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Tindersticks

»The Waiting Room«

Lucky Dog

Am Cover des aktuellen Albums der Tindersticks »The Waiting Room« (»TWR«) ist wieder mal ein Esel abgebildet. Oder besser gesagt ein sitzender Mann mit einem aufgesetzten Eselskopf, welcher eine seltsam demolierte Schnauze aufweist. Schon die Songsammlung »Donkeys 92-97« trägt den Esel im Namen und grafisch am Cover, »Can Our Love … « von 2001 ziert das Bild eines echten Esels. Die tiefere Bedeutung des Nutztiers für die Tindersticks ist allerdings unklar, vielleicht gibt es auch keine. In jedem Fall Bedeutung haben die elf Stücke von »TWR«. Nach dem Instrumental »Follow Me« stürzt sich die Band mit »Second Chance Man« anfangs zart in ein auch durch die von Julien Siegel feinst arrangierten Bläser immer stärker an Kontur gewinnendes Stück. Ûber den markanten Nuschelgesang von Stuart Staples brauchen an dieser Stelle nicht viele Worte verloren werden, außer dass sich vermutlich manch anderer Sänger für so eine Stimme mindestens eine Hand abhacken lassen würde. Mit ordentlich Echo auf dieser Stimme und kräftigem Backing vom Bass, wie man es von der Band gar nicht gewohnt ist, evoziert Staples diese rotweingetränkte Mischung aus Sehnsucht und Traurigkeit, die süchtig machen kann. Es folgt das dichte, soulgetränkte »Help Yourself«, dessen Bläsersätze einem ganz schön um die Ohren fliegen. Auch ohne Gesang würde dieses Stück jeden Blaxploitation-Film in Fahrt bringen. Mit sanftem Glockenspiel beginnt »Hey Lucinda«, ein Memorial für die 2010 an Brustkrebs verstorbene mexikanisch-amerikanische Sängerin Lhasa de Sela. Staples verwendet dabei de Selas schon zur Zeit ihrer Kooperation für Staples‘ Soloalbum »Leaving Songs« aus 2006 aufgenommene Gesangsspuren und montiert daraus ein herzzerreißendes Duett. Früher sei ihm das emotional nicht möglich gewesen, sagt Staples in einem Interview. Ein zweites, vom Charakter her dramatisch-bedrohlicher angelegtes Duett mit der noch quietschlebendigen Jehnny Beth von Savages, »We Are Dreamers«, findet sich gegen Ende des Albums. Der titelgebende Song verrät, dass es sich um einen zwischenmenschlichen, emotionalen Warteraum handelt: »Don`t let me suffer, don`t let me suffer …« klagt, ja fast winselt Staples in dem karg instrumentierten Stück steinerweichend. Es ist nicht auszuschließen, dass der Adressat hier ein weibliches, obskures Objekt der Begierde ist. Wenn man gezwungen ist viel Zeit in wirklichen Warteräumen zu verbringen, gibt es dafür aktuell kaum einen bessern Soundtrack im Kopfhörer als die ungemein atmosphärischen Songs von »TWR«. Zu allem Ûberfluss ließ die Band noch zu jedem Stück von ausgesuchten Regisseurinnen und Regisseuren Kurzfilme produzieren, die bei ihrer aktuellen Tour auf den Bühnenhintergrund projiziert werden. Es ist fast schon unheimlich, wie die Tindersticks immer wieder Inspiration für grandiose Platten finden. Ein Versiegen dieser Quelle(n) ist zum Glück nicht in Sicht.

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