Auschwitz II Birkenau © pzk net <a href="https://creativecommons.org/licenses/by/3.0/" target="_blank" rel="noopener noreferrer">CC BY 3.0</a>
Auschwitz II Birkenau © pzk net CC BY 3.0

Geschichte nutzen statt vergessen

Am 27. Jänner 2020 jährt sich zum 75. Mal die Befreiung der Überlebenden von Auschwitz. Eine Reflexion über den »Internationalen Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust« und die Bedeutung der Erinnerungskultur in heutiger Zeit.

Am 27. Jänner 1945 wurden die Überlebenden des Konzentrationslagers Ausschwitz-Birkenau von sowjetischen Truppen befreit. Vor diesem Geschichtsbackground erklärte die Generalversammlung der Vereinten Nationen diesen Tag vor 15 Jahren zum »Internationalen Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust« (»International Holocaust Remembrance Day«). Seither finden rund um den 27. Jänner in vielen Ländern Gedenkveranstaltungen statt.

In ihrer Erklärung zum Gedenktag hielt die UN-Generalversammlung fest, »dass der Holocaust, bei dem ein Drittel des jüdischen Volkes sowie zahllose Angehörige anderer Minderheiten ermordet wurden, auf alle Zeiten allen Menschen als Warnung vor den Gefahren von Hass, Intoleranz, Rassismus und Vorurteil dienen wird«. Weiters forderte man alle Mitgliedstaaten »nachdrücklich« dazu auf, »Erziehungsprogramme zu erarbeiten, die die Lehren des Holocaust im Bewusstsein künftiger Generationen verankern«, um zu verhindern, »dass es in der Zukunft wieder zu Völkermordhandlungen kommt«. Wobei man vorbehaltlos »alle Manifestationen von religiöser Intoleranz, Verhetzung, Belästigung oder Gewalt gegenüber Personen oder Gemeinschaften aufgrund ihrer ethnischen Herkunft oder religiösen Überzeugung« unabhängig davon, »wo sie sich ereignen«, verurteilte.

Vorangegangen war dem u. a. eine Beschlussrede des deutschen Bundespräsidenten Roman Herzog, der bereits 1996 den 27. Jänner zum »Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus« erklärte. Wobei sich der österreichische Nationalrat 1997 anders entschied und den 5. Mai als »nationalen« Gedenktag festlegte, da dies der Befreiungstag des Konzentrationslagers Mauthausen (OÖ) war. In Österreich wird der 5. Mai seit 1997 als nationaler »Gedenktag gegen Gewalt und Rassismus im Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus« begangen.

Erinnerungskultur als Technik lebenslangen Lernens
Dass Gedenken und das Lernen aus relativ junger europäischer NS-Geschichte nicht nur in eintägigem Gedenktagrahmen von Relevanz sind bzw. jemals sein können, ist sowohl der Komplexitäts- und Auswirkungsdimension der NS-Zeit geschuldet wie auch dem Umstand, dass das Gedanken- und Theoriefundament des Nationalsozialismus seither stets nur eingedämmt werden, aber nie ganz zum Verschwinden gebracht werden konnte. Belege dafür liefern z. B. aktuelle Diskurse, in denen rassistische und unverhohlen nazistische Positionen modernisiert verschlagwortet wieder auf Podien wie in Gesprächen zu hören und im WWW zu lesen sind, wo sie in ablassloser Pervertierung von Begriffen und demokratischen Grundrechten auf kleinere und große Öffentlichkeiten einwirken.

Hervorstechend dabei ist die offenkundige Eskalationsstrategie, Demokratien mit demokratischen Mitteln und Polarisierung bis zur Implosion zu zersetzen. Wozu als Strategie der Stunde in erster Linie der Missbrauch der »Meinungsfreiheit« zählt. So wird »Meinungsfreiheit« von autokratischen Populisten wie auch durch konzertiert agierende Gruppen in unzähligen Desinformationsmedien als »Schutzbegriff« für rassistisches, neonazistisches und menschenverachtendes Gedankengut in ihr Gegenteil verkehrt und zweckentfremdet. Was wir also aktuell erleben, ist das höchst paradoxe Hochhalten von »Meinungsfreiheit« für den Missbrauch und das Ende der Demokratie und ihrer Meinungsfreiheit. (Überdies: Wie willkürlich Rechtspopulist*innen die bestehende »Presse- und Meinungsfreiheit« interpretieren, wurde zuletzt im Ibiza-Video deutlich, wo ein korrupter FPÖ-Parteichef das auflagenstärkste Medium Österreichs verscherbeln und als Parteipropaganda zu missbrauchen trachtete.)

