Die Wanderausstellung des Architekturzentrums Wien »Boden für Alle« und ihr Begleitprogramm lösen in Österreich, und nicht nur in den Medien, seit 2020 immer wieder ein großes Echo bezüglich der dringlichen Fragen zu Reformen der Bodenpolitik aus. Neben einer ernsthaften Ökologisierung der Raumordnung und des Steuersystems braucht es auch eine große Bodenschutzoffensive, wie z. B. einen österreichweiten Bodenschutzvertrag. Denn Wirtschaftswachstum wird auch in Österreich immer noch in Beton und in Bitumen gegossen. Deshalb gilt: Wir müssen rigoros und vorsorgend unsere Böden sowohl quantitativ als auch qualitativ schützen!
Dr. Gerlind Weber ist eine der vielen Expert*innen, die für die Ausstellung konsultiert wurden. Sie muss allerdings bei ihren aktuellen Fortbildungsseminaren für Bürgermeister*innen immer wieder feststellen, dass »das noch herrschende Beharren auf steinzeitliche Interpretationen von örtlicher Raumplanung und die Unwissenheit das dominante Momentum zu sein scheinen«. skug hat die studierte Soziologin, Raumplanerin und Rechtswissenschafterin gebeten, einen aktuellen Problemaufriss zu skizzieren.
skug: Covid-Pandemie, Klimawandel, Energiekrise, Rohstoffknappheit, Krieg in Europa – und in Österreich herrscht Bauwut. Wie passt das zusammen?
Dr. Gerlind Weber: Dieser scheinbare Widerspruch ergibt sich aus der Steuerungsmacht des Geldes. So ist es kein Geheimnis, dass die Null- bzw. Negativzinspolitik der Banken und die Volatilität der Börsenkurse sowie die genannten Krisen die Flucht in das Betongold ungemein anheizen. Diese enormen Investitionen im Baugeschehen, angetrieben durch professionelle Anleger, zielen dabei vorderhand auf die ihrer Meinung nach »guten Ertragslagen« ab, wie attraktive Stadtteile, das Umland größerer Städte und die landschaftlich besonders reizvollen Gegenden in den Bergen und an den Seen.
Da in diesem Kontext das Bestreben im Vordergrund steht, abstrakte monetäre Werte in reale Sachwerte zu überführen, dreht sich, von panikartiger Bauwut angetrieben, die Immobilienpreisspirale in den genannten Vorzugslagen immer schneller. So entstehen große Bauvolumina z. B. in Form von Büro- und Wohntürmen, Chaletdörfern, Luxusdachausbauten etc., die sich immer weniger Leute leisten können. Aus Sicht der Investoren steht die Veranlagung der Gelder in Sachwerte im Vordergrund und daher müssen die gebauten Kapazitäten nicht zwingend genützt werden. In ihnen wohnt bzw. arbeitet ohnehin das Geld im Dienst der Spekulation, während die Wohnraumsuchenden in Regionen abgedrängt werden, die lange unter Bevölkerungsschwund, Mangel an Arbeitsplätzen und schlechter Infrastrukturausstattung litten.
Warum sollte unverbauter Boden überhaupt geschützt werden?
Üblicherweise wird mit der Vergangenheit und in defensiver Weise argumentiert: Weil wir schon so viel Boden verbaut haben – aktuell sind es laut Umweltbundesamt 11,5 Hektar, die täglich der Landwirtschaft für Hoch- und Tiefbau in Österreich entzogen werden –, müssen wir in Zukunft schonender mit dem Boden umgehen. Wichtiger erscheint mir aber, in die Zukunft zu blicken und offensiv zu argumentieren, da offenbaren sich z. B. folgende Gründe:
Die Ernährungssouveränität: Die Pandemie hat das Bewusstsein dafür geschärft, dass offene Grenzen keine unumstößliche Selbstverständlichkeit selbst unter den EU-Mitgliedsstaaten sind. Dieser Umstand wirft eine Sicherheitsfrage mit hoher Raumrelevanz auf, nämlich, dass wir selbst in Krisenzeiten immer in der Lage sein müssen, über die nötige Flächenausstattung zu verfügen, um die in Österreich lebenden Menschen angemessen ernähren zu können. Obwohl unsere Bevölkerung stetig steigt – erst kürzlich haben wir die 9-Millionen-Marke überschritten –, vernichten wir – laut Umweltbundesamt – jährlich durch Bauaktivitäten die Ernährungsgrundlage von 20.000 Bürgerinnen und Bürger.
