Bodo Hell © Sigrid Landl
Bodo Hell © Sigrid Landl

Faktion statt Fiktion

Bodo Hell kann auf eine lange Geschichte des Schreibens zurückblicken, doch bleibt der österreichische Autor neugierig auf mehr. Im Interview erkunden wir sein Denken und öffnen Möglichkeitsräume, in denen er seine »rhythmische Prosa« ent-deckt.

Café Ritter, 15 Uhr. Reges Treiben auf der Mariahilfer Straße. Zwischen dem Wimmelbild an Menschen rollt mir aus der Neubaugasse ein Fahrrad entgegen. Der Mann mit der ikonischen schwarzen Mütze ist schon von Weitem erkennbar. Bodo Hell begrüßt mich mit einer Frage: »Brot oder Apfel?« Ich wähle zweiteres. Aus dem sportlichen Roll-up-Rucksack zieht der Literat ein Glas mit der Aufschrift »Äpfel Kamptal«. Das Apfelkompott wird zum ersten Gesprächsthema und ein Gefühl, sich schon lange zu kennen, stellt sich schnell ein. Bodo Hell feiert am 15. März 2023 seinen 80. Geburtstag. Der österreichische Schriftsteller, der seit über vierzig Jahren zwischen Dachstein und Josefstadt pendelt, gibt dabei einen tiefen Einblick in die österreichische Literatur- und Musikszene. Und das gleich zweimal: Am 15. März lädt das Porgy & Bess zur »Spätlese«, am 16. März der Aktionsradius Wien zu »Hellwach«. Dass der Literat ein Meister der Wortspiele ist, kristallisiert sich auch im Gespräch heraus. Zwischen Sprichwörtern, Rhythmen und seiner »Faktion« ist es spannend, dem Sprachakrobaten beim Denken zuzuschauen. Das Credo lautet »die Sprachmöglichkeit durch sich durch sprechen zu lassen«. Das Ziel? Zu schauen, was das geschriebene Wort noch möglich machen kann. Im Interview zieht Bodo Hell eine Bilanz über seine Arbeit und erzählt, wie viel Musik in der Sprache steckt, welcher Sprachrausch sein Schaffen bestimmt und warum Friederike Mayröcker sein großes Vorbild ist. 

skug: Wie bist du zum Schreiben gekommen? 

Bodo Hell: Meine Mutter hat mir immer vorgelesen. Und zwar querdurch, meist abseits der Klassiker. Von Goethe etwa nicht »Faust«, sondern »Das Jahrmarktsfest zu Plundersweilen«. Das haben nicht alle gekannt und ich weiß nicht, wo diese Bücher herkamen! Irgendwann kam dann der Moment, wo ich dachte: Das normale Erzählen ist zwar eine interessante Sache, aber Sprache hat viel mehr Möglichkeiten als die Fiktionen, die ich mir ausdenke. Lieber gehe ich auf etwas zurück, das schon da ist: Die anonyme Leistung der Menschheit hat alles schon vorbereitet. Wir müssen es nicht lernen, wie eine Fremdsprache. So kommt es zu sprachlichen Spielen, die einen wundern. Für mich sind da Sprichwörter immer exemplarisch: Einmal bin ich nach Japan gegangen und habe dort einen Professor kennengelernt, der Sprichwörtervergleiche angestellt hat. Ich sagte: »Alte Liebe rostet nicht«, und er meinte: »Genau so heißt es bei uns! Der Rost ist überall der gleiche.« 

Es gibt das Phänomen, dass an verschiedenen Orten der Welt dieselben sprachlichen Spiele auftauchen. Das manifestiert sich in Sprichwörtern.

Aber auch in ganzen Erzählungen! Am 27. Juni ist der »Siebenschläfertag«. Das ist aus der »Legenda Aurea« entsprungen. Da sind sieben Leute eingesperrt und zugemauert worden. Aber sie überlebten, weil sie zu schlafen anfingen und der Hund, den sie dabeihatten, fürs Umdrehen sorgte, um nicht anzuwachsen und damit sie ab und zu aufwachten. Genau die gleiche Geschichte gibt es auch im Koran! Und, und, und. 