Pervertierungen finden wir aktuell aber auch in der Strategie einer Täter-Opfer-Umkehr. Denn wo die Erinnerungskultur und das Lernen daraus in Wiederholungsschleifen als »überstrapaziert«, »abgelutscht«, »Schuldkult«, »Moral-« oder »Nazikeule« diskreditiert und NS-Opfer damit verhöhnt werden, bedient man sich selbst – und das reichlich und mit dominanzgebarendem Anspruch auf Deutungshoheit – an den Narrativen und (verbalen) Strategien der NS-Zeit. Womit sich in Diskursen oft perfide Inversionsstrategien eröffnen, in denen Antifaschismus als »Faschismus«, Minderheiten und Schutzsuchende als »Invasoren«, Meinungsgegner*innen als »Diktatoren«, Antidiskriminierung als »Diktatur« und seriöse Medien als »Lügenpresse« umgedeutet und dargestellt werden. Wobei in dieser kruden Umkehrungs- und Verallgemeinerungs-»Logik« schon eine Relotius-Causa reicht, um alle Journalist*innen anzuschwärzen.

Erinnern heißt Bewusstsein und Beweglichkeit
Besonders deutlich wird die Umkehrungsstrategie dann, wenn sich menschenverachtend anheizende Parteifunktionär*innen samt ihrer Anhängerschaft nun als »neue Juden« (!) benennen und sich als vermeintliche »Opfer eines neuen Faschismus« als politisch Verfolgte inszenieren. – Wie universell und verbreitet diese perfide Umkehrtechnik Anwendung findet, wird deutlich, wenn nun zu lesen ist, dass doch Umwelt- oder Klimaschutz bloß »Faschismus« wäre oder die 17-jährige Greta Thunberg in Hater-Pamphlets mit Hitler verglichen und als »BDM-Mädchen« bezeichnet wird.

So führte der Erfolg neurechter Parteien – die sich allesamt nicht von Rechtsradikalismus oder neonazistischem Gedankengut abgrenzen können und mit Apokalypsen-Rhetorik abgründige Globalisierungs- und Fremdenängste schüren – leider dazu, dass die Demokratien Europas (bzw. solche, die sich auf dem Papier so heißen) heute fragiler geworden sind. Das Eis, auf dem sie sich befinden, ist folglich 75 Jahre nach der NS-Zeit eher dünner anstatt trittsicherer geworden. Wie groß das aktuelle Gewalt- und Eskalationspotenzial ist, wurde u. a. auch spürbar, als ein italienischer Rechtspopulist mit Maschinengewehr posierte und zum »Marsch gegen die EU« aufrief.

Gedenk- bzw. Erinnerungskultur bedeutet folglich nicht, sich an der Vergangenheit zu orientieren, ihr nachzuhängen und versunken stehenzubleiben. Sie bezeichnet vielmehr wichtige Lernerfahrungen und Denkbeweglichkeit, die ein Erkennen von »alten« Mustern und Strategien auch in modernisierter oder maskierter Form ermöglichen. Wobei eine Mustererkennung von wiederbelebten NS-Strategien eben nur Muster betrifft und nicht jeden, der sich alter, auf schreckliche Weise »bewährter« Strategien bedient, gleich zum neuen »Hitler« macht.

Die Rolle der Medien zur Massenmanipulation
Wenn wir uns nun explizit den Nationalsozialismus, seine Entstehungsgeschichte und (Vorlauf-)Strategien ansehen und diese neben die Vorgehensweisen von einstigen und bestehenden Diktaturen oder »illiberalen Demokratien« stellen, sticht vor allem die Rolle der Medien ins Auge. Denn ohne Medien gibt’s weder Selbstinszenierung noch Machterweiterung noch Anwerbung von Gefolgschaft und Wähler*innen. Und so wurde aus dem im Grunde verschroben daherpolitisierenden Hitler mithilfe einer umfassenden Propaganda-Maschine die Inszenierung eines »Führers« mit »Charisma« und ein immenser Personenkult modelliert.

Wobei anzumerken ist, dass jeder Etablierung eines Unrechtsregimes wie auch speziell des Nationalsozialismus eine Diskreditierung und Einverleibung unabhängiger Massenmedien (damals wie heute: »Lügenpresse!« und Journalist*innen als »Staatsfeinde«) vorausging. Aktuell ist dies auch an den Beispielen Ungarn, Polen, Türkei oder Russland abzulesen, wo unabhängige Medien oder Pressefreiheit im Grunde nicht mehr existieren, die Leitmedien staatlicher Kontrolle unterworfen wurden und regierungskritischen Journalist*innen systematische Verfolgung droht.

Lügenkonstrukte als Merkmale des Wiedererkennens
Wahrheit und Integrität waren weder Freunde Hitlers noch seiner medialen Selbstinszenierung und überbordenden Propaganda. Womit wir bei einem weiteren Lernstück aus der Erinnerungskultur angekommen wären: Der Lüge und ihren komplex verwobenen Konstrukten, die neben dem Personenkult des Naziregimes (wie auch in dem eines Erdogan oder Orban) die eigentliche Hauptrolle spiel(t)en. Sie macht Politiker zu starken Führern und produziert mit der Macht medialer Vorherrschaft Feinde und Bedrohungen in Endlosschleifen. Womit sie für alles verwertbar ist, was ein schon seiender oder noch werdender Autokrat oder Diktator braucht, um mit der Lüge der eigenen Übergröße und Heldenhaftigkeit das Volk zu verführen und euphorisieren.

