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John Coltrane

»Sun Ship. The Complete Session«, »Afro Blue Impressions«

Impulse

»One Down, One Up«, so heißt eine bekannte Nummer von 1965, die das wuchtige Spiel des klassischen John Coltrane-Quartetts eindrucksvoll demonstriert. Der Titel könnte auch gut als Motto herhalten zur schier unendlichen und äußerst ambivalenten Veröffentlichungsgeschichte der Musik Coltranes. Das kürzlich erschienene 2-CD-Set »Sun Ship. The Complete Session« bringt die wiederentdeckte komplette Studioaufnahme von August 1965, die in jenem kosmischen Jahr zwischen »A Love Supreme« und »Meditations« eine weitere wichtige Station auf der letzten großen spirituellen Reise des Quartetts markierte; bevor die Stafette weitergereicht wurde an neue Weggefährten, wie den jungen Pharoah Sanders und Rashied Ali, mit denen Coltrane schließlich zu noch steileren Höhenflügen ansetzen sollte. Anders als die postum gestückelte Erstveröffentlichung von 1971, die zuletzt in den retrospektiv gehaltenen »Impulse Albums«-Boxen wiederveröffentlicht wurde, ist diese fünfteilige Suite hier nun wieder in ihrer originalen, motivisch schlüssigen Dramaturgie zu hören. Sie beinhaltet, wie ähnlich angelegte Kompositionen Coltranes aus dieser Zeit, eine vor musikalischer wie religiöser Intensität berstende Suche, deren ersten beiden Teile von Coltranes ruhigem, hymnisch-getragenem Ton bestimmt sind, stetig vorangetrieben durch Elvin Jones‘ Schlagwerkspiel. Ihnen folgt ein heftiges, ungestümes Ringen, das im vierten Teil von einem langsamen, doch entschlossen vollzogenen Aufstieg abgelöst wird, um dann, in der Höhe angekommen, sich in »Amen« rückhaltlos ins Offene, Freie aufmachen zu können. Angesichts einer solch mitreißenden Passionsgeschichte mag es beim Hören jetzt vielleicht störend wirken, dass diese Aufnahmesession chronologisch vollständig, also auch mit allen verworfenen Takes, abgebrochenen Versuchen und Gesprächsfetzen, abgebildet wird und damit die kompositorische Geschlossenheit des in ständiger Verdichtung und Auflösung begriffenen Flusses zersplittert. Doch eröffnet diese »positivistisch-rekonstruierende«, aber in jeder Hinsicht vorbildliche Edition auch einen ganz anders gearteten Zugang: Als eine Art musikalisches Tagebuch des 26. August 1965 erschließt sich einem auf intime Weise, mal zögerlich-suchend, mal kraftvoll-entschieden, ein hochkomplexer künstlerischer Prozess. Egal wie man dieses musikalische Dokument in seiner »Detailtreue« auch sieht, eines zeigt es uns unmissverständlich: das schmerzliche Fehlen von unbedingtem Willen und Risikobereitschaft zu Visionärem in einer verakademisierten schöpferischen Welt.

Aktuell anzuführen ist noch eine weitere Coltrane-Veröffentlichung mit Aufnahmen aus den legendären Europa-Tourneen von Norman Granz der Jahre 1961 bis 1963, bei denen viele Stunden Musik in hochwertiger Tonqualität mitgeschnitten, damals jedoch nur mangelhaft datiert wurden. Das Doppelalbum »Afro Blue Impressions« von 1963, nun nochmals remastered und mit drei weiteren Tracks aus dem Stockholm-Konzert vom Oktober 1963 versehen, zeigt das klassische John Coltrane Quartet in gewohnter Manier und zweifacher Demonstration seiner gefeierten Hymne »My Favorite Things«. Warum aber die darauf mehrheitlich enthaltenen Aufnahmen eines Auftritts in Berlin von Anfang November nicht mit jenen drei Nummern gleichen Konzerts eines von Granz fehldatierten Albums (»The Paris Concert«) komplettiert wurden, wird zumindest bei den eingefleischten Coltraneologen wohl nur Kopfschütteln hervorrufen.

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