Wie erklärst du dir das? 

Schlafforscher*innen haben herausgefunden, dass man die Einstellung des Körpers verliert, wenn man zu lange im Dunkeln liegt. Durch Lichtsignale werden wir immer wieder neu eingestellt. Das ist sicher einer der Gründe, warum du diesen Tagesrhythmus verlierst, wenn du im Dunklen bist. Aufgrund solcher mysteriöser, aber defacto »biologischer« Gründe entstehen Geschichten. 

Erzählungen als Transportmittel für Dinge, die sich Menschen nicht erklären können? 

Und der Kalender! Der ist genauso wichtig. Bei den Evangelischen spielen die Heiligen keine große Rolle mehr. Aber meine Almbauern am Dachstein sind alle evangelisch. Die wissen trotzdem, dass zu gewissen Zeiten im Sommer bestimmte Heiligentage existieren. Es gibt Maria Himmelfahrt am 15. August. Es gibt aber auch Jakob und Anna. Oder Joachim und Anna. Das sind bestimmte Tage, die mit landwirtschaftlichen Dingen in Verbindung stehen. Dazu habe ich ein Beispiel aus Tschechien: Am Annentag, das ist der 26. Juli, gibt es oben schon den ersten Frost. Auf tschechisch heißt das: »Svatá Ana, chladno z rána«, also: »Am Tag der heiligen Anna, ist es in der Früh schon kalt.« Es gibt also überall Wettervorhersagen, die an Heiligengestalten hängen und gereimt sind! Da ist es wurscht, welche Konfession man hat. 

Bodo Hell © Gunter Breckner

Waren es solche Sprachbesonderheiten, die dazu bewegten, dich komplett der Schriftstellerei zu widmen? 

Eigentlich habe ich Orgel studiert, in Salzburg. Dann bin ich aber nach Wien zu Anton Heiller gegangen, der meinte: Wenn Sie sich nicht komplett darauf fokussieren, können Sie es gleich lassen. Wenn du das als Konzertfach machen willst, musst du dem alles opfern. In Wien habe ich aber gleichzeitig Angehörige der Wiener Gruppe kennengelernt. Der Gerhard Rühm hat damals die ganzen Barockdichter wiederentdeckt. Kein Mensch hat die gekannt! Etwa Catharina von Greiffenberg, aus der Nähe von Amstetten. Die hat schon solche Dinge gemacht wie: Fünf gleiche Wörter hintereinander. Oder drei »ck«. Diese ganze Barockdichtung ist mechanisch. Das drückt sich auch in der Musiksprache aus. Man sieht das bei den Chorälen von Bach. Da merkst du, wie eine Ausdeutung des Textes in die Musik hineinfließt. Zum Beispiel die Schlange aus dem Paradies: »Durch Adams Fall ist ganz verderbt menschlich Natur und Wesen«. Diese Schlange, die ist in einer Metastimme drinnen und schlängelt sich durch den ganzen Choral. 

Man sagt auch umgekehrt, dass Musik lyrisch ist. 

Ja, aber da muss man aufpassen! Leute sagen missverständlicherweise immer »lyrische Prosa«. Dabei handelt sich um »rhythmische Prosa«. Dieses falsch verstandene Lyrische, würde ich mit Musil sagen, ist eigentlich ein »po-esln«: Irgendjemand fährt nach Venedig, sieht etwas Schönes und schreibt ein Gedicht. Das ist Gebrauchsliteratur. Das wirklich Lyrische ist aber innerhalb der Sprache verankert.

Das musst du genauer ausführen. 

