mittersill irrtümlich von einem US-Besatzungssoldaten erschossen.

Die Deutsche Grammophon veröffentlicht anlässlich des 75. Geburtstages von Pierre Boulez auch die vom französischen Metropoliten dirigierte »4. Symphonie« von GUSTAV MAHLER und drei Symphonien von IGOR STRAWINSKY, darunter die »Symphony Of Psalms«, die letztlich auch nur im Neoklassizismus schwelgt, wobei wiederum Boulez die Berliner Philharmoniker kompetent dirigiert hat. Mahlers berühmte »Vierte« dringt da viel tiefer ins Abgründige vor, trotz des plötzlichen Übergangs zu strahlendem E-Dur im Schluss-Satz, dessen paradiesisches Liedfinale sich letztlich als entsagungsvolle Illusion herausstellt.

Unglaublicherweise datiert »The Seasons« (ECM New Series) von JOHN CAGE aus dem Jahr 1947. Das ist die erste mir bekannte Komposition, die einen Drone fortspinnt. Zwar ruht das Werk statisch in sich, doch pflanzt sich der Drone doch via Streichern und Bläsern innerhalb einer gewissen Schwankungsbreite fort. Religiöse Philosophien aus dem Osten – »die den Verstand beruhigen und diesem ermöglichen, für göttliche Eingebung empfänglich zu sein« – leiteten Cage, der diese als Mittdreißiger studierte, auch beim »Concerto for Prepared Piano«, wo das American Composers Orchestra unter Dennis Russell Davies im Gegensatz zum expressiven Piano (Margaret Leng Tan) den Prizipien orientalischer Philosophie folgt. »Seventy-Four« (1992) weist schließlich den Musikern nur vierzehn Noten zu, deren Dynamik und Phrasierung die Musiker selbst bestimmen können.

Quantensprünge in die wahrhaft zeitgenössische Moderne offeriert die Edition Zeitton/ORF: Das Klangforum Wien spielte unter Sylvain Cambreling Werke von GEORG FRIEDRICH HAAS, jenem 1953 in Graz geborenem Komponisten, der wie Rihm, Holliger oder Nono von der Lyrik Hölderlins beeindruckt ist. Die Schilderungdes Verlustes jeglicher Zukunftperspektive läßt ihn oft zu Titeln greifen, die die Nacht als sinistre Metapher für eine zunehmend das Fremde, das Andersartige ausgrenzenden Gesellschaft umschreibt. Zwar zerreißen in »Nacht-Schatten« plötzlich aufwallende Akkorde feinziselierte Klänge, doch bestehen nach dieser Gewalteinwirkung Funken der Hoffnung. Schließlich kristallisieren sich doch schwebende, pulsierende mikrotonale Schwingungen als taghelle Faktoren heraus. Die Umstimmung auf ein mikrotonales System ermöglicht im »1. Streichquartett« eine Unzahl von unterschiedlichen Tonhöhen. Durch Verschachtelungen von Obertonreihen und im Verlauf des Stückes auftauchende Obertonakkorde ergibt sich ein schwebender Klang. Die Bögen gleiten über leere Saiten und realisieren damit atemberaubend schöne Flageoletts, deren Einklang langsame Glissandi umspielen.

Das Klangforum seziert CLEMENS GADENSTÄTTERS (geb. 1966) »schniTt« vertikal wie horizontal. Der Formverlauf durch Klangspaltung ist Material, das am Ende durch Verwendung von Osterratschen oder Mehrklangpeitsche affektiv verändert wird. Zunächst ist das Material von »Musik für Orchesterensembles« auf fünf Untergruppen des RSO Wien aufgeteilt. Zwischen den Polen Individuum-Masse kommt es zu Einzelausritten und Zusammenkünften, die in Klangballungen (Tutti, Fanfaren) kulminieren.

Nach schweren Brocken leichtere Muse: Auf vier Tonträgern wird im Grunde klassische Musik meist mit Volksmusik eingefärbt. »Bach In Brazil« (EMI Classics) bietet Arrangements, die die Musik J. S. Bachs in den Choro, eine einzigartige populäre Instrumentalmusik transformieren.
Die CAMERATA BRASIL bringt die Musik des 250 Jahre Toten mit Mandoline, Cavaquinho (Ukelele-ähnlich) oder Viola Capira (zehnsaitige Gitarre) unwiderstehlich zum swingen.
GIDON KREMER & KREMERATA BALTICA wiederum stellen die »Vier Jahreszeiten« VIVALDIS jene in der Interpretation durch ASTOR PIAZZOLLA gegenüber. Klarerweise duften die vier mit luftigen Tangoassoziationen durchwirkten Piazzolla-Adaptionen mehr nach Meeresluft als die ebenso gelungene Vivaldi-Auffrischung von »The Eight Seasons« (Nonsuch).

Ein tangolastiges Akkordeon spielt auch Rob Burger vom TIN HAT TRIO, das laut Eigendefinition eine »Mussheirat von Piazzolla, Django Reinhardt, mit Charles Ives als Blumenmädchen« einging. Eine in slawische Melancholie verfallende Melodie bildet auf dem locker aus dem Ämel geschüttelten »Memory Is An Elephant« (Angel) schlussendlich die Landbrücke zum
ANDREYEV IMPERIAL RUSSIAN ORCHESTRA. Seit 1888 existiert das nach seinem Gründer, einem russischen Aristokraten, benannte, hauptsächlich aus Balalaika-SpielerInnen bestehende Ensemble. Auf »Balalaika!« (EMI Classics) werden russische Volkslieder und russifizierte Walzer intoniert und die in die Breite gezogenen Klimpertöne der Balalaikas auf symphonisch-kitschiges Niveau angehoben, ohne dass der russisch-wehmütige Tonfall je verloren ginge.

Weitere Reviewkolumnen von Alfred Pranzl:
Jazz und Artverwandtes
Impro Lounge

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Text
Alfred Pranzl

Veröffentlichung
02.02.2000

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