Der Meister zuerst. Aaron Funk, alias VENETIAN SNARES, kredenzt auf seiner aktuellen CD »The Chocolate Wheelchair« (Planet Mu/ EFA) einen Noise-Schokoriegel, der, mit Pop-, Gabba- und Dub-Partikeln angereichert, problemlos das Zeug für eine aurale Lieblingsspeise hat. Die zehn Tracks katapultieren Venetian Snares in die Topkategorie der internationalen Liga des Breakbeat-Noise-Jungle. Es wird auch nicht vor Queen-Samples haltgemacht, Distorto-Breakbeats bilden das Gerüst, Akufen-ähnliche Samplecollagen die Substanz. Gegen Ende gar wird das Werk noch ziemlich ruhig und electroid. Insgesamt eine feine, spaßige, poppige Sache, die einmal mehr zeigt, wie gut doch Planet Mu, wo auch Aphex Twin mitbeteiligt ist, dasteht. In eine ähnliche Kerbe schlägt das kleine, feine Berliner Label Ad Noiseam (Vertrieb A-Musik), wo Matthew Jeanes als LARVAE mit »Fashion Victim« seine Abneigung gegen das stumpfsinnige, oberflächliche Fashion-Biz mit musikalischen Mitteln auszudrücken weiß. Hier dominiert ein schleppender, noisiger Groove, der so gar nichts mit Kaffeehaus-Chillen zu tun hat – eher eine kräftige Portion Beklemmung bei dem/r HörerIn hinterlässt. Zehn Stücke gegen Lagerfeld. Aus dem selben Stall kommt der »teenage robot« TAMVRED, dessen Mini-CD/ EP »Viva 6581« in etwas andere Fahrwässer gerät – namentlich sind die vier vorliegenden Stücke trotz massivem Distortion-Gebrauch ungemein eingängig und poppig. An Eurodance und Trance erinnernde Synthie-Flächen treffen auf hektische, schwere Breakbeats. In einer besseren Welt als der unsrigen würden diese Nummern die Verkaufscharts anführen. »Volume 1993 – 2003« (Moving Shadow/ EFA/ Ixthuluh) – zehn Jahre und kein bisschen schlecht: Das war und ist die Musik von Rob Haigh alias OMNI TRIO, der von Beginn seiner Karriere als Hardcore- (jaja, so hieß das damals noch …) bzw. Jungle-Producer kompromisslos eigenständig das Rauhe (gesampelte Breakbeats) und das Zarte (Vocals, Strings) zu einer wundervollen Melange vermischt. Tracks wie »Renegade Snares« oder »Soul Promenade« sind nicht nur Jahrhundert-Klassiker, sie wurden zudem, genau wie Detroit-Techno, auf einem für heutige Verhältnisse lächerlichen Equipment eingespielt. Bezeichnenderweise kennen heutige D’n’Bass-Heads Omni Trios Supertracks nicht mehr. Technologiefetischismus, Konformismus und das stumpfe Erfüllen von Erwartungshaltungen, das heute in der entsprechenden Szene dominiert, hat Rob Haigh – wenig überraschend – nie besonders interessiert. Diese DoCD (die zweite gemixt und noch besser, weil noch mehr Tracks) zeigt sehr schön, dass Genres in ihrer Beginnzeit bar jeglicher Definition und Ausgrenzung immer am interessantesten sind. Doch mensch muss sich nicht von den später unvermeidlich einziehenden Genre-Begrenzungen beschränken lassen, auch dies zeigt Omni Trio, der sich für Bandwagon-Jumping immer zu schade oder zu schlau war. Das Manifest einer besseren musikalischen Zukunft, die so natürlich nie stattgefunden hat! Unbedingte Kaufempfehlung!
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