Friederike Mayröcker © Gunter Breckner
Friederike Mayröcker © Gunter Breckner

»Das Schreiben kann alles verändern«

»Die Situation rückt uns so nahe, dass wir kaum atmen können …« Friederike Mayröcker erzählt von einer Welt der »tiefen« Gefühle und beschreibt ihr empathisches Erleben in einer Zeit, wie der jetzigen. Ein Gespräch über Verstehen und Nicht-Verstehen und über die Verschwisterung mit der Kunst.

Friederike Mayröcker, eine der bedeutendsten österreichischen Schriftstellerinnen des letzten Jahrhunderts bis heute, schreibt über die Tiefe, wie es kaum eine andere kann. Eine Tiefe, die in diesen Tagen mehr als alles andere plötzlich an uns rüttelt, weil sich uns die vielen Selbstverständlichkeiten entzogen haben, mit denen wir in vermeintlicher Symbiose gelebt zu haben scheinen. Das Schreiben Mayröckers verhält sich aber, als ob es schon immer durch dieses »Sich-Entziehen« entstanden und weitergewachsen wäre, wobei es sowohl versucht, Bodenloses zu ergründen als auch Unsagbares zu beschreiben. Es richtete sich dabei an eine Welt, die man eben nie ganz fassen, aber immer neu und anders verstehen kann. Im Interview mit skug erfragen wir, wo denn die Angst der Welt liegt und warum sich diese vielleicht mit dem Schreiben ergründen lässt. Außerdem erzählt uns die 95-Jährige über ihre Identifikation mit der Jugend und die entstandene Spaltung, die wir nun in der Gesellschaft wiederfinden.

skug: Wie geht es Ihnen in dieser seltsamen, wortwörtlichen »ver-rückt-en« Zeit, in der sich die Welt immer noch befindet?
Friederike Mayröcker: Naja, ich muss sagen, die ganze Lage irritiert mich sehr und vor allem irritiert es mich, dass hier eine Teilung gemacht wird zwischen Menschen, die alt sind, so wie ich, und Menschen, die jung sind, so wie andere, weil die alten Menschen sehr viel mehr gefährdet sind, also auch ich gefährdet bin.

Weil sie das Thema schon jetzt ansprechen: Ich erlebe es bei mir selbst, weil ich selbst alte, mir nahestehende Personen in meinem engeren Kreis habe, dass anderen jungen Menschen, die diesen Bezug nicht haben, die Nähe dieses Problems, dieser Krankheit als persönliche Gefährdung, fehlt. Glauben Sie, dass diese Abstraktion des Problems der Grund für diese Spaltung ist?
Warum diese Teilung stattfindet? Das kann ich nicht sagen. Ich denke, es hängt mit der Erfahrung und mit dem Alter zusammen: Die Erfahrung der 24- und 25-Jährigen ist natürlich eine andere als die von 80- oder 90-Jährigen.

Aber ich habe – und das jetzt ganz abseits von Corona – das Gefühl, dass eine gewisse Distanzierung oder fast schon »Abstoßung« zwischen der älteren Generation und der jüngeren Generation stattfindet. Und ich meine, es gab die Tendenz immer schon, dass Jüngere gegen Ältere »rebellieren«. Aber ich finde gerade die Corona-Situation macht ersichtlich, dass die Jüngeren die Fäden zu ihren vorgehenden Generationen teilweise ganz abgeschnitten haben wollen bzw. da die Auseinandersetzung meiden. Bisher hatten die Rebellionen der Jüngeren sich ja oftmals gespeist aus der Auseinandersetzung mit dem »Alten«, gegen das sie rebellieren wollten.
Ja, also ich muss Ihnen Folgendes sagen: Zu der Sache mit der Jugend, mit dem Jung-Sein und mit dem Alt-Sein hab’ ich diese Sicht: Ich mach’ ja doch sehr viele Lesungen und ich kann Ihnen nur sagen, dass bei diesen Lesungen fast ausschließlich junge Leute sind. Also wenn ich lese, ist der Saal voll mit jungen Leuten und wenigen älteren Leuten. Das stelle ich hier einmal fest. Es freut mich natürlich, wenn diese jungen Leute kommen und interessiert an meiner Arbeit sind. Das wäre einmal das eine. Und das andere ist: Ich war ja auch einmal jung. Und ich hatte immer das Gefühl, dass ich damals – wo ich so jung war – alles viel besser verstand. Das war aber nicht so, es war nicht so richtig gedacht. Wie auch immer: Jetzt habe ich das Gefühl, dass ich die jungen Leute so gut verstehe, als ob ich selbst mit ihnen jung wäre.

