Odradek ist ein kleines, sinnloses Wesen. Es scheint überall und nirgends zu sein. Wer es sucht, verschwendet quälende Stunden ohne Ergebnis. Wer es nicht sucht, begegnet ihm dauernd. Es ist immer zur Stelle, wenn es nicht gebraucht wird. Es stört nicht, es erfreut nicht, es ist Beiwerk des Alltags. Das unheimliche an ihm ist, »dass es uns alle überleben wird«. Erstmals taucht es in Franz Kafkas Erzählung »Die Sorge des Hausvaters« auf. Kafka gelingt die Beschreibung des Wesens gut, nur in einem Punkt musste er sich irren. Das Wesen ist nicht aus Holz. Es ist aus Plastik.
Plastik ist der Teil unseres Lebens, nach dem nie jemand gefragt hat. Es umhüllt, wo es nichts zu umhüllen gibt. Es ist so ungemein »praktisch«, dass wir vergessen, dass es die Probleme, die es löst, zuvor nicht gegeben hat. Durch das Plastik ist alles entwertet. Es gibt diesen Saturday-Night-Live-Sketch über den Mann, der die reine Wegwerfflasche erfunden hat. Natürlich ist sie aus Plastik. Eine Flasche ohne Inhalt, die nur erworben wird, damit sie weggeschmissen werden kann. Das Schlimme an dem Scherz liegt darin, dass er viel näher an der Lebensrealität ist, als dies die Lachenden und die Scherzenden wahrhaben wollen. Plastik ist der Abfall, der als Abfall produziert wird.
Alles wird zur Plastikoberfläche
Als Plastik in die Welt kam, wurde die Welt zum Kübeln. War es eine Intrige? Mussten die Überkapazitäten der Erdölraffinerien in Produkte verwandelt werden, nachdem die Automotoren zu sparsam geworden waren? Vielleicht. Sein Siegeszug war unaufhaltsam, weil es einen neuen Weltbezug schenkte, indem es den endgültigen Abschied vom Mangel symbolisierte. Von allem war so viel da. So unglaublich viel zu viel. In die Haut des Plastiks ist eingestanzt: »Sorge dich nie mehr! Alles ist jetzt im Überfluss.«
Plastik war allerdings immer falsch. Plastik ist ein Synonym für Betrug. Der Satz: »Oh, es ist aus Plastik!«, kann unmöglich als ernstgemeinte Bewunderung ausgesprochen werden. »Ein teures Plastik.« »Endlich bekamen wir etwas von Wert zu greifen, es war ein schönes Plastik.« Das sind Sätze, die funktionieren nicht, weil die Plastik-Materialität schon die vollständige Entwertung ist. Eine übliche Enttäuschung lautet: »Ach, ich dachte es sei aus Metall, es ist aber nur aus Plastik.« Kein aus Plastik geformtes Ding wird je bewundert.
Dabei ist Plastik faszinierend. Es sieht gut aus, auch wenn es nur imitiert. Es kann in alle Formen gegossen werden und jede Oberfläche nachahmen, von der zarten Gesäßhaut der Sexpuppe bis zum täuschend echten Bergkristall. Plastik braucht keinen Makel zu kennen, es kann nahtlos und fehlerlos sein. Aber es kriegt dafür nie ein Lob. Auch riecht es eigentlich meist gut. Plastik hat zuweilen seinen durchaus berauschenden Geruch. Was nach Plastik duftet, ist neu. Das Gehirn sträubt sich ein wenig, weil leicht zu ahnen ist, dass die Lösungsmitteldämpfe früher oder später tödlich sind.
Plastik ist überall
Alles aus Plastik ist wertlos und wird achtlos weggeschmissen. Je schneller, desto besser. Manches Plastik bleibt allerdings, weil es »unsterblich« ist. Also zumindest mutmaßlich. Plastik muss nicht sonderlich haltbar sein. Die Sonne verfärbt es, macht es brüchig. Nur dann impfen sich seinen kleinsten Kügelchen, in die das Plastik zerrieben wurde, überall hinein. Sie sind in den Hirnwindungen von Molchen zu finden, die abgelegenen Bergseen der Anden leben. Niemand hat sich die Mühe gemacht den Amphibien das Plastik ins Hirn zu spritzen, niemand hatte dies ernsthaft vor, das Plastik diffundiert einfach durch alles Leben hindurch. Atman ist ein Polyethylen.
Das Leben eines einzigen Menschen ist von unendlichem Gewicht, sagt man, aber das ist nicht stofflich gemeint. Die Gewichtssumme aller menschlichen Leiber aller Menschen, die gerade auf diesem Planeten leben und atmen, wird in wie viel Tagen vom neu produzierten Plastik aufgewogen? Oder sind es nur Stunden? Die Welt ist voll mit Plastikerzeugnissen. Ein biegsamer Stoff, ein Imitat hat den Planeten übernommen.
Eine vorhersehbare Katastrophe
Bald wurde klar, dass es zu viel von dem Zeug gibt. Es sah nicht schön aus, wenn es vom Wind durch die Gassen geblasen wurde. Kein Problem, dann Recyceln wir eben! Die Nachhaltigkeitslüge der 1970er-Jahre. »Aus alt mach neu.« Was in der Praxis nur nie passiert. Zu kompliziert, zu energieaufwendig. Die Hohepriester des industriellen Regimes zucken die Schultern. Wir haben euch nur gesagt, wir würden es wiederverwerten, dabei schütten wir es in die Bäuche der Wale und Seevögel, bis diese aufgeplatzt am Strand liegen. Das haben wir nicht gemacht, weil wir besonders böse auf das Leben gewesen sind, sondern weil mit Plastik einfach alles sinnlos geworden war.
Die Anstrengung, einem Objekt wieder seinen fein erwogenen Sinn zu geben, durch Gebrauch, Schönheit oder Nostalgie, dieser Aufwand ist einfach zu groß. Niemand sagt: Ich habe mir das Bildnis meiner verlorenen Liebe aus PVC gegossen und an einen schattigen Platz in den Garten gestellt. Dort meditiere ich vor seinem Antlitz. Nein, das ist nicht echt, das wäre zu sonderlich. Wenn es aus Plastik ist, dann pfeif ich drauf.
Die Ohnmacht der Aufklärung ruft: »Versteh die Katastrophe!« Aber das haben wir ja längst. Jedes Kind und jede*r Greis*in weiß, dass Plastik schlecht ist, dass es uns killt, und dennoch schenken wir ihm alles her. Die letzten Ressourcen gehen in einen kleinen, aufblasbaren Wasserball. Auf seine dünnen Wände ist ein quietschbuntes Abbild der Weltkarte gedruckt. Der Hohepriester Kilian Jörg hebt es in die Höhe. Langsam geht dem kleinen Erdball die Luft aus, denn er ist nicht ganz dicht. Nun wird es die Religion der »Toxic Temple MESS« richten müssen. Anna Lerchbaumer und Kilian Jörg gedenken, sie zu stiften, um die letzten Dinge zu zelebrieren. Wir Menschen haben uns verausgabt für einen Berg Plastikmüll. Dies Unbegreifliche begreifbar zu machen, versucht der »Toxic Temple«. Ein inspirierendes Buch. Die beiden Autor*innen sind zu Gast im skug Talk im Salon skug am 19. April 2023.