Edgar Morin © David.Monniaux, Wikimedia Commons, CC BY-SA 3.0
Edgar Morin © David.Monniaux, Wikimedia Commons, CC BY-SA 3.0

Unmögliche Friedensschließung?

Der französische Philosoph und Soziologe Edgar Morin warnt im Alter von 101 Jahren vor einer Eskalation des Ukraine-Kriegs. »Von Krieg zu Krieg« führt zwei Imperialismen vor, beharrt auf diplomatische Auswege, vergisst aber den Demokratiewillen, der von/in Russland unbarmherzig ausradiert wird.

Es ist nötig, bei der Rezension von »Von Krieg zu Krieg« (Turia + Kant) weiter auszuholen, weil die Lage noch komplexer ist, als der französische »Komplexitätsdenker« schreibt. Es ist ein wichtiger, schmaler Band von gerade mal 100 Seiten, in welchem Edgar Morin in verständlicher Sprache Kriegshysterie, Kriegslügen, die Kriminalisierung des feindlichen Volkes und vieles mehr beschreibt, was er als betroffener Soldat auf Seiten der Alliierten erlebte (Bombardierungen von Dresden etc. waren Kriegsverbrechen) und als Beobachter des Weltgeschehens mit Fokus auf den Horror in der Ukraine wahrnimmt. Der Untertitel »Von 1940 bis zur Invasion der Ukraine« bezeugt das und sein Anliegen, die Radikalisierung von Konflikten darzustellen, gelingt ihm gut. Etwa indem er Deutschland und Frankreich als Mitauslöser der fatalen Jugoslawien-Kriege demaskiert oder den furchtbaren Krieg Frankreichs gegen die Unabhängigkeit Algeriens, der leider (wie in Bosnien) auch zu einem internen Bürgerkrieg führte und bis heute totalitäre Auswirkungen in Algerien hat. 

Selbstverteidigung gegen wiederholt erlebtes Unrecht 

Aufschlussreiches weiß Morin auch in der Kontextualisierung von Russland als despotische (Ausnahme: Gorbatschow-Ära bis zu relativer Freiheit in Putins Anfangsjahren) und den USA als demokratische Macht. Beide Staaten expandierten in indigene Gebiete, wobei nur die Vereinigten Staaten einheimische Völker eliminierten und Sklaven zur kapitalistischen Expansion ausbeuteten und heute Afroamerikaner noch minderwertigen Status haben. »Ein komplexer Blick zeigt, dass das despotische zaristische Russland, das bis 1861 die Leibeigenschaft aufrechterhielt, weder die eroberten indigenen Völker Sibiriens ausrottete noch Sklaverei praktizierte, aber niemals Demokratie oder bürgerliche Freiheiten erlangte.« 

Umgekehrt zur UdSSR hatten die USA die Paranoia vor der kommunistischen Gefahr, die im sogenannten Hinterhof zu vom CIA initiierten Militärputschen in ganz Lateinamerika führten, letztlich aber wirtschaftliche Interessen bedienten. Wogegen das Putin-Regime jegliche demokratische Regung in seinem Hinterhof, der geopolitisch alle Gebiete der ehemaligen Sowjetunion summiert, bekämpft. Das ukrainische Volk hat in der Orangen Revolution 2004 gegen Wahlfälschungen protestiert, die zur Wiederholung der gefälschten Stichwahl zwischen dem wegen einer Vergiftung angeschlagenen Wiktor Juschtschenko und dem von Russland unterstützten Wiktor Janukowytsch führte. Den Euromaidan (Revolution der Würde) verursachte eine überraschende Erklärung des Kabinetts Asarow II unter Präsident Janukowytsch im November 2013, das geplante Assoziierungsabkommen mit der EU nicht zu unterzeichnen. Der Wille der Ukrainer zur Demokratie, die den Rechtsstaat durchsetzen soll, war und ist offensichtlich. Diese wichtige Tatsache fehlt im Buch, denn dies ist die Crux, um die Selbstverteidigung gegen wiederholt erlebtes Unrecht gänzlich erfassen zu können. 