Das Lyrische greift auf Formen zurück, die es schon in der Lyrik gibt, und füllt sie neu. Wie Hölderlin die Pindarische Ode für das Deutsche. Aber nicht mit der Anmutung, die in der Sache drinnen steckt, sondern durch eine mathematische Mechanik, wie man es spüren darf. Zurückkommend auf die Affektsprache des Barocks und den Bach-Choral: »Durch Adams Fall ist ganz verderbt menschlich Natur und Wesen«. Was macht da das Pedal? Es macht mehrere Septimensprünge. »Hüüüü Hoooo, Hüüüü Hoooo!« Es wirkt aber nicht so, als sei es Programmmusik. Das sind analoge Formeln. Die sind in der Sprache immer schon drinnen. Ein Beispiel dazu: Wenn man sagt: »Das ist ganz passabel, was du machst«, bedeutet es: »Es ist nicht perfekt, aber es geht grad an!« Aber »passabel« hängt ja mit der »Passage« zusammen. Das heißt, du kannst da durchgehen. Und dann kommt die Passacaglia ins Spiel: ein Musikstück ähnlich der Chaconne, wo sich über einem immer gleichen Bass verschiedenste Variationen aufbauen. In Wirklichkeit heißt Passacaglia aber »die Straße hinuntergehen«. Also selbst in den Bezeichnungen für die musikalischen Formen kristallisiert sich das Lyrische heraus.

Das Lyrische als Verschachtelung?

Ich habe mich viel mit Claude Simon beschäftigt. Als ich einmal versucht habe, ihn zu übersetzen, bin ich draufgekommen, dass manche Sprachen in Parenthesen arbeiten und andere nicht: Du kannst mit einem Klammerausdruck im Deutschen immer noch etwas einschieben. Das Französische tut das nicht. Die »clarté« des Französischen wird ja immer gelobt. Also eigentlich wäre sie nicht dafür geeignet. Claude Simon macht aber genau das, deshalb diese endlosen Sätze, bisweilen. Das heißt: Claude Simon macht eine Abschweifung und noch eine, um zu präzisieren. Aber auch das Gegenteil: Es gibt ein berühmtes Buch, das heißt »Les Corps conducteurs«, auf Deutsch »Die Leitkörper«. Da geht es eigentlich um eine Reise nach New York, wo der Protagonist nach einem Bild von Nicolas Poussin Ausschau hält. In dem Buch ist eine Struktur drinnen, wo die Sätze so zerteilt sind, dass alle Schauplätze und Erzählstränge nur ganz kurz angerissen werden, bevor er zum nächsten übergeht. Eine wunderbare Sache! Du liest normal, aber es hüpft die ganze Zeit. Dieser ältere Mann kommt also nach New York und hat schon eine leicht zersplitterte Wahrnehmung. Dort will er unbedingt das Bild »Landschaft mit dem blinden Orion« sehen. Bei Poussin ist es jedoch immer so: Die Szene, die wichtig ist, »versteckt« sich etwa im rechten Eck unten. Auf dem Bild sind riesige Baumkronen und ein Riese geht durch die Natur. Das ist Orion. Und weil er ein Sternbild ist, muss er untergehen, wenn die Morgenröte heraufkommt. Er hat aber einen kleinen Weiser auf der Schulter, Kedalion, damit er weiß, wo er hingehen muss. Gleichzeitig muss er seine Existenz aufgeben, damit er in der nächsten Nacht wiederkommen kann. Das kommt alles aus diesem Bild von Poussin heraus. Du kannst natürlich trotzdem nur das wunderbare Naturbild sehen. Ein anderes Bild handelt von den Argusaugen! Da siehst du den Argus im Eck liegen, geköpft, der Kopf liegt daneben, aber aus der Köpfungswunde kommt ein Pfau heraus, der auf seinem Gefieder schon wieder viele neue Augen hat. Was für ein schöner Gedanke! 

Poussin als Metapher für die Sprache? 

