Japan ist das Land der aufgehenden Sonne und sicherlich ganz anders als Lettland. Dort geht die Sonne schon aus geographischen Gründen früher unter. Aus diesem Grund haben sich manche Menschen dafür entschieden, die Not zur Tugend zu machen und die finsteren Stunden zu nutzen, um sie zu vertonen. Ode an die Finsternis – wie das klingt, zeigt die Band 1/2H 1/2W, die jetzt ihr erstes Album veröffentlicht hat. Aber auch sonst hat sich im vergangenen Monat einiges getan. Virtuelle Klangwelten wurden durchschritten, Steingärten belagert und barocke Weltraumopern komponiert. Grundrauschen zeigt die wichtigsten Auszüge davon. Mit einem speziellen Fokus auf das Land der aufgehenden Sonne.
Virtual Forest – »Telling the Bones« (Yerevan Tapes)
Wir reden von virtuellen Realitäten, die in der realen Virtualität existieren. Nichts ist fassbar und doch erscheint es real. Der Wald, die Bäume, ein Weg durch die Mitte der Blätter über dir. Du bist alleine unterwegs, hast dich verirrt und hörst urplötzlich Geräusche. Quaken da in der Ferne nicht diese kleinen, leuchtend-giftigen Frösche, die du aus dieser Naturdoku auf Netflix kennst? Virtual Forest bewegt sich mit »Telling the Bones« einmal mehr in einem abstrakten Wechselspiel entfremdeter Klänge aus fremden Klangwelten. Im Gegensatz zu Bernacchias früheren Arbeiten passiert das auf »Telling the Bones« aber viel subtiler, vor allem weil sich über alles ein grollender, ewig präsenter Drone-Schleier legt. Über zwei jeweils über 15 Minuten lange Seiten werden sehr abwechslungsreiche Collagen angefertigt. »Breath of the River« ist direkter und zeigt so etwas wie einen 360-Grad-Blick über die Dächer der Welt. Von ganz oben trällert eine helle Melodie. Was so klingt wie eine eingepackte Trompete bei akuter Luftknappheit, wird in steter Wiederholung neben allerlei Gezirpe und Gekreische durchexerziert, ehe es im Rauschen des anschwellenden Grollens verschwindet. Dagegen ist »Energy from the Earth« wie der verstohlene Blick auf ein entfernt stattfindendes Ritual. Die gesampelten Gesänge sind nur noch schwache Fetzen im luftleeren Raum. Ringsum treibt das rhythmische Pochen der Trommelzeremonie an. Aber auch das verschwimmt irgendwann in den rauschhaften Schleiern der Umgebung. Die Natur holt sich zurück, was ihr immer gehört hat. Eine nicht-teilnehmende Beobachtung in musikalischer Ethnologie.
Sugai Ken meets G禁禁禁禁 – »岩石考 -yOrUkOrU-« (Yerevan Tapes)
Was heißt eigentlich »sticks, stones and breaking bones« auf Japanisch? Keine Ahnung, aber es dürfte in etwa so klingen wie das, was Sugai Ken auf seinem neuen Album produziert. Der Japaner schickt einen im Crash-Kurs-Verfahren durch die acht Yoga-Glieder und auf direktem Wege zurück. Böse, böse, dabei macht er das beileibe nicht zum ersten Mal. Seit seiner 2016 auf Lullabies for Insomniacs erschienenen Platte ist Ken Sugai ein omnipräsenter Gedankenverdreher und deshalb allen psychonautisch angehauchten Ausflügen erhaben. »yOrUkOrU« nimmt sich da genauso wenig aus, ist aber – bevor jetzt falsche Mutmaßungen entstehen – ganz sicher keine Ambient-Platte im eigentlichen Sinn. Das waren seine anderen Alben übrigens auch nie! Dafür ist Sugai einfach zu wenig auf der ätherisch-weichen Seite der Macht gebettet. Allerdings ändert das wenig bis gar nichts an der Tatsache, dass mit den unterschiedlichsten Zügen des sphärischen Spektrums hantiert wird. Es tröpfelt, trippelt und watschelt nur so vor sich hin. Krach, bumm, schepper-depper. Schon wird der nächste Vorhang gelüftet, hinter dem sich unter einem doppelten Boden ein geheimer Zen-Garten versteckt. Teilweise hat das Musique-concrète-artige Züge, teilweise ist das völlig gaga. Vor allem auch, weil der Japaner einen ganz und gar komischen Sinn für Humor unterhält. Wer am Ende des vierten Stücks nicht nach dem eigenen Smartphone greift, ist ein Banause oder ganz einfach materiell depriviert. Sticks, stones and breaking bones – auf Japanisch!