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Das ist sehr schön gesagt. Es ist auch gut, dass Sie das ansprechen. Ich hätte nämlich immer (von meiner Warte aus) die Unterscheidung gemacht, dass schon Interesse da ist von »meiner« Generation, aber oft nicht der »Mut« zur wirklichen diskursiven Auseinandersetzung. Man hört sich’s oder schaut sich’s quasi an, aber für das, was man dann selbst »produziert«, wird es nicht verwendet oder verarbeitet. Das »Alte« fungiert nur als Abgrenzungsgrund. Was Sie sagen, klingt aber deutlich weniger pessimistisch!
Naja, Ich hab’ halt ebenso ein Identitätsgefühl zu den jungen Menschen jetzt und habe es schon seit Jahren und freue mich immer, wenn mich junge Leute zu meiner Arbeit befragen. Es macht mir wirklich eine riesige Freude, wenn diese auf mich zukommen.

Da wäre es jetzt interessant, den Bogen zu spannen zur »Corona-Situation«. Ich hatte ja in ihrem Schreiben oftmals das Gefühl, dass man die Welt, über die Sie da schreiben, nie so komplett verstehen kann. Man kann sie nur aus verschiedenen Blickwinkeln beschreiben und dadurch neue Aspekte herausfinden, aber man kann sie nie komplett transparent machen.
Meinen Sie das jetzt in Bezug auf das junge Alter? Da Sie beispielweise die Welt jetzt anders wahrnehmen als ich?

Die Unsicherheit, die diese Situation jetzt aufgerissen hat, berührt ja durchaus auch die Jungen, nur eben auf einer anderen Ebene. Speist sich diese Unsicherheit und Abgrenzung von dem Problem (u. a. durch Jüngere) daraus, dass man vor Augen gehalten bekommt, dass man die Welt eben doch nicht versteht? Und dass das auch mit der Jung-Alt-Disparität zusammenhängt?
Das kann ich leider nicht beantworten. Ich kann mir das nicht unbedingt vorstellen. Ich weiß nur, dass ich mit den jetzigen jungen Leuten und deren Unsicherheit völlig mitgehen kann.

Und bei was gehen Sie da genau mit? Geht es da um politische Meinung, künstlerische Anschauungen …?
Wohl eher bei den Anschauungen als den politischen Meinungen …

Apropos Anschauungen: Wie nehmen Sie denn die Welt gerade wahr? Und wie glauben Sie, dass »Jüngere« sie wahrnehmen?
Also ich glaube, dass da nicht so viel Unterschied ist … bei mir! Bei anderen alten Menschen ist es wohl ein großer Unterschied, aber ich fühl mich so identisch.

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Aber was nehmen Sie da wahr, wenn sie rausschauen auf eine Welt, die jetzt ein halbes Jahr ziemlich durcheinander geschaukelt wurde? Was fühlen Sie als Literatin und Schriftstellerin? Was sind das für Gefühle und Stimmungen?
Also ich bin betroffen über die Lage und ich weiß nicht, ob ich das schon erwähnte, aber es ist für mich wirklich ein Mit-Erleben, und ein Mit-Fühlen mit den jungen Leuten.

Auch diese Verunsicherung über die Zukunft?
Ja. Das ist ganz richtig: Es ist wirklich etwas passiert. Es ist etwas passiert!

