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Wiederkehrende Rhythmen gesellschaftlicher Selbstbesoffenheit

Das Leben voller Remakes und Déjà-vu-Erlebnisse? Die umgeschriebene Wirklichkeit lässt sich durch unsere eigenen Denkmuster reflektieren und entsprechend ändern. Literarische Denkmäler werfen das Licht auf unsere Passivität im Umgang mit sich ständig wiederholenden Fehlern.

»Sie hätten anders leben können […]. Stattdessen haben sie das Leben ihrer Eltern fortgesetzt […]. Ein Erbe angetreten, das man auch hätte ausschlagen können.« – so wahrhaft(ig) klingt Dörte Hansen in ihrem Roman »Zur See«. Und das hat uns davon nicht abgehalten, genau diesen Fehler noch einmal zu machen: im Schatten unserer Familien, unserer Gesellschaft und unserer Geschichte zu leben. Die nüchterne Hoffnung auf gewisse Blütezeit und noch zu beschaffende Freiheiten stoßen auf die gerade beschriebene Wirklichkeit. Was passiert dann mit den allbekannten Sprüchen »bessere Zukunftschancen für unsere Kinder«, »Frieden und Sicherheit für uns und die kommenden Generationen«, »Gleichheit und Gerechtigkeit« o. ä., wenn man einfach den Spuren seines Vorfahren folgt? Um diese Entwicklung oder doch den Stillstand zu sehen, versuchen wir, den Sprung zurück in die Geschichte zu machen.

Das Leben als Remake

Die Wunden der Vergangenheit sind nichts anderes als Wiederholungen des bereits Passierten. Bewusste oder unbewusste. Und als grundsätzliche Kategorie und Grammatik aller Prozesse ermöglicht sie (d. h. die Wiederholbarkeit) die manchmal gewünschte Reproduzierbarkeit. Eine liberale Gegenbehauptung, nämlich die Haltung »Things will be never the same«, versetzt das Bekannte nur in eine andere Tonart und Tonhöhe. Aber inwiefern lassen sich die Verantwortung und Schuld in die Schuhe der Vorangehenden schieben? Das Rewriting oder die neuen Ausdrucksformen gehören einfach zu einigen gebildeten Formen verkleideter Hilflosigkeit. Und aus einem anderen Blickwinkel – zur zielgerichteten Manipulation und zum politischen Werkzeug. So werden die gleichen Ereignisse immer wieder und immer farbiger erzählt.

Deshalb werden wir oft zu den Zuschauer*innen irgendeines Remakes – Déjà-vu-Erlebnisses. Die Gedächtnisspiele machen uns das Wiedererleben aber nicht gleich bewusst. Nach dem Motto: »Just trust me and be quiet!« Die diktierte Verstummheit und Unverschriftlichung sind immer noch in, teilweise auch als Sicherheitsmaßnahmen. So lautlos, flüsternd und umschreibend entfernen wir uns von dem Ursprung des Problems. Warum aber? Und wie könnten wir unsere Teufelskreise durchbrechen? Bedauerlicherweise ist es ganz einfach und bequem, an jeden Quatsch zu glauben, ohne Gründe, Geschichte, Folgen o. ä. zu kennen.

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Vielleicht haben viele von uns bereits bemerkt, dass es in jedem Kunstwerk relativ oft um dieselben Inhalte geht. Und da kommt man auf den Gedanken: »Nichts Neues« oder »Immer wieder, immer dasselbe«. Obwohl Politik, Wirtschaft, Justiz u. a. immer noch daran arbeiten, neue Tricks und Plots zu etablieren, um den Verstand der Nichtdazugehörigen zu vernebeln. Aber nicht die Kunst oder Politik, wir selber sind schuld. Wir schweigen und vertrauen. Wem? Warum? – Die Wahrheit ist meistens bitter: Das Leben besteht aus Wiederholungen. Und das passiert in vielen Bereichen: in der gesellschaftlichen, staatlichen, internationalen Ordnung … und auch in unserem Privatleben. So können auch eine Lüge oder ein Fehler durch eine schöne Verpackung legal gemacht werden, um nochmal begangen zu werden. 