Nikmis – »#17« (Third Kind Records)
Das Zeitalter der wirklich guten Weltraumopern ist auch schon wieder ein Weilchen her. Dabei wäre ein Revival längst überfällig – und lustig obendrein. Nikmis hätte da auch schon den passenden Soundtrack parat! Mit »#17« wird wieder mal auf dem gegenüber experimentellen Versuchen aller Art immer freundlich gestimmten Label Third Kind Records veröffentlicht. Gute Entscheidungen sind eben solche, die sich jeder Überlegung entziehen. Und wo sollte dieses wild leiernde Heimorgelorchester des postmodernen Barocks denn bitteschön sonst seine Pfeifen trillern lassen? Was so klingt, als hätte sich Angelo Badalamenti dazu hinreißen lassen, in barocken Kleidern die Augsburger Puppenkiste zu vertonen, ist nämlich ziemlicher Irrsinn. Macht aber durchaus großen Spaß, weil irgendwie retro und futuristisch zugleich. Außerdem beschleicht einen andauernd das Gefühl, diese aufgezogenen Synthesizer schon einmal irgendwo gehört zu haben. Das hängt – Zelda sei Dank – damit zusammen, dass sich unweigerlich die verschiedensten Referenzen zur frühen Videospielästhetik ergeben. Da spielte man so etwas noch zuhause und auf Fernsehern, die so dick wie ganze Wände waren und die Wohnung im Winter einigermaßen warmhielten, sodass auch die Nachbarn noch etwas davon hatten. Früher ging es wirklich allen gut! Die Musik von Nikmis ist jedenfalls eine Bereicherung und trägt zu allgemeiner Begeisterung bei. Nicht, weil der Japaner das Rad zur Gänze neu erfindet. Er versteht es ganz einfach besonders gut, mit seinen modularen Synthesizern auf einer Welle der Harmonie dahinzugleiten. Klingt kitschig, ist es auch. Wer davor nicht zurückschreckt, wird seine helle Freude daran haben.
1/2H 1/2W – »Black Pelvic Fluids« (Bezirk Tapes)
Wer hätte das gedacht? Auch in Lettland wird Musik gemacht – und derlei Erzeugnisse sind wider aller Erwartungen tendenziell eher auf der finsteren Seite der Gemütsskala zu verorten. Bezirk Tapes haben jetzt erstmals die Improvisationen der fünfköpfigen Formation 1/2H 1/2W veröffentlicht. Und ja, die geben sich ganz schön viel Mühe, um so zu klingen, wie sie klingen. Das ist geordnetes Chaos, eine verwobene Entropie der Klänge und Klangfetzen, Samples und Spoken-Word-Wuseleien. Ziemlich schwierig, sich da auf etwas zu konzentrieren, und ganz, ganz sicher keine verklebte Zuckerwatte im Ohr. An manchen Momenten glaubt man deshalb gar nichts mehr und hört stattdessen dabei zu, wie sich 25 synchron abgestimmte Presslufthämmer in augenscheinlicher Symbiose dem fügig machen, was von einem Saxophon nach einem Ritt durch die lettische Prärie übriggeblieben ist. Weil sich Düsteres gern mit Düsterem paart, blinzeln ab und an auch noch die zerschnipselten Stücke irgendwelcher Black-Metal-Unterwelten auf, die sich aber ebenso wie jene frei durch die Kanülen geblasenen Jazz-Tollereien ziemlich gut daneben machen. Musik für nihilistische Wesen aller Art und solche, die es noch werden wollen.
Check!!! – »blue twenty-seven« (Blue Tapes)
Weil aller guten Dinge generell immer und überhaupt drei sind, hier noch einmal Musik aus Japan. Das englische Label Blue Tapes veröffentlichte nämlich kürzlich ein Album der japanisch-englischen Combo Check!!! Die Band gilt zwar mittlerweile als aufgelöst, offensichtlich dürfte aber doch das eine oder andere Demo die aktive Zeit heil überstanden haben. Zumindest hat das ehemalige Bandmitglied Teruyuki Kurihara die Archive durchforstet und sieben Stücke geborgen, die andeuten, wie breit und divers die Einflüsse der Band damals gestreut waren. Ausgehend von live eingespieltem Acid-Techno spannte das Trio eine ziemlich wilde Mischung aus krautig ausgewaschener Gitarrenmusik, aus dem Äther gefischten Radio-Sounds und den nur scheinbar starren Prinzipien des Techno-Arrangements. Die sieben Stücke auf »blue twenty-seven« sind dementsprechend mehr als eine stark komprimierte Zusammenfassung der Gesamtausgabe zu hören und klingen manchmal so, wie The Durutti Column in ihren Anfangsjahren klangen. Mit Art-Rock hat das freilich wenig zu tun, wir sprechen da schon eher von den verträumten Seiten dieser Phase, die auch spätestens mit »The Return of …« wieder zu Ende ging. Aber das ist eine andere Geschichte. Check!!! könnten teilweise als arschglatte Coverband durchgehen, wären da nicht diese teuflischen Ausflüge in die Feedback-verzerrten Weiten des Krautrocks. Geht tief, taugt sehr!
»Grundrauschen« im Radio
»Grundrauschen« ist nicht nur der Name dieser Kolumne, sondern auch ein Gefühl, das sich in und mit Musik beschreiben lässt. Auf Radio Orange 94.0 wird jeden dritten Dienstag im Monat ab 21:00 Uhr genau diesem Gefühl nachgespürt – mit interessanten KünstlerInnen und experimenteller Musik, die sich dem Mainstream weitläufig entzieht. Je größer die Verstärkung, umso deutlicher das Grundrauschen.