Es ist etwas passiert und es passiert noch immer. Und während jetzt inzwischen ein »normaler« Alltag zurückzukehren versucht, merkt man erst richtig die Nachwehen dieser Weltstimmung. Zu diesem Mit-Fühlen, von dem Sie sprachen, und wenn Sie so ein Resonanzkörper für Gefühle sind: Wieso fürchten sich denn die Menschen vielerorts so sehr? Woher speist sich diese Angst?
Das ist ja ganz selbstverständlich: Weil uns das alle zu nahe rückt! Die Situation rückt uns so nahe, dass wir kaum atmen können …

Meinen Sie einander nahe als Menschen oder meinen Sie dieses Zusammenrücken generell als Welt mit ihren Problemen? Inwiefern kommen wir uns nahe? Was lässt uns nicht atmen?
Unser Leben ist jetzt so verändert, dass man sich wirklich immer wieder fragen muss: Ja, was denn? Was ist denn jetzt anders und wie kann ich dem begegnen? Wie begegne ich diesem Anders-Sein? Und das fragen wir uns gerade immer und immer wieder aufs Neue!

Man könnte fast sagen: Es hat sich eine ziemlich starke Ambivalenz zwischen die Menschen geschlichen. Als Beispiel: In Theatern oder Kinos etwa gibt es inzwischen ganz strenge Regulationen, wie etwas stattfinden darf, weshalb viele Lokale und Veranstaltungsstätten sogar schließen mussten und da ist man dann selbst frustriert darüber und geht in die nächste U-Bahn und ist plötzlich trotzdem eng-an-eng gesteckt mit Menschen. Da empfinde ich persönlich dann immer eine extreme Unsicherheit und habe mich sehr lange gefragt, woher die kommt, und merkte, dass es eben diese Ambiguität ist: das ständige Selbst-abwägen-Müssen und Doch-nicht-ganz-Wissen. Glauben Sie, der Mensch ist ein ambivalentes Wesen?
Ja, sicher ist er ein ambivalentes Wesen. Ich weiß es halt nicht. Man kann eben auch nichts wirklich absehen, was da jetzt kommt.

Genau, und in dieser Ambivalenz gefangen weiß der Mensch nicht mehr, wie er mit diesem Unwissen umgehen soll. Sie schreiben ja durchaus auch viel über Angst in Ihren Werken: Welche Rolle spielt Angst für Sie in einer Zeit, wo sich doch so viele fürchten?
Ja, alle fürchten sich. Ich muss sagen, dass ich an und für sich ein ängstlicher Mensch bin und diese Situation jetzt diese Angstgefühle verstärkt.

Angst ist immer ein Gefühl, das mehr »fressen« will.
Wie meinen Sie das?

Naja, im Vergleich zu anderen Emotionen, die im Kollektiv mit anderen zu einer Besänftigung führen können, »will« die Angst immer mehr.
Man findet ja kaum mehr Menschen, die keine Angst haben.

Bekommen Sie denn durch das Schreiben Zuversicht? Oder verstärkt auch das die Angst?
Na sicher! Ich meine, man ist ja ein anderer Mensch, wenn man schreibt. Und wird ja auch bewundert, weil man die Welt anders sehen kann als Schreibender.

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Ich meine auch, dass ein »Mehr« an Sprache einem mehr Vokabular für seine Wahrnehmung und seine Empfindungen gibt.
Ja, das stimmt ganz genau, was Sie sagen. Das ist genau, wie die Dinge sind.

Glauben Sie, dass das Schreiben dadurch auch immer nur eine Annäherung an das Verständnis der Welt darstellt?
Das Schreiben kann alles verändern. Und ich schreibe jetzt schon sehr lange. Durch das Schreiben habe ich das Leben viel besser verstanden. 

Verstehen Sie es jetzt auch in der derzeitigen Situation besser? Schreiben Sie viel?
Ich schreibe, ja.

Und hat die äußere Situation der Welt Auswirkungen auf Ihr Schreiben?
Das könnte ich nicht bejahen. Ich versuche, diese Situation zu verstehen, zu ergründen und weiter zu arbeiten, und zwar in dem Sinne, dass ich mir denke: Jetzt möchte ich doch wissen, wie es weitergehen kann.

Nach der ganzen Situation?
Ja, ja.

Wollen sie also quasi durch das Schreiben Antworten auf ihre Ängste und die der Welt finden?
Ob ich Antworten finden kann?

Ja.
Ja, schon. Ich kann mich ja eben total in jeden Menschen hineinversetzen, auch in völlig fremde Menschen. 