Mörder schüren Zweifel und unterminieren damit Fakten

Klar ist, dass eine Verherrlichung von Banderas als Freiheitsheld, der mit Nazi-Deutschland kooperierte, nicht okay ist. Auch nicht der Hass auf die russische Kultur, der eher als Selbstschutz (die UdSSR war ein Gewaltregime, das die Ukrainer unterdrückte) gesehen werden sollte. Jedenfalls hat das zynische Putin-Regime das Nazi-Narrativ gedreht und anfangs zum hauptsächlichen Invasionsgrund erhoben. Passiert etwas wie der Abschuss einer KLM-Flugzeugs durch russische Separatisten, streut der Kreml sofort mehrere Geschichten, sodass der Bezug zu den wahren Auftraggebern verwischt wird. Auch gibt es im Buch keinen Hinweis, wie sehr Russland ein faschistisch-stalinistischer Staat inklusive klerikaler Hetze mit fataler Lügenpropaganda (bereits 2003 waren alle wesentlichen TV-Sender enteignet und gleichgeschaltet!) geworden ist, der sich noch dazu eines Deep State (Verflechtungen der Geheimdienste mit enteigneten Betrieben, Mafia und Privatarmeen) bedient. Die grünen Männchen, welche 2014 die Krim als totalitäre Reaktion auf den Demokratie einfordernden Euromaidan besetzten, waren nämlich Söldner der Gruppe Wagner. Die Truppen des Oligarchen und Hitler-Fans Prigoschin spielen nicht nur in der Ukraine eine unrühmliche Rolle, sondern beispielsweise auch in Afrika, wo autoritäre Staaten wie Mali oder Zentralafrika neuerdings auf Wagner setzen.

Zudem wird verkannt, dass Putin Demokratie in seinem gesamten Einflussbereich nicht duldet, schon gar nicht in Russland. In der Russischen Föderation lässt der Potentat willkürlich enteignen, zu seinen Gunsten und zu Gunsten seiner Clique, nicht zu Gunsten der Staatsbürger. Anna Politkowskaja (vergiftet 2004, ermordet 2006) war unbequem, weil sie die Korruption im Verteidigungsministerium und die ungeheuren Kriegsverbrechen des zweiten Tschetschenien-Krieges publik machte. 1999 dienten drei vom Geheimdienst lancierte Sprengstoffanschläge mit hunderten Toten in drei russischen Städten als Vorwand für die Terroristenbekämpfung, die zur brutalen Vernichtung Tschetscheniens führte. Nach Zustimmungswerten von 2 % für Putin stiegen diese auf über 40 %. Repression nach innen, expansive Aggression nach außen. Dieses nationalistische Rezept, das sich auch gegen Minderheiten wie die Krimtataren wendet, praktiziert auch von elektoralen Autokraten am Weg zur Diktatur wie Erdogan, funktioniert leider immer wieder. Decken Oppositionelle wie Boris Nemzow (erschossen 2015) oder Alexei Nawalny (vergiftet 2020, Folterungen in gegenwärtig langjähriger Isolationshaft), korrupte Machenschaften auf, werden sie verfolgt. 

»Absolute Macht korrumpiert absolut«

Der Journalist und Politiker Vladimir Kara-Mursa (vergiftet 2015 und 2017) brachte es auf den Punkt: »Absolute Macht korrumpiert absolut.« Am 17. April 2023 wurde Kara-Mursa aufgrund seiner öffentlichen Kritik am Ukraine-Krieg wegen Hochverrats zu 25 Jahren Lagerhaft verurteilt, auch aus Rache, weil Kara-Mursa den sogenannten Magnitski-Act in den USA und einigen weiteren, auch EU-Staaten etablieren half. Dieser sehr wirksame Rechtsakt ermächtigt die unterzeichnenden Staaten, russische Staatsbeamte als Verletzter von Menschenrechten persönlich zu bestrafen, deren Vermögen einzufrieren und ihnen die Einreise zu verweigern. Sergej Magnitski, der Steuerberater von Bill Browder, dem größten längst enteigneten westlichen Investor in Russland, wurde gefoltert und 2016 im Gefängnis zu Tode geprügelt. Die Verurteilung Kara-Mursas hatte bereits eine große Ähnlichkeit zu einem Schauprozess wie damals unter Josef Stalin. Die Millionen von Stalin verursachten Hungertoten im Holodomor sind ebenso ungesühnt und der jetzige Krieg ist ein erneut von Russland verursachtes Trauma. Kara-Mursa fand im Prozess mutige Schlussworte: »Verbrecher sollten für ihre Taten Buße tun. Ich hingegen sitze wegen meiner politischen Ansichten im Gefängnis. Ich weiß auch, dass der Tag kommen wird, an dem sich die Dunkelheit über unserem Land verziehen wird.«

