FatCat Records veröffentlichte 2020 wahre Offenbarungen an Klang, u. a. von Ian William Craig, Clarice Jensen und Yair Elazar Glotman & Mats Erlandsson, die das Werk des Komponisten Jóhann Jóhannson fortführen. Aber auch andere zeitgenössische Labels lieferten in diesem Jahr erhebend prächtige Soundkosmen, z. B. von Ben Bertrand, Julius Anglinskas/Apartment House, Field Works und Bad Stream. Monatelang machte der Rezensent Notizen über diese Musik, die schwebt und ihn schweben lässt, im Dezember erfolgt endlich die Niederkunft.
Ben Bertrand: »Manes« (Stroom/les albums claus)
Den Auftakt besorgt Ben Bertrand, ein belgischer Komponist, der mit Bassklarinette und zahlreichen elektronischen Gerätschaften Soundtexturen webt, die ambienthaft an einem vorüberziehen. Es fühlt sich an, »als ob man am Meer säße und sein verrücktes Leben in Slow Motion vorüberziehen sähe«, findet Liner-Notes-Autor Tommy Denys. Da ist was dran und Bertrand hat’s auf »Manes« drauf, zitiert anfangs Morton Feldman und György Ligeti im »Battista Mist« oder vollführt einen Minimal-Music-konformen »Delayed Monolog«. Besonders fabulös gelingt das Outro »Manmaipo«. Darin trifft die zunächst seufzend-wehklagende Stimme von Claire Vailler auf mehrere geloopte Bassklarinetten auf scheinbar vielerlei Ebenen. Das Aushauchen von Vaillers Vokalisen verschmilzt magisch damit und nachdem ihre Stimme klarer wird, entfleuchen die final gespenstischen Bassklarinettensounds. Faszinierende Klangsprache aus Brüssel!
Ian William Craig: »Red Sun Through Smoke« (FatCat Records)
Betörend schön ist Ian William Craigs »Red Sun Through Smoke«, gewidmet seinem Großvater, der während der konzentrierten Aufnahmesession verstarb, und weiteren Verunglückten und Unglücklichen. Betrübt klagender Gesang, fragiles Pianospiel, zart distorted, und schleichend störrisches elektronisches Rauschen sind die Ingredienzen seiner ins Jenseitige driftenden hohen Kunst. Um damit zu überzeugen, benötigt der Komponist/Sänger aus Vancouver nur wenig: 4-Track-Kassettenrecorder und Studio Looper. Bei den Lyrics ließ er sich vom Abschiednehmen leiten. Nicht umsonst heißt ein Song »Open Like a Loss«. Trotz Kümmernis und Gram weist der Silberling einen metaphysischen Weg aus dem Tal, hat eine unglaubliche Tiefe und hinterlässt einen in einem glückselig machenden Schwebezustand.
Clarice Jensen: »The Experience of Repetition as Death« (FatCat Records)
Dieser hält an auf Clarice Jensens »The Experience Of Repetition As Death« – der geniale Albumtitel ist einem Gedicht der radikal-feministischen Poetin Adrienne Rich aus 1971 entnommen. Wiederholung nicht als Drone, sondern als majestätisches, erhabenes Fließen. Während viele Menschen Drones als nervig empfinden, tut sich im Werk der Cellistin aus Brooklyn ein ozeanisches Gefühl auf. Ihre Loops gleiten ineinander in organisch morphender Wellenform. Dezent und unaufgeregt strömt der Klang und einmal mehr dämmert mir, dass vom Konzept her nicht nur Sigmund Freuds Psychoanalyse im Spiel ist, sondern ein Reflektieren über die kräfteraubenden Anstrengungen des Menschen, um aus dem Alltag voller Wiederholungen ausbrechen zu können. So ist »Holy Mother« nicht nur die tibetische Bezeichnung des Mount Everest, sondern auch im sich auftürmenden Orgelanschwellen eine Widmung an die zahlreichen dort ums Leben gekommenen Bergsteiger*innen. Und »Metastable« widerspiegelt die sich wiederholenden Pflegetätigkeiten für Jensens an Leukämie zu Tode gekommene Mutter mit dem Anklang an die repetitiven Beeps lebenserhaltender Gerätschaften im Hospital. Dieses zentrale Mittelstück strahlt eine innere Ruhe aus, die sich gleichsam metaphysisch Bahn bricht.