Wie stellt sich das dar? Dieses Hineinversetzen? Wie fühlt sich das an?
Dass ich mich so fühle, wie der Mensch, den ich verstehen will.

Wie eine komplette Übertragung des Anderen auf einen selbst?
Ja, Übertragung, ganz genau.

Und haben Sie dann das Gefühl, dass Sie wie eine Art »Medium« sind, das etwas überträgt oder von einer »Sprache« in die andere übersetzt?
Ja und das Schreiben hilft ja auch. Es hilft uns auch. Alle, die schreiben können, die haben es leichter.

Meinen Sie?
Das werden Sie doch auch empfinden!

Ich kann das Gefühl einer derartigen, fast schon unaufgeforderten Empathie gut nachvollziehen. Aber für mich ist das oft eher überfordernd. Ich fühle mich dadurch oft blockiert diese Funktion eines schreibenden »Ventils« kann ich deswegen nur in Dosen auskosten. Oder ist das Ventil, das Sie sind, immer offen? Sind Sie davon nie auch gehemmt in Ihrem Schreiben?
Nein, das glaube ich nicht. Also je tiefer die Gefühle sind, desto besser kann ich immer schreiben. 

Und was bedeutet diese Tiefe für Sie?
Ja … das bedeutet, dass man natürlich immer alles ergründen will. Man will plötzlich alles ergründen. Und das geht nicht immer.

Und wenn man an dem »Grund« ankommt, merkt man, dass es immer weiter runter geht?
Ja, genau. Dann geht es weiter runter.

© Gunter Breckner

Also sind die tiefen Gefühle, eigentlich die Unergründbaren. Denn die gehen immer weiter hinunter. Und würde es den Menschen zurzeit helfen, etwa ihre Lyrik zu lesen, wo vielleicht viele in so eine Tiefe starren?
Das weiß ich nicht! Das ist immer die Frage. Hilft es, wenn ich einem Künstler auf die Spur gehe? Ich frage mich das oft, aber ich glaube … ich fürchte, dass das keine Hilfe ist. Die Kunst ist vielleicht keine Hilfe.

Keine Hilfe als Zuversicht? Was wäre denn eine Hilfe?
Naja, ich bin so verschwistert in die Kunst, dass ich da gar nichts Nahes oder Anderes sehe.

Man könnte ja auch sagen, dass diese ganze Corona-Situation diese Diskrepanz zwischen Kunst und »Wissen« wieder verstärkt hat. Die Wissenschaft als Erklärer und die Kunst als Versteher, aber im Sinne dieses annähernden Verstehens. Glauben Sie, hat das Erklärende gerade die Übermacht?
Nein, das glaube ich nicht. Ich glaube, wenn man sich so innig verschwistert fühlt mit dem Schreiben, kommt gar nichts anderes in Frage.

Aber die meisten Leute, sind ja nicht so verschwistert mit dem Schreiben! Beziehungsweise haben diese Verschwisterung mit der Kunst jetzt in dieser Zeit der »Erklärungssuche« erst recht verloren.
Aber es ist ja so, dass es immer Menschen gibt, die keine Verbindung zur Kunst haben das war ja immer schon so! Schon als junger Mensch weiß man doch, ob man sich der Kunst so innig verschwistern kann oder nicht. Das weiß man sehr früh. Das wird einem nicht einfach so ausgetrieben.

Weil Sie aber vorher meinten, dass so viele junge Menschen bei Ihren Lesungen sind. Glauben Sie, dass da ein tatsächliches Verständnis stattfindet im Sinne einer Verschwisterung oder ob viele das nur passiv »zu sich nehmen«?
Ich glaube, sie wollen einen Trost von der Kunst. Und das kriegen sie vielleicht auch. Aber ich kann es nicht hundertprozentig sagen. Ich weiß nur, dass sie wahnsinnig gerne kommen.

Aber ein Trost von was?
Von der Angst und vom Nicht-Verstehen. 

Jetzt glaube aber ich, etwas besser zu verstehen! Ich danke Ihnen vielmals für dieses Gespräch!
Ich danke Ihnen!

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