Du legst einen Stein hinein und kommst dann drauf, wie das alles miteinander zusammenhängt. Die Formulierungen sind schon vorgeprägt. Es ist drinnen, du musst es nur rausziehen und brauchst ein System, um es zu sammeln, und einen Faden, an dem du es aufhängst. 

»STADTSCHRIFT«, 1983/2015 © Bodo Hell

Also ist das Sprachbild komplex und einfach zugleich. Wie ein Gemälde von Poussin? 

Das hat zumindest Claude Simon so gedacht! Bei mir ist es so, dass ich meistens über Topografien schreibe, und die haben schon eine Struktur. Ich habe einmal einen Text »Linie 13a« geschrieben. Alles, was entlang dieser Wiener Autobuslinie (noch Doppeldecker) in die Sprache hineingesprungen ist, habe ich aufgenommen. Wo früher an der Gumpendorfer Straße das Sexkino war, stand in Steckbuchstaben »FRANZ. LECKEREIEN « und danach »MIT DER PILLE UMSO TOLLER«, weil damals gerade die Pille aufgekommen ist. Solche Dinge sind dagestanden. Und ich denke mir immer: Was steht da? Und wieso? Wenn du aus einer nicht-schriftlichen Umgebung kommst, fällt es noch mehr auf. Natürlich schreibe ich immer mit. Denn es sind alles Formulierungen, die Mitbedeutungen haben und ganz woanders hinführen können. 

Wenn man die sprachliche Welt um sich so scannen würde, müsste man vermutlich pathologisch irre werden. 

Ja, ja! Ich komm nicht davon weg, dass da drüben [zeigt aus dem Fenster des Café Ritter] früher »Lotto Toto« stand. Dieses »Lotto Toto« hat sich früher wirklich über die ganze Stadt verteilt. Anderes Beispiel: Es gibt keine Lebensmittelläden mehr. Undenkbar! Früher ist da irgendwo »Milch«, dort »Brot« gestanden. Wenn du das heute lesen würdest, fändest du das sehr komisch. Bezeichnungen sind historisch bedingt und wechselnd. Früher hat es sehr viele Modistinnen gegeben. Frauen, die Hüte gemacht haben. Da gab es in der Zieglergasse einen Laden, dessen Schild hieß »Gnädige Frau, Ihr Hut«. So etwas wäre heute undenkbar! Heute sieht man öfter diesen Dreischritt, wie »Schule, Denken, Multimedia«. 

Wenn ich die Grammatik verstehe, kann ich es lesen. Ob Sprache etwas in mir rührt, ist eine andere Sache. In der Musik bist du oft bei der ersten Note im Gefühl drinnen. Warum ist das so?

Sprache ist sinnbelastet. Du kannst nicht davon weg. Wenn sich Sprache aber musikalischen Prinzipien annähert, lässt sie los. Wie bei einer Liste. Da kann es immer dahingehen, dahingehen, dahingehen. Zum Beispiel: Natursekt, Naturempfindung, Naturmalerei, Naturkostladen und so weiter. Wenn du das aufzählst und kommentierst, dann entstehen automatisch Rhythmen durch die Unterschiedlichkeit der Wörter. Aber es kommt auch drauf an, wie du deinen Vortrag konstruierst. Der Griff der Musik steckt im Vortrag. In der Phrase, in der Phrasierung und natürlich in den Sätzen. Nicht umsonst gibt es die Bezeichnung »Satz« auch in der Musik. Erster Satz, zweiter Satz, dritter Satz! Da ist die Verbindung da – sie ist gesetzt. Es hat einen Anfang und ein Ende. Wann ist ein Text voll mit Wirklichkeit gesättigt, die alle Möglichkeiten bietet, ohne dass es fad wird und ohne nur Aufzählung oder Lexikon zu sein?

Durch die Rhythmisierung der Sprache treibt man der Sprache ihre Sinnbelastetheit aus und ist mehr im Gefühl? 

Ja, aber das Gefühl taucht nur an gewissen Entzündungspunkten auf. Mit der Sprache denkst du an mehr als mit der Musik. Du kannst gar nicht nicht denken. Da gibt es immer Wörter, die dich irgendwohin reißen. Aber man muss mit der Musik auch aufpassen: Es gibt die Klangmusik und die strukturierte Musik. Auf der einen Seite ist der unerträgliche Wagner, auf der anderen Seite der französische Barock! In Letzterem ist eine Mathematik drinnen, im ersteren ein Klangrausch. Natürlich ist der auch komponiert, aber die Intention ist etwas Rauschhaftes. Früher hat man den Rausch durch den gleichen Rhythmus erzeugt. Also durch die Trommel. 

Von welchem Rausch sprichst du? 

Du bist nicht mehr in dieser Wirklichkeit, sondern irgendwo anders. Im weitesten Sinne ist es die Trance! Aber genauso die Verführung. In einer strukturierten Sache ist das aber viel interessanter, finde ich. Dort wird man nicht willenlos hineingezogen. Du kannst die Struktur durchschauen und hast trotzdem die Gefühlspunkte.

Wenn ich ein Buch lese, dann braucht es etwas mehr Gedankenanstrengung, dass es mich einsaugt, als ein Song. 

Aber hier sprichst du ja von der Story, oder? 

Ja.

Gewisse Bücher könnte man dahingehend als »Lesefutter« bezeichnen, wenn sie nur der Ablenkung dienen. Mit dem habe ich nichts zu tun! 

In welchen Rausch kommst du beim Schreiben? 

Der Rausch ist der, wenn es gut konstruiert ist und dahinläuft. Wenn das, was gefehlt hat, wo hineinkommt … Man kann schwer sagen, wann der Text einen begeistert. Aber es ist das Gefühl, wenn der eigene Text wie von einem Fremden erscheint. Ich kann alte Texte von mir lesen und verstehe den Zusammenhang nicht mehr, in dem sie entstanden sind. Da denke ich mir: Ganz gut, das könnte auch von jemandem anderen sein! Die Sprache selbst gibt so viel vor, genauso wie die Historie, in der der Sprachduktus möglich war! Gleich verhält es sich mit der Vortragsweise. Wenn du jemanden wie Alexander Moissi reden hörst oder selbst Karl Kraus: Die haben dahingesungen. Das kommt dir vor wie Geigenspiel der schwierigsten Art. Damals ist das nicht so verstanden worden. In der niedergeschriebenen Sprache kannst du es herauswecken, ohne dass du die damalige Realisation mitdenken musst. Da begeistert dich dann der Gedankengang. Oder das Paradox! Es gibt wunderbare paradoxe Sätze, etwa: »Zum Glück gibt es Pech.« Gemeint ist natürlich das Lerchenpech, mit dem sich die Holzhacker ihre Wunden eingerieben haben, wenn sie sich verletzt hatten. Paradox wird es durch die Mehrdeutigkeit: Der Witz lebt davon!

Die Witzkultur scheint mir ein wenig verlorengegangen. 

Ich habe das Gefühl, es wird inzwischen von einzelnen Personen vorangetragen, die damit wieder ihre Präsenz beweisen wollen. Jegliche Art von Comedy lebt davon!

Bodo Hell und Friederike Mayröcker © Didi Sattmann

Wie hat sich die Sprache für dich in der Zeit verändert und wo interessiert sie dich jetzt? 