Literatur als hoffnungsvolle Stimme

Literatur als eine Inspirationsquelle und gleichzeitig ein guter Begutachter und Kritiker unseres Lebens bietet uns einen Reflexionsraum an, um diese Wiederholbarkeit und das Narrativ der umgeschriebenen Wirklichkeit zu bestätigen. Es ist nicht nötig, weit zu gehen: So wird z. B. Franz Werfel, der die Wahrheit als »eine der verbotenen Waffen« beschreibt, zur Stimme und zum »Zeugen« der ungerechten Diskriminierung und der Massaker an den Armeniern. In seinem Roman »Die vierzig Tage des Musa Dagh« erzählt er von ihrem heldenhaften Widerstand gegen die Übermacht des Osmanischen Reichs. Erniedrigung, das Gefühl der Allverlorenheit, Unterordnung und Zukunftslosigkeit sind ein häufiges Problem jeder Minderheit. Das Schicksal oder das Karma eines kleinen Volkes. Oder doch vielleicht die Pflichten des Volkes? Woran erinnert euch das? Schlagzeilen und Newsticker? Seien das indigene Völker in Lateinamerika, jüdische Ghettos oder osteuropäische ethnopolitische Konflikte (um die Ukraine, Moldau o. a.). Diese Liste kann beliebig erweitert werden. Ohne zu urteilen, ist es klar, dass nationalistische Ideologien, verbotene Sprachen, erzwungene »Zugehörigkeit« nichts mehr als furchtbare Besessenheit sind. Besonders solche Verbrechen bleiben systematisch unaufgedeckt. Oder müssen einfach versteckt werden? Schon bekannt … und passiert trotzdem immer wieder? Und das ist nur ein kleines Beispiel der verwurzelten und fest gegründeten Wiederholbarkeit und somit unserer Wirklichkeit. 

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Die wiederkehrenden Proben auf die eigene Wirklichkeit in der veränderten Tonhöhe und die ewige Unbesiegbarkeit der Initiierenden und Verantwortlichen werden zum Mainstream. So ist es einfacher und leichter, die Krisenzyklizität zu erklären. Keiner ist schuld, nur nicht die Minderheiten! Der politische Handel und die lobbyistischen Tauschgeschäfte verstummen und verblassen uns, einfache Menschen. Noch schlimmer ist aber, dass unsere vielen Seelen, die Stromleiter des Schmerzes, den sogenannten Hirten gehören und dass sie uns die Wahrheit vorenthalten (vgl. Franz Werfel). Und Reaktion auf Hilfeschrei? – Es gibt leider immer die, die genau/unbedingt diese Welt- und gesellschaftliche Ordnung brauchen und die anderen, die einfach nicht helfen können.

So leben wir weiter: vielleicht nicht ganz blind, aber trotzdem stumm. Wir wohnen diesen sich immer wiederholenden Sequenzen bei und glauben an die Musterhaftigkeit. Man kann unseren Blick als Betrachter*innen gezielt (ab)lenken, die Geschichte und Lehrwerke neu schreiben, Ideologien bilden, aber nicht die literarischen Denkmäler als unser Kulturerbe und sogleich Reflexionsraum. Da steht alles: vielleicht »Nichts Neues« – aber wahr! Kriege, Konflikte, unsere Ängste – haben wir alles im Griff? Aber auf dem sinkenden Schiff? Lass die kanonischen Begriffe, Werte und Ziele nicht ersetzen oder umbenennen – sie sind für uns alle gemeinsam und ähnlich. Um ganz in deinem Element zu sein, definiere und spiele deine eigene Tonalität, nicht die uns zugeschriebene und die als einzig richtig erachtete. Nicht jedes Remake ist gelungen. Nicht alle Déjà-vu-Erlebnisse sind angenehm. Wir sind keine Lieferant*innen und Schausteller*innen eines kommerziellen Produktes. Leider ist unsere Gesellschaft zu naiv, passiv und oberflächlich – es gibt nur solche Tipps: ab und zu gegen den Mainstream leben, Fragen stellen, reflektieren und eigene Entscheidungen treffen. Sonst leben wir das bereits Gelebte und als Teilnehmer*innen des sinkenden Szenarios beschuldigen einander. 

Empfehlenswert:

Hansen, Dörte: »Zur See«, München: Penguin Verlag, 2022.

Werfel, Franz: »Die vierzig Tage des Musa Dagh«, Köln: Anaconda Verlag, 2021.

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