© Pınar Selek (center) at a press conference in Strasbourg on January 25, 2013. The banner reads: »Freedom for research. Freedom for Pınar!!!« © Claude Truong-Ngoc, Wikimedia Commons, CC BY-SA 3.0
© Pınar Selek (center) at a press conference in Strasbourg on January 25, 2013. The banner reads: »Freedom for research. Freedom for Pınar!!!« © Claude Truong-Ngoc, Wikimedia Commons, CC BY-SA 3.0

Solidarität mit Pınar Selek

Die Soziologin, Schriftstellerin und Aktivistin aus Istanbul wird weiterhin mit lebenslanger Haft bedroht. Am 28. Juni 2024 geht die gerichtliche Farce des türkischen Gerichts gegen Selek in eine weitere Runde. Ein Aufruf und Bericht von der aktuellen Situation.

Am 11. Juli 1998 wurde die damals 27-jährige Pınar Selek vor einer Werkstatt für Straßenkünstler*innen in der Nähe des Taksim Platzes in Istanbul verhaftet. Zunächst vermutete sie, es sei wegen des selbstverwalteten Ortes, den sie gemeinsam mit transsexuellen Personen, Sexarbeiter*innen und Straßenkindern geschaffen hatte und der der Stadtverwaltung sowie den faschistischen Grauen Wölfen schon länger ein Dorn im Auge war. Bald stellte sich heraus, die Verhaftung erfolgte aus einem anderen Grund. 

Folter und Haft in der Türkei

Pınar Selek arbeitete gerade an einer soziologischen Studie über die Kämpfer*innen der Kurdischen Arbeiter*innenpartei (PKK) und hatte dafür dutzende Interviews geführt. Die Verfolgungsbehörden versuchten, die Namen der Personen, mit denen sie gesprochen hatte, aus Selek herauszupressen. Sie verweigerte jedoch die Preisgabe. In der Folge wurde ihr vorgeworfen, PKK-Propaganda zu verbreiten und an einem Bombenanschlag auf einem Basar in Istanbul federführend beteiligt gewesen zu sein. Selbst als der vermeintliche Komplize, der unter Folter die Tat gestand und Selek belastete, seine Aussage später widerrief und Sachverständige eine defekte Gasflasche als Grund der Explosion feststellten, ließ das türkische Gericht nicht von den Vorwürfen ab. Zweieinhalb Jahre lang saß Selek im Gefängnis. Sie berichtet von Folter, Isolationshaft, aber auch von der Solidarität unter den vielen politischen Frauen im Gefängnis. Im Jahr 2002 wurde sie schließlich vom Gericht freigesprochen, das Verfahren wird jedoch seitdem immer wieder neu aufgerollt.

Frauen*bewegung Amargi

Nach der Haft stürzte sich Selek wieder in politische Projekte. Gemeinsam mit anderen Frauen und Genoss*innen gründete sie die Frauen*bewegung Amargi. Das Wort ist sumerisch und bedeutet »Freiheit«, was auch der libertären Ausrichtung der Bewegung entspricht. Erste gemeinsame Organisation war ein Friedensmarsch, an dem 10.000 Frauen* teilnahmen, später folgte ein weiterer Marsch, der sich gegen Gewalt an Frauen* richtete, und andere Veranstaltungen. Seit 2006 erscheint die Zeitschrift »Amargi« und bis heute ist die Gruppe in der Türkei aktiv. In dieser Zeit publizierte Selek ihr Buch über Männlichkeit und Militär in der Türkei, das auch auf Deutsch unter dem Titel »Zum Mann gehätschelt, zum Mann gedrillt: Männliche Identitäten« erschienen ist.

Im Exil, aber nicht leise

Als sich 2009 ein neuerlicher Prozess abzeichnete und das Kammergericht in Istanbul sich für eine Präventivhaft aussprach, floh Selek ins Exil – zunächst nach Deutschland, später nach Frankreich. Im Exil schrieb sie ihren ersten Roman »Halbierte Hoffnung« und den Essay »Weil sie Armenier sind«. Selek ist nicht nur eine Kritikerin des türkischen Nationalismus und Patriotismus, sondern jeder Form des Militarismus und der Gewalt. Sie ist weiterhin in verschiedenen politischen Gruppen und Projekten aktiv und gilt als eine wichtige Kritikerin jeglicher Herrschaftssysteme. In dem Gesprächsband »Die Unverschämte«, der 2023 erschien, formuliert Selek es folgendermaßen: »Wenn du den Kampf gegen das Patriarchat beginnst, stößt du auf enorme Machtstrukturen. Du bekämpfst daher in gleicher Weise den Staat, den Kapitalismus, das umweltzerstörerische System, den Nationalismus, den Rassismus, den Militarismus, den Heteroseximus. Du kommst zur Überzeugung, dass dieses System aus sich selbst den Sexismus hervorbringt, weil die sozialen Geschlechterverhältnisse auf sozialen und politischen Institutionen gründen.« Die kritische Denkerin und Aktivistin Pınar Selek ist heute französische Staatsbürgerin und lebt in Nizza.