Auch nach der 2006 in London erfolgten Ermordung des Geheimagenten Alexander Litwinenko, der aufdeckte, dass Putin die schützende Hand über die Drogenmafia hielt, schürte der Kreml Zweifel durch das Lancieren verschiedener Theorien, wer aller hinter dem Mord stecken könnte. Der damalige britische Premierminister Tony Blair verweigerte im Vorfeld staatlichen Schutz für den ins britische Exil Geflüchteten, der mit radioaktivem Polonium vergiftet wurde. Die enormen Finanzen, die russische Oligarchen wie Abramowitsch in »Londongrad« einbrachten, waren wichtiger. Die russische Elite schätzt die Stabilität des demokratischen Westens, Russland arbeitet aber auf allen möglichen Ebenen daran, die westlichen Demokratien zu destabilisieren (Trolle pro Brexit, verdeckte Finanzflüsse zu rechtsextremen Parteien europaweit usw.). Trotzdem alldem wurde Putin, Auftraggebermörder (deswegen wurde kein einziger Mord jemals aufgeklärt) seit Beginn und seit dem zweiten Tschetschenien-Krieg Wiederholungstäter als Kriegsverbrecher, bis es zu spät war vom Westen hofiert. 

Kriegsziel Machterhalt

Nicht die Ukraine oder die EU, sondern Russland bricht ständig Verträge. Die russischen Machthaber haben, wenn überhaupt eine Ideologie, nur jene des Geldes, und wenn schon scheinbar Ideologisches behauptet wird, dient es nur der Manipulation. Der grausame Krieg, den immerhin Prigoschin so nennt, ist ein nihilistischer Krieg. Kriegsziel ist nur mehr der Machterhalt. Edgar Morin schließt das Buch mit folgenden Sätzen: »Je mehr der Krieg sich verschärft, desto schwieriger wird der Frieden, aber desto dringender ist er nötig. Vermeiden wir einen Weltkrieg. Er wäre schlimmer als der letzte.« Nur, der Weg zum Frieden bedürfte auch des Endes der zynischen Lügen und Vertragsbrüche. Wie mit einem Diktator verhandeln, welcher die westlichen Demokratien verachtet, der immer noch hofft oder irrglaubt, dass der Faktor Zeit sein nihilistisches Regime retten könnte? Ein Dilemma. Morin findet die richtigen Worte: »Es ist eine neue globale Krise ausgebrochen, mit der Blockade von Rohstoffen und Getreideprodukten, der zunehmenden Verknappung von Waren aller Art, einschließlich von Lebensmitteln, und der Inflation – eine Krise, die überall die Krise der Demokratien und die Verbreitung neoautoritärer Regime und Gesellschaften, die auf Unterwerfung beruhen, fördert.« 

Der Ukraine-Krieg ist einer zwischen liberalem und antiliberalem (homosexuelle und queere Menschen werden ebenso gnadenlos verfolgt) Kapitalismus. Auch das Säbelrasseln Chinas (der noch viel gefährlicheren Weltmacht, an deren Aufstieg der Westen prächtig mitverdient hat) gegen Taiwan könnte zu einem Weltkrieg eskalieren. Und weiterhin verschließen allzu viele Politiker*innen westlicher Demokratien ihre Augen vor der Realität, weil wirtschaftliche Eigeninteressen Pfründe sichern. Demokratische Staaten stellen sich dadurch selbst an den Abgrund. Diese tragische Misere verhindert außerdem die Konzentration auf einen ökologischen Umbau, der, nebenbei bemerkt, nur als antikapitalistische Kreislaufwirtschaft zu bewerkstelligen wäre.

Edgar Morin: »Von Krieg zu Krieg – Von 1940 bis zur Invasion der Ukraine«, herausgegeben von Werner Winterteiner und Wilfried Graf, übersetzt aus dem Französischen von Werner Wintersteiner, Verlag Turia + Kant, Wien, 116 Seiten mit Anhang, EUR 14,–

Link: https://www.turia.at/titel/morin_ukr.php 

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