Yair Elazar Glotman & Mats Erlandsson: »Emanate« (FatCat Records)
Nun, dieses Innehalten lässt auch an Jóhann Jóhannson gedenken. Dieser isländische Komponist weilt schon seit 2018 nicht mehr unter den Lebenden, doch führen Yair Elazar Glotman & Mats Erlandsson auf »Emanate« seine Vision fort. Der Wahlberliner Weggefährte Jóhannsons und der Stockholmer Modular-Synthesis-Komponist spannen ein statisches Energiefeld, in dem digitales Shiften (das auf verfremdeten Zither- und Stringgeräuschen basiert) auf analog eingespielte Parts trifft. Mit Hilary Jeffery (Posaune), Lucy Railton (Cello), Liam Byrne (Viola da Gamba), Simon Goff (Violine) und Yair Elazar Glotman (Kontrabass) wurde »Emanate« beim CTM Festival in Berlin aufgeführt und auch das Studioresultat ist beeindruckend. Die analogen Sounds entströmen gleichsam dem elektronischen Klangfeld und verweben sich in wechselnden Texturen immer wieder damit. Dass dann im Stockholmer EMS-Studio und dem Royal College of Music noch Viktor Orri Arnarson (Viola), Sara Fors (Vocals) und Maria W Horn (Orgel) mitwirkten, ist besonders gut im rauschhaften »Procession« wahrzunehmen.
Julius Aglinskas/Apartment House: »Daydreamer« (MIC Lithuania)
Einen klareren Aufnahmeprozess wählte der britische Musiker und Produzent Anton Lukoszevieze für »Daydreamer«, das erste Album des litauischen Tonsetzers Julius Aglinskas. Auch wenn die verhallt tropfenden, verklingenden Pianoläufe der Ausgangspunkt sind, aus dem die langsame, elegische Musik Aglinskas entspringt, so setzen in den besonders melancholischen Passagen die Streichinstrumente von Lukoszeviezes neunköpfigem Ensemble Apartment House die Konturen. Kongenial umgesetzt wird die klangliche Morbidezza auch im Album-Artwork: Am Inner Sleeve steht der bärtige Aglinskas verloren auf einem eisernen Stiegengeländer, das in einen Wald führt, und das S/W-Cover illustriert die schwermütig-nostalgischen Klänge noch schöner: Der Blickwinkel des Fotografen Lukoszevieze aus einem O-Bus in Vilnius, in dem runterrinnende Regentropfen die großen Fenster trüben, richtet sich zwar auch auf eine Passagierin, doch gilt dieser ebenso einem Altbau, dessen beste Zeiten wohl bereits passé sind.
Field Works: »Ultrasonic« (Temporary Residence)
Schweben auf andre Art tun Fledermäuse, deren Echolotungen als Quellenmaterial für den Tonträger »Ultrasonic« von Field Works (Temporary Residence) dienten. Hinter Field Works steckt Stuart Hayatt, der auf diesem Album mit zahlreichen Avantgardist*innen und elektromusikalischen Grenzgänger*innen kollaborierte. Deren jeweilige Eigenarten kommen auf den einzelnen Tracks sehr gut zur Geltung. Etwa die verspulten Eluvium, die beseelte Harfenistin Mary Lattimore oder Machinefabriek. Die ultrasonischen Fledermaus-Echos haben sich mir zwar nicht erschlossen, aber die kleinen Field-Works-Universen vermitteln Hörwonnen und Hauptsache ist ja die Teilnahme von »Ultrasonic« am breit angelegten Storytelling-Projekt, das gefährdete Fledermäuse in Indiana unterstützt und diese Causa publik macht.
Bad Stream: »Sonic Healing« (Antime)
Bad Stream nennt Martin Steer sein Vorhaben, in dem befreundete Musiker*innen zu einem simplen Gitarrenloop ihre eigenen Sounds beisteuern. Das ganz Besondere daran ist, dass Steer das Ausgangmaterial, das oft in der Geschwindigkeit manipuliert wurde, mit sehr eigenwilligen Klangausbauten zu einem therapeutischen Soundtrack verarbeitet. »Sonic Healing« ist die Übersetzung von Empathie, der eigenen Kraft- und Machtlosigkeit in Klang. Musik für die nach einem Schlaganfall rekonvaleszente Mutter. Die Improvisationen mit Stimme, jeweils zwei Geigen und Saxofonen, Klavier, Kontrabass, Percussion und einen Roland TR-606 werden in einen ambienthaften Flow gegossen. Electronica trifft auf freiere Klänge, doch bleibt die Musik im spirituellen Fluss. Sehr anregend ist übrigens auch das Cover-Artwork des aus dem Iran stammenden Medienkünstlers Arash Akbari.