In diesem Sinn machte Hitler in »Mein Kampf« in den 1920ern unter dem Kapitel »Propaganda« auch klar, dass NS-Medien »nicht objektiv« zu sein haben, sondern »Wahrheit« lediglich als politischer Eigennutz zu verstehen sei, der »ununterbrochen« den eigenen Zielen »zu dienen« hätte. Wobei sich diese eigennützliche »Wahrheit« ganz simplifizierend »nur auf wenige Punkte zu beschränken und diese schlagwortartig so lange zu verwerten« habe, »bis auch bestimmt der Letzte« sich unter den Verschlagwortungen »das Gewollte vorzustellen« vermöge.

Dass dieses mediale Vorgehen kein Schnee von gestern, sondern hochaktuelle Praxis ist, zeigen unzählige dem Rechtspopulismus »dienende« Propaganda-Medien von »pi-news« über »mm-blog« bis zu »jouwatch«, die mit wachsender Popularität neurechter Parteien wie Unkraut im WWW sprießen. So äußerte ein Redakteur des Mediums »Unzensuriert« in einem undercover gedrehten Interview-Video auch ganz unverhohlen, dass der »Unzensuriert«-Redaktion nichts an »unabhängigem Journalismus« und damit objektiver Wahrheitsfindung läge, sondern die Beiträge nur als agitative Unterstützung von rechtspopulistischen »politischen Bewegungen« zu verstehen seien.

Erinnerungskultur als Alarmsignal
Ein Alarmglöckchen müsste folglich läuten, wenn wir angesichts dessen einen Schritt aus unseren Blasen zurücktreten und die heutige größtenteils virtuelle Medienlandschaft als Gesamtbild betrachten, in dem man in noch nie dagewesener Dimension Menschenmassen ebenso informieren wie desinformieren, in Angst versetzen und manipulieren, mobilisieren und auch bewusst radikalisieren kann. Und es sollte schrill bimmeln, wenn Twitter- und Facebook-Kampagnen, bezahlte Troll-Armeen, Bots und Infokrieger-Gruppen unter unzähligen Sockenpuppen-Nicks Angriffe auf unsere Demokratien starten und mittlerweile sogar Wahlen mit gezielten Fake-Kampagnen torpedieren und Wahlergebnisse beeinflussen.

Sich folglich selbst nicht als Instrument einer solchen massenhypnotisch manipulativen Propaganda missbrauchen zu lassen und Verführung durch Angstbilder, pervertierte Begriffsauslegungen und Inversionen zu erkennen, können, sollen und müssen die Lehren sein, die wir aus unserer Geschichte und der Erinnerungskultur beziehen. Aus diesen Lehren geben wir auch den Opfern Sinn. Denn angesichts dessen, welchen Stellenwert die mediale Propaganda im Nationalsozialismus spielte und wie leicht im Vergleich dazu heute Menschen massenhaft emotionalisier- und manipulierbar sind, ist uns die NS-Geschichte medialer Propagandastrategien heute wohl näher, als uns lieb ist.

Erinnern zum Schutz der demokratischen Grundrechte
Erinnerungskultur und das in Geschichte gespeicherte Wissen in Gegenwart und Zukunft als Schutz zur Erhaltung von Demokratien und der Grundrechte aller nutzen zu können, ist in Zeiten von international wachsenden Neonazi-Aufmärschen, in Zeiten von rassistischen Hassverbrechen von Charlottesville bis München, in Zeiten, in denen ein ungarischer Ministerpräsident antisemitische Kampagnen plakatiert und die Minderheiten seines Landes systematisch entrechtet, wichtiger denn je. Umso mehr, da die zuvor noch konservativ gemäßigte Mitte mittlerweile zunehmend mit der Salonfähigkeit rechtsradikaler Begriffe und Positionen verschmilzt und es wie am aktuellen Beispiel in Halle nur mehr eine Holztür ist, die Menschen in einer Synagoge vor ihrer Auslöschung durch politischen Fanatismus schützt.

Genauso dünn wie diese Holztür sind wohl auch die Grenzen, die zwischen dahingesagten Verächtlichkeiten, Vertreibungs- und Gewaltansinnen gegen Minderheiten, Radikalisierung und realen Mordopfern liegen. Erinnerungskultur heißt in diesem Sinne auch: Verantwortung für sich selbst und die eigenen Sprachhandlungen zu übernehmen und anhand von bereits Geschehenem auch gewaltvolle Konsequenzen im Auge zu behalten, die entstehen, wenn aus zu oft wiederholter Aggressivität gegen Minderheiten tatsächlich Anschläge und Mordopfer werden.

Zum Abschluss noch ein Filmtipp zum Thema: »Die Verleugnung« (GB/USA 2016, Regie: Mick Jackson) ist ein auf wahren Begebenheiten basierender Film über den Gerichtsprozess zwischen der Historikerin Deborah Lipstadt und dem Holocaust-Leugner und Geschichtsrevisionist David Irving, der unprätentiös und ohne das übliche US-Pathos perfide Lügen-Argumentationsstrategien und die Schwierigkeiten ihrer rechtlichen Widerlegung thematisiert. Der Film ist von 25. bis 31. Jänner 2020 auf SRF zwei zu sehen.

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