Die Sprache hat sich vor allem durch Kenntnis anderer Literatur verändert. Ich hatte das Glück, dass ich sehr viel mit Friederike Mayröcker korrespondiert habe! Ich habe ihr immer Texte geschickt, andersherum ihre Bücher gelesen und besprochen. Sie war für mich ein großes Vorbild darin, was alles möglich ist und was man sich trauen kann! Viel hat sie aus ihren Traumwörtern herausgeholt. Sie erzählte immer, wie sie auf der Bettdecke noch weitergeschrieben hat, um die Traumwörter zu erinnern, die meist sinnlose Wörter waren. Es soll auch Menschen geben, die ein sinnloses Wort träumen und dann draufkommen, dass es das Wort tatsächlich im Tschechischen oder Türkischen gibt! Das ist schon spannend. Wenn ich eine Bilanz über meine Arbeit mit Sprache ziehen müsste, dann wäre es die, dass man immer neue Quellen erschließen kann, von denen man nicht geglaubt hat, dass sie literarisch fruchtbar gemacht werden können. Das merkt man einfach! Natürlich kann sich das auch aus dem Dialekt ergeben. Oder Wörtern, die man nicht versteht. Im Ennstal sagen sie immer: »Was hast muat.« Das hat mit dem Mut gar nichts zu tun! Das heißt »Was hast du vor«. Dass man diese Vieldeutigkeit hereinnimmt und natürlich in einer Struktur abbildet, die in sich Schlüssigkeit hat – das ist Sprache. Selbst wenn man »nur« einen Weg beschreibt, kommt man auch zu einer Sprachlichkeit, die sich an diesem Weg erschließt, in Form eines Itinerars. Also es ist nicht die Fiktion, sondern die Faktion! 

Und wenn sich Dinge sprachlich verschieben? 

Bei der Verschiebung ist es so, dass ich dort anfange, wo Scharnierwörter sind.

Wie meinst du? 

Ich habe einen Malerfreund, der Bilder macht, die beweglich sind, so dass Teile des Bildes verschoben werden können. Der bat mich vor Kurzem, etwas dazu zu schreiben. Ich analogisiere das mit dem, was die Sprache macht, wenn sich etwas verschiebt. Als Beispiel: Man kennt das Wort »Baumstamm«, aber auch den Begriff »Stammbaum«. Das eine hat mit dem anderen zu tun: Ohne Baumstamm kein Stammbaum! Mein Text dazu heißt »Leicht verschoben«. Da gehe ich von Sätzen aus, die Scharnierwörter haben. Zum Beispiel heißt ein Satz: »Wer Tauben füttert Ratten.« Ich brauche das nicht zweimal sagen! Oder ein anderer: »Was die Mutter bläht auch das Kind.« Ich gehe so von Dingen aus, wo ich mir scheinbar etwas erspare, es aber woanders hinführt. Aber auch versteckte Wörter sind spannend. Was mich sehr begeistert hat, war der Westschweizer Linguist Ferdinand De Saussure. Er hatte sich mit Orakelsprüchen beschäftigt. Also die Vaticinien des Vatikans, eigentlich die der vier lateinischen Sibyllen, aber auch die Sprüche des delphischen Orakels. Da ist er draufgekommen, dass der Garant, dass dieser Spruch ein echtes Orakel ist, dadurch gegeben wird, dass der Göttername (oder ein Beiname des Gottes, z. B. P-y-th-i-o-s für Apoll) im Spruch versteckt war. Die Buchstaben des Gottes waren der Reihe nach im Orakelsatz fein verteilt enthalten. Also es gibt Garantieformeln, dass etwas inspirierte Rede ist. Sowas finde ich großartig. Im Grunde will man eine perforierte Wand sein, durch die hindurchgesprochen wird. Die Autorschaft ist zwar notwendig, aber in Wirklichkeit spricht ein ganzes System durch mich hindurch, wie durch eine permeable Wand – durchlässig! Mayröcker hat das in ihren besten Werken gemeistert. Das ist keine Meinungsliteratur, keine Fiktion, sondern es spricht die Sprachmöglichkeit durch dich hindurch.

Schöne Schlussworte!

Dann muss ich sie mir gleich aufschreiben! Das wäre mir ohne dich nicht eingefallen, danke!

Danke dir!

Bodo Hell © Gunter Breckner

Dieses Interview entstand aus einer Kooperation mit dem Aktionsradius Wien.

favicon

Ähnliche Beiträge

Nach oben scrollen