Notizbuch und Feldflasche © Militärmedizinisches Museum, St. Petersburg
Notizbuch und Feldflasche © Militärmedizinisches Museum, St. Petersburg

Schreiben im Angesicht des Todes

Salmen Gradowskis Aufzeichnungen als Kapo in Auschwitz sind ein beklemmendes Dokument des Widerstands und des Versuchs, wider das Böse die Menschenwürde zu bewahren.

Wer sich in der Wiener Votiv-Kirche umsieht, entdeckt möglicherweise ein Fenster, das zu Ehren von Franz Jägerstätter errichtet wurde. Der österreichische Bauer Franz Jägerstätter verweigerte zu Zeiten des sogenannten Dritten Reichs den Schwur auf Adolf Hitler und den Kriegsdienst an der Waffe und wurde von den Nazibarbaren deswegen hingerichtet. Wer kürzlich im Kino war und Terence Malicks neuen Film »A Hidden Life« ansah, konnte sich dessen Geschichte nacherzählen lassen. Fazit, Thema, Kern, Herz – wie man es auch nennen möchte – des Films ist die Frage: Was bringt es, im Stillen Widerstand zu leisten? Warum? Für wen? Es sind die Verdienste der stillen Held*innen, die in diesem Film behandelt werden, und diese Verdienste reichen vermutlich weiter, als man üblicherweise meinen möchte.

Einer dieser Held*innen war auch der ehemalige KZ-Insasse Salmen Gradowski, dessen Schriften Aurélia Kalisky nun unter Mitarbeit von Andreas Kilian erstmals gesammelt unter dem Titel »Die Zertrennung – Aufzeichnungen eines Mitglieds des Sonderkommandos« im Jüdischen Verlag im Suhrkamp Verlag herausbrachte. Profund übersetzt aus dem Jiddischen von Almut Seiffert und Miriam Trinh. Neben Texten des Autors enthält das Buch eine ausführliche Einleitung in deren Entstehungsgeschichte.

Arbeit im Sonderkommando
Der zwischen 1908 und 1910 in Polen geborene gläubige Jude und Zionist Salmen Gradowski studierte in einer Jeschiwa und interessierte sich Zeit seines kurzen Lebens für Literatur. Durch ein Glück wurde er nicht wie andere polnische Juden als »Kapitalist« nach Sibirien deportiert, sondern konnte als Büroangestellter in einem staatlichen Unternehmen in einer Stadt nahe seiner Heimat arbeiten. In Lunna lebte er mit seiner Frau. Als die Nazis ein Ghetto errichteten, wurde er Teil des Judenrates. Am 5. Dezember 1942 wurde er nach Auschwitz deportiert, wo seine Arbeit im sogenannten Sonderkommando begann.

Das Sonderkommando war der Name einer Gruppe von KZ-Insassen, denen die Aufgabe zukam, die letzten Schritte des Mordes durch die Nazis durchzuführen. Diese bestanden darin, die Opfer in die Gaskammern zu führen, sie zu entkleiden, das alles unter Umständen mit Gewalt, sie danach in die Öfen zu tragen und am Ende etwaige »Wertgegenstände« aus den Körpern zu holen und für die Nazis zu rauben. Das alles mit dem Ziel, die Spuren der Nazibarbarei zu vertuschen.

Teil dieser Maschinerie der völligen Auslöschung war Salmen Gradowski. Kurz vor dem Beginn seiner Arbeit wurde, von Adolf Eichmann persönlich in Auftrag gegeben, die gesamte vorige Arbeiterschaft ermordet, um möglichen Fluchtplänen im Voraus entgegenzuwirken. Jeder, der Teil des Sonderkommandos war, konnte sich sicher sein, dass diese Arbeit auf kurze Zeit begrenzt sein würde. Primo Levi sprach Zeit seines Lebens von den Privilegien des Sonderkommandos. Hannah Ahrendt sprach von der Banalität des Bösen in ihrem Buch über Eichmann.

Auflehnung gegen das Böse
Sich seines Schicksals und bevorstehenden Todes bewusst, beschloss Gradowski, mit Hilfe einiger Vertrauter seine Erfahrungen niederzuschreiben und für die Nachwelt in einer Sammlung von Flaschen und Dosen zu konservieren. Das Unternehmen war so kompliziert wie gefährlich. Schreibmaterial war schwer zu beschaffen. Zum Schreiben selbst brauchte es einen dafür geeigneten Ort und die Flaschen mussten mit Wachs verschlossen und zu guter Letzt an einem sicheren Ort vergraben werden.

Sein Schreiben im Anblick seines herannahenden, sicheren Todes war Gradowskis innere Auflehnung gegen das absolut Böse, der Versuch, seine Menschlichkeit und die der anderen Opfer zu bewahren, Widerstand zu leisten. Nicht zuletzt war es auch der Versuch, das zu tun, was ihm die Nazis stahlen: seine Arbeit als Schriftsteller. Die Texte sind also nicht nur subjektive Erfahrung, sondern die literarische Verdichtung, die kollektive Erfahrung der absoluten Barbarei. Seine Leserschaft ist die der Zukunft, eine nur in seinem Herzen vorhandene.

