MAK Ausstellungsansicht 2024, Stephan Mörsch: »Beechtown«, 1:10-Modell der Baumhaussiedlung Beechtown im Hambacher Wald, 2018–2023 © Stefan Lux/MAK
MAK Ausstellungsansicht 2024, Stephan Mörsch: »Beechtown«, 1:10-Modell der Baumhaussiedlung Beechtown im Hambacher Wald, 2018–2023 © Stefan Lux/MAK

Der Ort wird zum Argument

Liebevoll erstellte Modellstädtchen, hängende Baumhäuschen, bunte Kleider auf Wäscheleinen quer über Straßen: In der Ausstellung »Protest/Architektur. Barrikaden, Camps, Sekundenkleber« im Wiener MAK kommt man ins Grübeln, was eigene Widerstandsformen und deren bauliche Umsetzung betrifft.

Ein schwarz gewandeter Aufseher erzählt seine Familiengeschichte, mitten in der Ausstellung »Protest/Architektur« stehend: Sein Opa, der niemals im Leben seine Sozialisation als Nationalsozialist hinterfragte oder gar ablehnte, hätte im Alter von 70 Jahren zwei Neonazis zurechtgewiesen, die einen ausländischen Zeitungsverkäufer angingen. Mit folgenden scharfen Worten: »So etwas tut ein Deutscher nicht!« In der Ausstellung, die von 14. Februar bis 25. August 2024 in der Oberen Ausstellungshalle des Wiener Museums für angewandte Kunst zu sehen ist, kommt jede*r leicht ins Grübeln, was die eigene Familiengeschichte und ihre Umgangsformen mit möglichem Widerstand betrifft.

Gruppen junger Leute schlendern zwischen hängenden, schwebenden Baumhäusern und Modellen von Proteststädtchen herum. Freuen sich über anregende Widerstandsformen ihrer Zeit und davor. »Bei Sesshaftwerdung von Protesten entsteht Protestarchitektur, wie auf dem Majdan-Platz in Kyiv oder auf dem Tahrir-Platz in Kairo«, schreiben die Kuratoren auf einem Plakat. »Der Ort wird zum Argument.« Besucher*innen werden angeregt, gelebten Widerstand, eigene Widerstandsideen und deren bauliche Umsetzung zu reflektieren. Weltweit muss der Vorgang der Sesshaftwerdung von Protest ja nicht so ausfallen wie z. B. in den besetzten Häusern der 1990er-Jahre, in denen als erstes zumeist eine Bartheke hingestellt wurde. Aus Metallabfällen geschweißt. Vor dem Barrikadenbau mussten dann noch Bierkisten herangeschleift werden, um eine etwaige Polizeibelagerung gemütlich zu überstehen.

Republik Freies Wendland, Gorleben, Deutschland, 1980 © Foto: Hans-Hermann Müller, 31. Mai 1980, Wendland-Archiv

Normalität in unnormalen Situationen

»Behauptung von Normalität in unnormalen Situationen« nennen die Kuratoren das Phänomen, wenn in der Protestarchitektur Badewannen oder Blumenkästen auftauchen, in Baumhäusern in extremer Höhe schmutziges Geschirr abgewaschen wird. Eine Polizeiuniform aus 1980, eine Leihgabe des Kriminalmuseums Frankfurt am Main. Ein Aquarell vom Schafschererstreik im australischen Queensland aus 1891, die gegen niedrige Löhne protestierten. Im Hauptcamp nahe Barcaldine waren bis zu tausend Arbeiter untergebracht. Leider sind die Punks schlecht vertreten: Gepasst hätten z. B. der Holzwagen, der fragile, hölzerne Caféwagen und die Mala Sola (Kleine Schule) in Metelkova Mesto in Ljubljana, die die slowenische Polizei mehrmals zerstörte. Oder das Leoncavallo in Milan, das 1989 bis auf die Grundmauern abgerissen wurde und das die Besetzer*innen per Handarbeit selber wieder aufbauten – Ziegelstein um Ziegelstein.

»Friede den Hütten« steht auf einem kleinen Modellholzhaus auf Pfählen. Ab 2,5 m Höhe muss in Österreich und Deutschland ein Höheninterventionsteam angefordert werden, um die Baumbesetzer*innen auf die Erde zurückzuholen. Das dauert. In der Zeit können Unterstützer*innen das von der Räumung betroffene Gelände erreichen. Protest kann aber auch oft symbolische Formen annehmen: So putschte sich in Myanmar 2021 das Militär an die Macht und nahm Regierungschefin Aung San Sun Kyi »in Gewahrsam«, wie es so schön heißt. Frauen hängten aus Protest ihre Kleider aus bunten Stoffen auf Wäscheleinen quer über die Straßen. Diese Barrikaden sollten verhindern, dass die Streitkräfte diese Straßen durchquerten. Die kreativen Widerständlerinnen spielten mit einem Tabubruch: »Unter den Rock schaut man nicht!«

»Lobau bleibt!«-Proteste, Wien, Österreich, 2021–2022 © Foto: Merle, 9. Dezember 2021

Highway to hell

Die Ausstellung »Protest/Architektur. Barrikaden, Camps, Sekundenkleber« wurde gemeinsam mit dem Deutschen Architekturmuseum Frankfurt am Main konzipiert. Begonnen mit der Recherche wurde 2019, noch unter der Ägide von Christoph Thun-Hohenstein, des ehemaligen Direktors des MAK. In der Säulenhalle hängt ein riesiges blaues Transparent: »Lobauautobahn. Highway to hell«, steht darauf. »CrashCARpitalism«. Eine Protestwand für die Besucher*innen ist voll mit Zettelchen und dicht beschrieben. »Wofür möchtest du protestieren?«, ist die Frage. »Das Leben« steht auf einem Post-it. 

Bei der Besetzung des Majdan-Platzes (»Platz der Unabhängigkeit«) in der Ukraine 2013 war das Tragen von Helmen verboten, deswegen setzten sich die Besetzer*innen Kochtöpfe, Küchensiebe oder Plastikschüsseln als Schutz auf den Kopf. Bei den Majdan-Protesten starben in drei Monaten über hundert Menschen! Zwischen Plastikplanen und Schnee. Der Präsident hatte ein Assoziierungsabkommen mit der Europäischen Union zurückgenommen, woraufhin Student*innen 200 Zelte und Hütten errichteten. Wenige Tage nachdem die Demonstrant*innen den Rücktritt des Präsidenten erzwungen hatten, erfolgte die russische Invasion auf der Halbinsel Krim.

Am Ende der Ausstellung ganz hinten geht es um die Bewegung für den Erhalt des Wiener Naturschutzgebietes Lobau und dessen Gewässer und Tieren. Alle Gebäude wurden geräumt und 48 Aktivist*innen festgenommen. Die berühmte Holzpyramide in der Wiener Lobau wurde im Februar 2022 geräumt und zerstört. Ein 30-sekündiger Kurzfilm von Christoph Schwarz zeigt den Abriss der Pyramide – rückwärts. »Wie aus Zauberhand scheint dabei unter Polizeischutz die erste Wiener Ökopyramide zu entstehen.«

Link: https://www.mak.at/protestarchitektur 

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