Die Umtriebigkeit der Chicagoer Jazz- /Improvisationszirkel ist bekannt. Ansässige Labels wie Okka Disk oder Atavistic bemühen sich begleitend zum explodierenden aktuellen Geschehen stark um vernachlässigte Musik »ihrer« Geschichte. Mit der von John Corbett konzipierten Unheard Music Series ist ein vorläufiger Höhepunkt dieser Anstrengungen erreicht. Die hier mitunter erstmals präsentierte Musik füllt Lücken vergessener oder nur kleinen Insiderkreisen bekannter Höhepunkte gekonnt aus.
Für die Katalognummer 1 wurde ein besonderes Juwel ausgegraben: »Nation Time« von JOE McPHEE. Der Titel ist Amiri Baraka entlehnt, das Programm ist die Bildung der Black Nation. Der dem Cover aufgepickte Sticker kündigt einen »long out of print, funky Free Jazz classic fom 1970« an und vereinbart so bereits einen vermeintlichen semantischen Widerspruch. Schon deshalb, weil Freiheit im Jazz allzu gerne in einer purifizierten Kategorie gemessen wird, die durchgehenden Beat oder singbare Melodien nicht zulässt (Albert Ayler mit seinen »Kinderliedern« dabei völlig vernachlässigend.). Die Kehrseite dieser konservativen Anschauung ist freilich die Verunglimpfung von Free Jazz als »Entschuldigung« für Musiker, die das Konzept von Swing einfach nicht auf die Reihe brächten.
Mit diesen Misskonzeptionen räumt Joe McPhee in eindrucksvoller Art und Weise auf, und bringt auf vorliegender, vor Publikum eingespielter Platte ein äußerst eklektisch angelegtes Set an des Hörers Ohren. Allein auf dem ursprünglich die ganze erste LP-Seite einnehmenden Titelstück verbindet der Tenorsaxophonist und Trompeter mit seinem dichten Ensemble langjähriger Mitspieler einige der markantesten Eckpunkte afroamerikanischer Musik: Spät-60er Sun Ra, Art Ensemble Of Chicago, Archie Shepp (ca. »Fire Music«) aber auch John Coltrane schwingen hier eindeutig mit. Durch die relativ schmale Besetzung (2 Perkussionisten, elektrisches Klavier, Bass) eine um so mehr verblüffende Sache. Die Einbettung in McPhee???s wiederholt und eindringlich gestellter Frage »What time is it?« macht das Publikum mit seinen Antworten zum integralen Bestandteil des Stücks.
Zur Erholung von dieser wuchtigen Kreativität gibt es »Shakey Jake«, einen kompakten Stomper für Ohren und Füße gleichermaßen. Abstrakter Schlußpunkt ist »Scorpio’s Dance«; laut Ken Vandermark???s exzellenter Liner-Notes der wohl nicht so offensichtliche Brückenschlag zwischen Sonny Rollins und Cecil Taylor. Ich denke da an den »befreiten«, da ohne Pianist spielenden Rollins von »East Broaway Run Down«, der hier ausgerechnet durch einen Taylor-esken Pianisten noch weiter in ungehörte Bereiche vordringt. Insgesamt bleibt nur, sich für die Wiederauflage dieses Meisterwerkes zu bedanken.
Ähnlich verschärft geht es mit dem schwedischen MOUNT EVEREST TRIO weiter. Die wie Motörhead aussehenden Jungs machen den Titel ihres Albums »Waves From Albert Ayler« zum Programm. Nach den eingangs gestellten Verbeugungen vor Ayler (»Spirits«) und Coleman (»Ramblin???«) gibt es Eigenkompositionen, die schnell klarmachen, dass diese Musiker bei ihrem 1975 eingespielten Werk, eine durchaus originelle mögliche Weiterführung der Musik ihrer Vorbilder formulieren. Ein echter Strudel, der dich mitreißt, bis der Gary Bartz-Song »People’s Dance« wieder Zeit zum Luftholen lässt. Ursprünglich war dies das Ende der Platte, für die CD-Auflage wurden drei weitere Stücke aus ’77 hinzugefügt. Die nun abschließende »Ode To Albert Ayler« ist ein thematisch gesehen runder und würdiger Endpunkt. Holmström, Jansson und Sjökvist haben sich jedenfalls in das Herz dieses Hörers gespielt.
Vertraute Namen spielen bei »Nipples« im PETER BRÖTZMANN SEXTET & QUARTET auf: His Brötzness und Evan Parker an Tenorsaxophonen, Derek Bailey zerlegt die Gitarre, Fred Van Hove bearbeitet das Klavier, Buschi Niebergall macht Bass, und Han Bennink kocht ein mehrgängiges Menü am Schlagzeug. Was soll ich sagen, die nipplen hier wirklich weg, das es die reine Freude ist. Die beiden ’69 aufgenommenen Sessions starten bei 100% und bleiben stets auf Maximallevel. Zu genaue Konzentration auf einzelne Musiker verursacht selbst im Liegen Gleichgewichtsstörungen. Diese Musik liefert nichts weniger wie die Neudefinition des Wortes Intensität. Gerade weil viele der vertretenen Musiker hier ja gelegentlich vor der Haustüre auftreten, eine mehr als überfällige Neuauflage: Thurston Moore zählt die Platte zu seinen zehn liebsten im Free Jazz. Der Infozettel bringt es auf den Punkt: »a must for both novices and extremists as well«; und: »please face the facts: you need Nipples in your life.«
Zurück nach Chicago und dem FRED ANDERSON QUARTET, das auf den »Milwaukee Tapes Vol. 1« aus 1980 wieder etwas ruhigere Töne anschlägt. Die Aufnahmen bestechen vor allem durch die telepathische Kommunikation von Saxophon und Schlagzeug, umwerfend gespielt von einem jungen Hamid Drake. Leider beendeten die beiden ihr Zusammenspiel kurze Zeit später, in einem gegenwärtigen Line-Up sind sie heute wieder vereint. Generell steht bei der Unheard Music Series ja auch eine vernetzende Funktion im Vordergrund. Lokal separierte Szenen werden zusammengeführt und viele der alten Hasen haben aktuelle Projekte mit jüngeren Musikern am Laufen (z.B.: Brötzmann Chicago Tentet, Aaly Trio mit Anderson, McPhee/Vandermark/Kessler etc.).
Die fünf Eigenkompositionen der Milwaukee Tapes füllen endlich die vermeintliche Lücke in Andersons Schaffen und bringen 70 Minuten bester Musik. Durch ihre Subtilität verschließt sie sich allerdings einer zu schnellen Verinnerlichung, und so sei dem Rezensenten auch noch ein wenig Unheard Music vergönnt.
Weitere Veröffentlichungen sind ohnehin bereits angekündigt: »Elixir« von Hal Russel, dem originalen Luttenbacher und NRG Ensemble Gründer, sowie »Beats« des unvergleichlichen Han Bennink. Am Ball bleiben und kicken ist die Devise.
Alle CDs: UMS/Atavistic