Später wurden dann die verschiedenen Gefäße gefunden und nahmen diverse Wege durch die Welt, bis sie endlich und jetzt alle gemeinsam vereint in diesem Band im Jüdischen Verlag im Suhrkamp Verlag erscheinen. Die Entstehungsgeschichte der Zusammenstellung ist wesentlich und im Vorwort dargelegt. Einer derjenigen, die für die Veröffentlichung gekämpft haben, ist Chaim Wollnermann. Geboren in Oświęcim (dt. Auschwitz), ist er ein 1945 aus dem KZ Groß-Rosen befreiter Mediziner und Vorsitzender der »Jüdischen Religionsversammlung Oświęcim«, wo er sich mit eben solchen gefundenen Schriften beschäftigt.

Das Ehepaar Gradowski © Privatbesitz der Familie Wolnerman, Yad Vashem Archiv, Jerusalem

Angst vor dem Vergessen
In einem der Texte Gradowskis war eine Zahlenreihe zu finden und mit Hilfe der Gematrie, einer Technik, bei der jeder Zahl ein Buchstabe im hebräischen Alphabet zugeordnet wird, konnte Gradowskis Name entziffert und sein Onkel in New York erreicht werden, wie in Gradowskis Schreiben gewünscht. Ein anderer Teil der Texte war für Jahre in Leningrad verschwunden. Wieder ein anderes Manuskript wurde gestohlen, nur mehr eine Abschrift existiert. Alles sehr spannend.

Man kann sich einfach nicht vorstellen, wie es Gradowski möglich gewesen war, unter solchen niederträchtigen Bedingungen diese nun auf 200 Buchseiten gedruckten Zeilen zu schreiben. Da erzählt er von seinem Vorhaben, den versteckten Schriften selbst. Der Arbeit (!), die er und seine stillen Helfer leisteten, indem sie Zähne der Opfer verstreuten, um letztendlich noch von ihrer Existenz Zeugnis abzulegen. Er schrieb aus Angst vor dem Vergessen. Vor dem Vergessen dessen, was ihm geschah und allen anderen. Vor dem Vergessen dessen, was ihm die Opfer, welche er in die Gaskammern begleitete, anvertrauten.

Äußerst scharfsinnige Bemerkungen fließen ein in Gradowskis Erzählungen des Alltags, z. B. welche, die Adorno & Horkeimer in der »Dialektik der Aufklärung« ähnlich ausführten: »Je mehr Kultur er hat, desto schlimmer der Mörder. Je mehr Zivilisation, desto ärger der Barbar.« Seine Leser*innen nennt er Freunde, die er an die Hand nimmt und denen er den Alltag erklärt. Er gibt auch Rückblicke auf den in Polen bereits vorherrschenden Antisemitismus derjenigen, welche die einstürmenden Nazis durchaus auch begrüßten. Er spricht von den Banden zwischen den Mitgliedern der Familien, die Flucht oder Widerstrand moralisch nur schwer möglich machten. Zu groß war die Gefahr, zu groß die Angst, sie zu verlieren. Nicht zuletzt spricht er von der »Unterschätzung der Verderbtheit des Piratenvolkes«.

Zeugnis des Widerstands
Salmen Gradowski schreibt nicht über sich, sondern über die vielen Schicksale im Allgemeinen. Sein Stil hat zum Teil etwas von einem Prediger, die Reden an die Nachfahren der größten Katastrophe klingen wie Mahnungen. Er spricht von den Gedanken der jungen Mütter in den Wagen, die in die KZs fuhren. Und trotz des zeitweise aufscheinenden Zynismus behält seine Sprache etwas sehr, sehr Sensibles, Feines, wenn er beispielsweise über die Frau mit ihrem Neugeborenen schreibt:

»Sie haben vor kurzem ihr erstes Kind zur Welt gebracht und mit ihm sich in die Ewigkeit eingewebt, sind Partner geworden bei der Entwicklung und dem Blühen der Welt. Aber man hat sie gleich bei den ersten Schritten, die sie in der Welt taten, aufgehalten und weggehen heißen, abtreten von ihrem Platz, wo sie angefangen hatten, ihr Nest zu bauen.«

Das jetzt entstandene Buch zeichnet wunderbar die Hintergründe der Schriften von Gradowski, die Odyssee ihrer Entstehung nach und entkräftet nebenbei den Vorwurf der Kollaboration der Mitglieder des Sonderkommandos, indem es den Akt des Widerstands am Beispiel von Salmen Gradowski aufzeigt. Zuallererst aber ist es die Sammlung der Texte eines begabten Schriftstellers, dessen Karriere viel zu früh von den deutschen Barbaren beendet wurde.

Salmen Gradowski: »Die Zertrennung – Aufzeichnungen eines Mitglieds des Sonderkommandos«: Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag, 2019, 354 Seiten, EUR 25,00 (DE) bzw. EUR 25,70 (AT). Wieder lieferbar: 17. Februar 2020.

Link: https://www.suhrkamp.de/buecher/die_zertrennung-salmen_gradowski_54280.html

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