Neuer Prozess und haltlose Vorwürfe

Am 28. Juni 2024 findet ein neuerlicher Prozess gegen Selek in Istanbul statt. Viele Organisationen, Wissenschaftler*innen und Aktivist*innen protestieren dagegen. Aktuell gibt es die Information von Pınar Seleks Schwester, die auch ihre Anwältin ist, dass das türkische Innenministerium eine weitere Anklage gegen sie in den Prozess aufnehmen wird. »In dem eingebrachten Dokument«, so Selek in einer Aussendung, wird sie »willkürlich anlässlich eines Vortrags, den sie an der Uni Nizza zur Rolle von Frauen im Exil, speziell kurdischer Frauen, gehalten hat, als Organisatorin einer PKK-Veranstaltung und damit des Terrorismus beschuldigt. Ohne den Anlass oder den Ort auch nur zu benennen, werden da Fotos präsentiert, um diese Beschuldigung zu dokumentieren.« Selek schreibt, dass ihre Anwält*innen kurzfristig eine beglaubigte Bestätigung von der Uni Nizza beantragt hätten, dass das eine rein universitäre Veranstaltung war und keine Propagandaveranstaltung der PKK. Die Fakultätsleitung sei derzeit dabei, eine solche Bestätigung zu schreiben. Es werde dann beantragt, diese Bestätigung in die Akten des Prozesses am 28. Juni 2024 aufzunehmen, wo ihr u. a. auch die Organisation dieser angeblichen Pro-PKK-Veranstaltung zur Last gelegt werden soll, damit sie lebenslange Haft bekommt. Sie schreibt, dass das türkische Regime sie erkennbar einschüchtern und ihre Forschungsarbeit in Frankreich auch noch kriminalisieren will. Selek hat am 26. Juni 2024 gegen diesen Vorwurf und weitere Bedrohungen, die sie und ihre Familienangehörigen in Istanbul über Social Media dieser Tage erhalten haben, Anzeige erstattet. 

Gerechtigkeit für Pınar Selek

Um gegen die gerichtliche Bedrohung von Pınar Selek und die neuen Anschuldigungen zu protestieren und sie im Kampf gegen die türkische Justiz zu unterstützen, hat sich ein Solidaritätskomitee gebildet. Dieses hat einen Aufruf verfasst, der u. a. von Schriftsteller*innen-Vereinigungen in Österreich wie der Grazer Autorinnen Autorenversammlung (GAV), dem österreichischen PEN-Club sowie der IG Autorinnen Autoren unterstützt wird. Hier im Wortlaut:

Aufruf der Solidaritätskollektive mit Pınar Selek

Am 28. Juni 2024 wird in Istanbul die nächste Anhörung in dem Prozess stattfinden, der vor 26 Jahren gegen die türkisch-französische Schriftstellerin und Soziologin Pınar Selek begonnen wurde. Sie wird weiterhin fälschlicherweise des Terrorismus angeklagt, obwohl sie bereits viermal freigesprochen wurde.

Jedes Mal, wenn ein Gerichtshof die Hintergründe des Falls prüfte, kam er zu dem Schluss, dass es keine Beweise gab. Dennoch wurde Pınar Selek Anfang 2023 ein weiteres Mal angeklagt, ohne dass neue Beweismittel zu ihrer Akte hinzugefügt worden wären. Zwei Anhörungen – am 31. März und am 29. September – führten zu keinem Ergebnis, der Prozess wurde vertagt. Der Aufforderung, Pınar Selek möge zur nächsten Anhörung persönlich erscheinen, kann sie unmöglich Folge leisten, da seit Jänner 2023 ein Haftbefehl mit sofortiger Inhaftierung gegen sie vorliegt. Mehr noch: Anfang 2024 richtete die Türkei einen Auslieferungsersuchen an Frankreich und bestätigte den internationalen Haftbefehl. Pınar Selek wegen ihrer Forschungsarbeiten, ihrer literarischen Werke und ihrer politischen Interventionen zugunsten der kurdischen und armenischen Minderheiten, der feministischen Bewegungen sowie der LGBTQIA+ Communities lebenslänglich einzusperren, bleibt offensichtlich immer noch das Ziel der türkischen Regierung.

Wir, europäische Bürger*innen, Friedensaktivist*innen und Feminist*innen, Abgeordnete, Wissenschaftler*innen, Jurist*innen, Verleger*innen und Künstler*innen, werden erneut an der Seite von Pınar Selek stehen, in der Türkei, in Europa und in der Welt, und diese unsägliche juristische Willkür anfechten. Wir fordern die französische Regierung erneut auf, ihre Unterstützung für diese Wissenschaftlerin, Künstlerin und französische Staatsbürgerin zu bekräftigen und den skandalösen Auslieferungsantrag abzulehnen. Wir wenden uns auch an die österreichische Regierung sowie an die europäischen Abgeordneten: Es geht um die Verteidigung der wissenschaftlichen und künstlerischen Freiheit sowie des Rechts auf freie Meinungsäußerung – Grundrechte, ohne die keine Demokratie existieren kann.

Die afroamerikanische Aktivistin und Philosophin Angela Davis hat sich unserer Kampagne zur Unterstützung von Pınar Selek angeschlossen, indem sie feministische und antirassistische Aktivistinnen und Aktivisten aus der ganzen Welt dazu aufrief, zahlreich an der Anhörung am 28. Juni in Istanbul teilzunehmen. 

Wir werden dort in großer Zahl als Teil einer internationalen Delegation, bestehend aus gewählten Volksvertreter*innen, Anwält*innen, Akademiker*innen und Forscher*innen, Künstler*innen und Aktivist*innen, anwesend sein, damit Pınar Selek endgültig für unschuldig erklärt wird und sie schließlich ihre volle Bewegungs-, Aktions- und Arbeitsfreiheit in der Türkei, in Frankreich und überall dort, wo ihre Forschungen und Aktionen sie hinführen, wiedererlangt.

Die Koordination der Solidaritätskollektive mit Pinar Selek. 

28. März 2024

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