Die hohe Klimarelevanz des Bauens: Es gilt zu bedenken, wenn wir den Boden mit einer wasserundurchlässigen Schicht im Zuge des Baugeschehens überziehen, vernichten wir seine Eigenschaft, Treibhausgase zu speichern. Im Gegenteil, wir errichten darauf neue Emissionsquellen und Wärmeabstrahlungsflächen, die den Klimawandel befeuern. Das klimafreundlichste Haus ist daher nicht das sogenannte Nullenergiehaus, sondern das nie gebaute Haus! Das gilt natürlich analog auch für die Straße.
Die Energie- und Biokunststoffwende: »Boden ist das Öl der Zukunft!« Dieser Slogan sollte als Weckruf an die Gesellschaft und an die Landwirtschaft verstanden werden. Denn unsere Abhängigkeit von Energieimporten beträgt derzeit 72 %. Es muss klar sein, dass diese stark zurückgehen müssen und dabei gleichzeitig die Umstellung auf erneuerbare Energieträger gelingen muss. Diese Transformation ist teilweise flächengebunden, wie wir etwa an der oberflächennahen Geothermie, Windrädern bzw. Freilandphotovoltaikanlagen sehen können. Zusätzlich ist der Trend zur Biotechnik zu berücksichtigen. Das heißt, dass auch die »Werk- und Wirkstoffe« der Zukunft vermehrt aus dem Boden gezogen werden. In Summe wird also die Lebensmittel- und Futtermittelerzeugung mit der Industrie- und Medizinrohstoffproduktion um Nutzung der vorhandenen Wiesen- und Ackerflächen konkurrieren.
Der Rückgang der Artenvielfalt: Gerade seit der Jahrtausendwende hat sich der Verlust der Diversität von Biotopen, Fauna, Flora, Mikroorganismen, aber auch von Landschaft nochmals beschleunigt und bedrohliche Ausmaße angenommen. Dies führt natürlich zur Forderung, dass in Hinkunft nicht nur die besten agrarischen Böden vor Bebauung konsequenter geschützt werden müssen, sondern alle Bodenqualitäten, um der Vielfalt der Standortvoraussetzungen für Leben wieder gerechter werden zu können.
Es heißt, dass in Österreich täglich doppelt so viel Boden pro Kopf der Landwirtschaft entzogen wird wie vergleichsweise in der Bundesrepublik Deutschland. Woran liegt das?
Ja, das äußert sich beispielsweise darin, dass es überschießend viel Verkehrsfläche und Verkaufsfläche pro Kopf in Österreich gibt oder der Anteil an Zweitwohnsitzen sehr hoch ist im Vergleich zu Deutschland. Weitere Gründe dafür sind im geringeren Verstädterungsgrad, der Streusiedlungstradition in vielen Regionen oder im hohen Berglandanteil Österreichs zu suchen. Die wesentliche Ursache ist aber die heute starke Zersiedelung Österreichs. Das heißt, dass über Jahrzehnte das »Bauen am falschen Platz« gerade am Stadtrand bzw. im ländlichen Raum zugelassen wurde. Das ist darauf zurückzuführen, dass in Österreich ursprünglich die Baulandwidmung als Nutzungschance und nicht als Nutzungsverpflichtung für die Grundeigentümer gesetzlich etabliert wurde. Die Folge war, es wurde viel Bauland gewidmet, das aber nicht zügig der Bebauung zugeführt wurde, sondern wirtschaftliche Überlegungen aus Sicht der meist bäuerlichen Grundeigentümer sprachen eher für das »Zurückhalten«.
So wurde lange dort gebaut, wo Abverkaufswilligkeit gegeben war, und zwar um den Preis, dass diese Flächen sich immer mehr in raumplanerischen Ungunstlagen befanden und eine entsprechend weitläufige Erschließung erforderten. Dazwischen lagen die Baulandbrachen, sprich ein anschwellender Anteil ungenutzter Baulandreserven. Vor einem Jahrzehnt betrug solcherart der Baulandüberhang etwa ein Drittel des gewidmeten Baulandes, heute ist dieser auf aktuell 28 % laut Berechnung des Umweltbundesamtes zurückgegangen. Das Ergebnis ist, dass viel mehr Boden für Siedlungszwecke verbraucht wurde, als eigentlich erforderlich gewesen wäre. Und Österreich wurde aufgrund seiner starken Zersiedelung bei gleichzeitig extrem hoher Baudynamik zum unrühmlichen Europameister im Pro-Kopf-Bodenverbrauch – worauf hinzuweisen die Österreichische Hagelversicherung nicht müde wird.
