Jlin © Glasspiegel
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HYPERREALITY – avancierte Clubmusik im Fest

Das neue Musikformat im »Fest« der Wiener Festwochen empfängt global vernetzte Hypercommunities mit offenen Armen - von 24. Mai bis 27. Mai 2017 im Schloss Neugebäude. Das festliche Line-up inklusive Timetabe gibt’s als PDF im Anhang.

Radikale Schritte wagen will der Wiener Kulturstadtrat Andreas Mailath-Pokorny mit der Neuausrichtung der Wiener Festwochen. Nun gut, besser spät als nie. Unter dem neuen Intendanten Tomas Zierhofer-Kin, der das Donaufestival in Krems bis einschließlich im Vorjahr famos leitete und zu einem der fortschrittlichsten Festivals weltweit machte, nimmt das Theatergroßereignis popkulturelle Züge an.

Prekär, denn Pop ist längst schon museumsreif. Spätestens seit dem Ableben von Kurt Cobain Mitte der Neunziger dreht sich das Big Business morbide im Kreis, wird nahezu ausnahmslos wiedergekäut, Neuartiges findet sich nur selten und wenn, dann bloß in minimalen Dosen. Darüber hinaus wird selbst der große Bob himself nicht müde, für Altersheiminsassen ein überkommenes »America first« zu predigen und mit bereits fünf Alben die verstaubte Tin Pan Alley als ewig zentrales und heilbringendes Empire auszurufen.

Genreübergreifend offen

Doch halt, ganz anders in der Elektronica, dort verknüpfen sich heterogene Musikzellen, wohin man schaut: neben der geänderten Produktionsweise, sprich Digitalisierung, ist die essenzielle Veränderung zu vorangegangenen Musikrevolutionen jene, dass man sich nicht auf einen Musikstil begrenzen lässt und den Musik-Aficionados nicht ein Musikgenre als zentral und allen anderen überlegen verklickert. Die Hyperwelt der Electronica funktioniert stattdessen genreübergreifend offen. Und hier herrscht nicht mehr perfide anglo-amerikanische Hegemonie, die alles andere als Rest der Welt diffamiert, sondern Égalité.

Im neuen Festivalformat unter dem Titel HYPERREALITY wird an vier Abenden, vom 24. bis 27. Mai 2017, experimentelle elektronische Musik in einem Kontext mit globalen Clubkulturen auf mehreren Bühnen im Schloss Neugebäude dargeboten. Als Hauptverantwortliche dafür holte man Marlene Engel in die Crew. Engel und Zierhofer kennen sich beruflich schon seit ihrer Zusammenarbeit beim Donaufestival, für das sie ab und an Bühnen kuratierte. Engel veranstaltet die Eventreihe BLISS, arbeitete bereits für das Elevate in Graz sowie für jeweils ein Event mit Janus (Berlin) und Naafi (Mexico City) zusammen. Deshalb war es nun auch naheliegend, dass die Expertin für Clubmusik beauftragt wurde, in diesem noch größeren Rahmen endlich wieder auch für Wien ein am Puls der Zeit befindliches Popmusik-Event zu initiieren.  

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Tomasa Del Real © Pequintana

Weltumspannend vernetzt
Der Club als paradigmenfreier Raum, in dem sich jeder neu erfinden kann und gesellschaftliche Zwänge und Mechanismen außer Kraft gesetzt werden, ist zwar im Feuilleton noch immer nicht ganz angekommen, für Engel und die digitale Musikwelt ist er aber längst keine Utopie mehr. Global vernetzte Musikergemeinden und diverse Hypercommunities befördern »Future« in den Clubraum. An jedem der vier Abende wird eine hyperlokale Community als Event-Pulsgeber gefeatured, beginnend mit dem portugiesischen Label Príncipe. Am Eröffnungstag gastieren außerdem noch Holly Herndon, Jlin – die Footwork-Produzentin wird skug.at ebenso ein Interview geben wie die Príncipe-Macher  -, Raime, Tropic of Cancer, Equiknoxx, Carla dal Forno u. v. m.

Am zweiten Tag wird auf Balacore, eine Verbindung aus dem Bala Club aus London und Staycore aus Stockholm, fokussiert. Außerdem spielen Forest Swords, Nite Jewel sowie Paula Temple. Tags darauf vereint der digitale Staat NON Worldwide afrikanische und in der Diaspora lebende MusikerInnen. Des Weiteren sind Jung an Tagen und Rezzett zu hören. Am Abschlussabend wird die New Yorker Reihe GHE20GOTH1K vorgestellt. Weitere bemerkenswerte Acts sind Merzbow/Keiji Haino, Princess Nokia und Tomasa Del Real.

Schubladen sind überflüssig
Welche Acts spielen auf welchen Bühnen, nach welchen Kriterien wurden diese und die darauf spielenden Acts angeordnet? Einerseits natürlich nach Labels, aber zudem? Erteilen wir einmal der Kuratorin Marlene Engel selbst das Wort:

»Es wird an jedem Tag, außer am zweiten, drei Bühnen geben, die parallel bespielt werden. Auf den Bühnen stehen sich quasi schon verschiedene Richtungen und Szenen gegenüber.« Seit geraumer Zeit gibt es (vorrangig) bei Festivals spannende neue Live-Hybride: digitale Elektronik-Acts, die live zudem (traditionelle, analoge) Instrumente bedienen. Auch bei der Eröffnungsproduktion wird dies der Fall sein: Battle-ax spielt Violine, verwendet aber auch Effektgeräte und Stilmittel, die an Elektronik-MusikerInnen gemahnen.

»Bei HYPERREALITY findet sich eine große Bandbreite an MusikerInnen, Genrezuweisungen erweisen sich als überflüssig. Dr. Rubinstein legt beispielsweise mit Platten auf und ist extrem skilled im ›klassischen‹ Mixen von Techno-Sounds, während mit GHE20G0TH1K’s Venus X und Total Freedom zwei DJs zu Gast sind, die ihre CDJ 2000 CD-Player wie Instrumente benutzten, gleich auf vier Stück spielen, Musik collagieren und Beats beziehungsweise Ausschnitte loopen. Paula Temple hat wiederum ein sehr spannendes Hybrid-Set aus DJ- und Live-Elementen.

Es gibt Produzentinnen wie Fauna oder Lotic, die digital produzieren und extrem gute Arrangements machen, aber auch Acts wie Alpha Tracks, die analog elektronische Musik produzieren. Mit Merzbow, der zusammen mit Keiji Haino und dem Drummer Balázs Pándi auftritt, ist eine Noise-Legende zu Gast, die stark instrumental arbeitet. Instrumental-Elemente finden sich auch in tanzbareren Band-Formaten wie Tropic of Cancer, die ja live echt ein Crowdpleaser sind, oder Raime sowie in poppigeren Acts wie Nite Jewel und Forest Swords, die beide gerade großartige neue Alben veröffentlicht haben. Es gibt auch viele VokalistInnen am Festival. Darunter Holly Herndon, die gleich mit einem zehnköpfigen Chor auftritt.« (Holly Herndon wurde bereits 2013 im skug vorgestellt)

HYPERREALITY 24: Holly Herndon

HYPERREALITY 24: Raime

HYPERREALITY 25: Forest Swords

»Es ist viel diskutiert worden, wie das Internet die Musik zerstört, aber in Wahrheit waren es ja nur die Major-Labels, die wirklich darunter gelitten haben, dass Musik nicht mehr durch kapitalistische Strukturen vermarktet werden muss. Und die ganze Jugendkultur, die ganze Musikkultur, profitiert davon, dass sie im Internet frei ihre Musik vertreiben kann. Man ist vernetzt und so konnten sich total hyperlokale Szenen bilden.« Wer findet das nicht toll, das wirft aber dennoch die Frage auf: Wovon wollen die MusikerInnen dann leben?

»Genau das will ich gern herausfinden. Es bringt jedoch nichts, sich ewig ein System zurück zu wünschen in dem es noch funktioniert hat, mit dem Verkauf von Musik, Daten oder physisch, genug Geld zu verdienen, indem man z. B. den Zugang zum Internet weiter restringiert, sprich digitale Grenzen baut, die den Zugang zu Musik und damit Kunst für die Kapitalschwächeren erschwert. Bei HYPERREALITY haben wir beispielsweise zwei bis drei Auftragsarbeiten und Kompositionsaufträge, in denen lokale Musikerinnen zusätzlich zu ihrem Auftritt Budget bekommen, um neue Musik und Inhalte zu produzieren – das ist für mich ein neuer Weg, wie auch Festivals nachhaltig Musik unterstützen können. Die Showcases geben Communities Freiraum, zu arbeiten und ihre Vision für ihr Label oder Event weiter zu gestalten. Musiker wie TCF und Mat Dryhurst, der am Festival zusammen mit Colin Self in der Band von Holly Herndon auftreten wird, denken viel darüber nach wie ein dezentraler Musikvertrieb aussehen kann.«

Ebenfalls am letzten Tag findet sich beim Event von GHE20G0TH1K der aus Los Angeles stammende Total Freedom mit seinem konfrontationsfreudigen Set, in dem R&B mit Rap, Grime und Ballroom House zusammenrummst. Und zu guter Letzt soll nicht auf Tomasa Del Real, eine der namhaftesten Vertreterinnen der Reggaetón-Szene Chiles, vergessen werden: »I’m here and off the now, and right now is the future.«

HYPERREALITY 27: Klitique

HYPERREALITY 27: Total Freedom

HYPERREALITY 27: Tomasa Del Real

Und zum Abschluss noch ein Programmtipp abseits der HYPERREALITY-Reihe: In der neuen Festwochen-Plattform »Akademie des Verlernens« analysiert das Praxisseminar »Politizing Beyoncé« im Event »Black Feminism & the Music Industries» das Album »Beyoncé« (Termin: 19. Mai 2017, 18:30 Uhr, Sprache: Englisch) und am darauffolgenden Tag ihr Album »Lemonade« (Termin: 20. Mai 2017, 18:30 Uhr, Sprache: Englisch). Ort: Akademie des Verlernens im Performeum. Eintritt frei. Begrenzte Platzanzahl – first come, first served.

Links:
www.festwochen.at/programm/detail/hyperreality
#24 | #25 | #26 | #27
www.festwochen.at/en/programme/detail/politicizing-beyonce

HYPERREALITY Line-up und Timetable als PDF

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Home / Musik / Artikel

Text
Walter Pontis

Veröffentlichung
20.05.2017

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