Welche Weichenstellungen stehen hinter dem Abbau der ungenutzten Baulandlandreserven?
Der erste Schritt, den die Landesgesetzgeber machten, war, dass sie die Vertragsraumordnung legistisch zuließen. Das heißt, die Umwidmung zu Bauland wird heute mit der Möglichkeit verbunden, unter anderem auch eine Bebauungsfrist vertraglich zu vereinbaren, die bei Nichteinhaltung sanktioniert wird. Diese Lösung trägt aber auch den Keim der Zersiedelung in sich, weil sie ursprünglich nur im Fall von Neuwidmungen als Option zur Geltung kam. Das heißt, die Vertragsraumordnung treibt die Zersiedelung immer weiter über die gegebene Siedlungsperipherie hinaus und wird zu stark durch die Interessen der privaten Verkäufer geprägt. Sie kann zudem nichts zur Lösung der Forderung der Fachwelt hinsichtlich des Abbaus des bestehenden Baulandüberhangs beitragen.
So setzte man nach Jahren einen zweiten legistischen Schritt, indem endlich ein gesetzliches Baugebot, das auch bei Altwidmungen seine Wirkung entfalten kann, zunehmend in den Raumordnungsgesetzen vorgesehen wird: Um nicht den Baulandüberhang, der in manchen Gemeinden bis zu 40 % betragen kann, damit auf einen Schlag zu mobilisieren, war es auch wichtig, Teile des bereits gewidmeten Baulandes gleichzeitig »einzufrieren«. Dies geschieht mittels der Ausweisung von Siedlungsschwerpunkten. Damit werden flächige Bereiche abgegrenzt, in denen Siedlungserweiterungen überhaupt noch realisiert werden können, der Anteil des ungenutzten gewidmeten Baulands außerhalb der Siedlungsschwerpunkte darf nicht mehr der Bebauung zugeführt werden.
Was soll durch das aktuelle Motto »Von der Außenentwicklung zur Innenentwicklung« ausgedrückt werden?
Bislang wurde auch in den hier diskutierten Fragen ständig von der Regelung des Bauens auf der »grünen Wiese« gesprochen. Diese Sicht der Dinge sollte Schritt für Schritt der Vergangenheit angehören. Denn im Grunde kann davon ausgegangen werden, dass Österreich als gebaut anzusehen ist. Damit soll gesagt sein, dass das in Hinkunft benötigte Bauvolumen bereits existiert. Wir werden also den Schwenk vom quantitativen Anwachsen über die bestehende Siedlungsperipherie hinaus zu Nachbesserungen im Siedlungsbestand vollziehen müssen. Das ist ein Paradigmenwechsel, den auch die Raumplanung einzulösen imstande sein muss. In diese Richtung hat sich schon die EU-Kommission geäußert, indem sie vom sogenannten Netto-Null-Ziel im Grünen Pakt spricht. Damit soll zum Ausdruck gebracht werden, dass die sich stets im Wandel befindlichen Ansprüche an die gebaute Umwelt in Hinkunft aus der Anpassung des baulichen Bestands befriedigt werden müssen.
Der Weg dorthin firmiert unter dem Motto: »Von der Außenentwicklung zur Innenentwicklung«. Statt für die grüne Wiese zu planen, gilt es die inneren Veränderungspotenziale zu heben, wie z. B. Altgebäude zu sanieren oder durch Neubau zu ersetzen, Vermeidungs- und Anpassungsmaßnahmen an den Klimawandel zu setzen, dezentrale Energieversorgungssysteme zu etablieren, zukunftsfähige Mobilität zu ermöglichen, gemeinschaftsstiftende Initiativen zu entwickeln etc. – Alles schwierige Herausforderungen, bei denen wir erst am Anfang stehen und so keine Angst haben sollten, dass uns die Arbeit ausgehen könnte. Das Gegenteil scheint der Fall zu sein …
Der Podcast »Boden für Alle« wurde von Michael Franz Woels und Christoph Benkeser für ORTE – Architekturnutzwerk Niederösterreich gestaltet und enthält O-Töne von Dr. Gerlind Weber: