Caspar David Friedrich: »Der Wanderer über dem Nebelmeer« © Wikimedia Commons, Public Domain
Caspar David Friedrich: »Der Wanderer über dem Nebelmeer« © Wikimedia Commons, Public Domain

Die Romantische Ironie im Gewand des 21. Jahrhunderts

Was ist eigentlich Romantische Ironie und wie passen diese beiden Begriffe zueinander? Dass dieses Denkmodell alles andere als aus der Zeit gefallen ist, zeigt der Song »Verloren« von Alligatoah.

Romantische Ironie – Romantik, eine Epoche, die gegen Ende des 18. Jahrhunderts ihren Anfang nahm[1] und zunächst an die Literatur denken lässt, sowie Ironie als ein von heimlichem Spott begleitetes, lediglich geheucheltes Gutheißen einer Sache[2]? So oder so ähnlich mögen die Assoziationen derjenigen lauten, die zum ersten Mal mit diesem Begriff in Berührung kommen.

Ziel der folgenden Ausführungen ist es, diese Assoziationen einer Prüfung zu unterwerfen. Es soll in einem ersten Schritt eine Arbeitsdefinition aufgestellt und dargelegt werden, dass die Romantische Ironie gerade nicht dem vorgenannten allgemeinen Verständnis von Ironie entspricht. Sodann wird – anhand des Songs »Verloren« von Alligatoah – verdeutlicht werden, dass die Romantische Ironie in der Romantik zwar ihren Ursprung hat, doch auch im 21. Jahrhundert weiter gattungsübergreifend Anknüpfung findet.

Die Romantische Ironie: Ein gattungs- und epochenübergreifendes Denkmodell

In Anbetracht der Fülle von Ausführungen, die ausschließlich der Theorie der Romantischen Ironie gewidmet werden könnten[3], sei hier zunächst eine kurze Arbeitsdefinition im Sinne einer gattungs- und epochenübergreifend anwendbaren Quintessenz vorangestellt. Prämisse dieser Quintessenz ist, dass die Romantischen Ironie als Denkmodell[4] verstanden wird.

Die Arbeitsdefinition setzt sich aus drei Merkmalen zusammen:

  1. Die Romantische Ironie »enthält und erregt ein Gefühl von dem unauflöslichen Widerstreit des Unbedingten und des Bedingten«[5]. Hierunter wird die Fähigkeit der Romantischen Ironie verstanden, trotz der nicht zu beseitigenden Diskrepanz eine Beziehung zwischen diesen Gegensätzen zu schaffen, Endlichkeit und Unendlichkeit in ein Verhältnis zueinander zu bringen[6].
  2. Konsequenz dieses ersten Merkmals und doch so entscheidend, dass es als eigenständiger Punkt genannt werden muss, ist das Vermögen der Romantischen Ironie, Gegensätze nicht nur in ein Verhältnis zueinander zu bringen, sondern diese Verbindung für die intendierte Aussage des Werks bzw. der Künstler*innen fruchtbar zu machen[7], zu einer Synthese zu gelangen.
  3. Das dritte Merkmal lässt sich mit Friedrich Schlegels Worten als »Selbstschöpfung und Selbstvernichtung«[8], als Reflexion[9], beschreiben. Es kennzeichnet die dem romantisch-ironischen Werk inhärente Ebene einer zwischen »Enthusiasmus und Skepsis«[10] changierenden Reflexion über den*die Künstler*in und die Konditionen seines*ihres Schaffens; hierfür hat der*die Künstler*in gleichsam über seinem*ihrem Werk zu schweben[11].

Die Romantische Ironie im 21. Jahrhundert: »Verloren« von Alligatoah

Alligatoah thematisiert in »Verloren«[12] das vermeintlich bevorstehende Ende einer Freundschaft. Als Grund hierfür wird das Eingehen einer Liebesbeziehung durch die von dem lyrischen Ich – das hier als Sprecher einer Gruppe von Freunden, einer »Gang«, zu agieren scheint – angesprochene Person genannt, »denn die Liebe [sei] der Tod für jede Gang (…)«[13].

Alligatoah trat mit diesem Song im Mai 2022 auf mehreren Hochzeiten auf, was in dem zugehörigen Musikvideo ausschnittweise zu sehen ist[14]. Die Einheit aus Musikstück und -video wird im Folgenden untersucht.

Endlichkeit und Unendlichkeit

Der Künstler setzt in »Verloren« Endlichkeit und Unendlichkeit mehrfach zueinander in Beziehung. Der Endlichkeit einer Freundschaft wird durch die Einbettung in den Hochzeitskontext zunächst die (vermeintliche) Unendlichkeit einer Ehe gegenübergestellt. Diese Unendlichkeit, für die das lyrische Ich dem Paar Glück wünscht[15], wird durch die geäußerte Hoffnung kontrastiert, man sehe sich, »wenn die Flamme nich’ mehr brennt«[16], konkret in »sieben Jahre[n]«[17], wenn »die Krisen starten«[18].

Die an vielen Stellen besungene und bis zu diesem (erhofften) Krisenzeitpunkt wartende »Gang«[19] wird im Musikvideo durch Einblenden einiger vermeintlicher Gangmitglieder[20] personifiziert, was den Gegensatz von Liebe und Tod, der »Liebe [als] [dem] Tod für jede Gang«[21], und die von dem lyrischen Ich befürchtete Unvereinbarkeit von Freundschaft und Liebe vor Augen treten lässt.

In der zweiten Songhälfte wird das lyrische Ich diesbezüglich nochmals deutlicher: »Schwester, begreif’, die sind von uns gegangen. Von uns direkt in ’ne Wohnung zusammen«[22].

Weiter ist die Endlichkeit vermittelnde melancholische Melodie zu nennen, die nicht in den freudigen Rahmen einer Hochzeit, sondern ausschließlich zu dem besungenen Ende der (Freundschafs-)Beziehung passt und so eine weitere zentrale Kontrastebene eröffnet.

Erkenntnisgewinn und Reflexion

Alligatoah legt den Zuhörer*innen durch die facettierte Gegenüberstellung von Endlichkeit und Unendlichkeit die Zerrissenheit des lyrischen Ichs offen. Einerseits möchte dieses Glück wünschen und scheint die Gang bislang durchaus um das Wohl des Paares bemüht gewesen zu sein[23], andererseits ist sich das lyrische Ich darüber im Klaren, dass es »kein’ Return Point«[24] gibt, dass die Gang »schon wieder (…) jemanden verloren«[25] hat. Es synthetisiert diese widerstreitenden Gefühle zu folgender Erkenntnis: Künftige Mitglieder der Gang können ausschließlich »Roboter oder kastrierte Eunuchen«[26] sein, denn »die sind gegen Liebe immun«[27].

Zum Ende führt das lyrische Ich abschließend aus:

»Manche sagen
Ich wär’ neidisch
Auf den Kitsch?
Ja, aber heimlich
Das zählt nich’«[28]

Diese vier Zeilen reflektieren den gesamten Songinhalt kritisch. Sie werfen die Frage auf, ob das lyrische Ich die Liebesbeziehung nur deshalb in einem derart schlechten Licht sieht, weil es sich selbst nach einer solchen sehnt. Dem mehrere Minuten enthusiastisch vorgebrachten Tadel[29] an der Liebe(sbeziehung)[30] wird eine nachdenkliche Betrachtung des bisher Geäußerten beigefügt, die für die romantische Ironie typische Skepsis am eigenen Werk.

Das Potenzial der Romantischen Ironie

Die vorstehenden Ausführungen zeigen, dass die Romantische Ironie ein offenes Denkmodell ist, offen in seiner Anwendung auf verschiedene Gattungen, offen in seinem zeitlichen Rahmen. Ihren Anfang mit Friedrich Schlegel genommen[31], sind die Spuren der Romantischen Ironie durch bereits mehr als 200 Jahre sichtbar.

Gerade in Zeiten, in denen Gegensätze glücklicherweise offen zutage treten dürfen und dennoch in bisweilen erschreckender Weise ein Schwarz-Weiß-Denken offenkundig wird, kann das Denkmodell der Romantischen Ironie Anstoß sein, (vermeintliche) Widersprüche so in Verbindung zu bringen, dass hieraus lohnende Schlussfolgerungen gezogen werden können. Auf diese Weise wird die Romantische Ironie, um mit den Worten Ernst Behlers zu enden »zur [intellektuellen] Kraft, welche vor einseitigen, vorschnellen Verfestigungen bewahrt und den Geist, stets weiterdrängend, auf der Bahn hält«[32].

Schlagwörter: Romantische Ironie, Romantik, Alligatoah, Diskurs

Quellen- und Literaturverzeichnis

1.    Quellenverzeichnis

Alligatoah: »Verloren« (2022), <https://www.youtube.com/watch?v=SPkVRk4rWzg> (01.07.2023).

Alligatoah: »Rotz & Wasser« (2022), Lyrics »Verloren« (2022), <https://alligatoah.de/rotz-wasser-2022/> (01.07.2023).

2.    Literaturverzeichnis

Behler, Ernst (Hg.): »Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe. Erste Abteilung: Kritische Neuausgabe. Zweiter Band: Friedrich Schlegel. Charakteristiken und Kritiken I (1796–1801)«. München u. a. 1967.

Behler, Ernst: »Klassische Ironie. Romantische Ironie. Tragische Ironie. Zum Ursprung dieser Begriffe«. Darmstadt 1981, 2. Aufl.

Kremer, Detlef/Kilcher, Andreas B.: »Romantik. Lehrbuch Germanistik«. Stuttgart 2015, 4. Aufl.

Minor, J. (Hg.): »Friedrich Schlegel. 1794–1802. Seine prosaischen Jugendschriften. Zweiter Band. Zur deutschen Literatur und Philosophie«. Wien 1906, 2. Aufl.

Schmitz-Emans, Monika: »Einführung in die Literatur der Romantik«. Darmstadt 2016, 4. Aufl.

Strohschneider-Kohrs, Ingrid: »Die romantische Ironie in Theorie und Gestaltung«. Tübingen 2002, 3. Aufl.

3.    Internetressource

Dudenredaktion (o.D.): Eintrag »Ironie«. In: »Duden online«, <https://www.duden.de/rechtschreibung/Ironie> (30.06.2023).

 

[1] Vgl. zur Bestimmung des Epochenbeginns in der Literaturwissenschaft z. B. Schmitz-Emans, Monika: Einführung in die Literatur der Romantik. Darmstadt 2016, 4. Aufl., S. 7 oder Kremer, Detlef/Kilcher, Andreas B.: Romantik. Lehrbuch Germanistik. Stuttgart 2015, 4. Aufl., S. 48.

[2] Vgl. Dudenredaktion (o.D.): Eintrag »Ironie«. In: Duden online, <https://www.duden.de/rechtschreibung/Ironie> (30.06.2023).

[3] Es sei beispielhaft auf die Ausführungen von Strohschneider-Kohrs (Strohschneider-Kohrs, Die romantische Ironie, S. 7–237) und Behler (Behler, Ironie, S. 15–133) verwiesen.

[4] Vgl. Schmitz-Emans spricht von »Denkform« (Schmitz-Emans, Einführung, S. 54); Strohschneider-Kohrs von einem »eigenartige[n] Problem des ästhetischen Denkens« (Strohschneider-Kohrs, Die romantische Ironie, S. 223).

[5] Schlegel, Friedrich in: Minor, J. (Hg.): Friedrich Schlegel. 1794–1802. Seine prosaischen Jugendschriften. Zweiter Band. Zur deutschen Literatur und Philosophie. Wien 1906, 2. Aufl., S. 198.

[6] Vgl. Strohschneider-Kohrs, Die romantische Ironie, S. 89.

[7] Vgl. Strohschneider-Kohrs, Die romantische Ironie, S. 26 (»Aktionsraum der Ironie«) oder Schmitz-Emans, Einführung, S. 55 (»fruchtbare Widersprüche«).

[8] Schlegel, Friedrich: Lyceums-Fragment Nr. 28. In: Behler, Ernst (Hg.): Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe. Erste Abteilung: Kritische Neuausgabe. Zweiter Band: Friedrich Schlegel. Charakteristiken und Kritiken I (1796–1801). München u.a. 1967, S. 149 [28].

[9] Vgl. Behler, Ironie, S. 72; Strohschneider-Kohrs, Die romantische Ironie, S. 89.

[10] Behler, Ironie, S. 72.

[11] Vgl. Behler, Ironie, S. 72; Strohschneider-Kohrs, Die romantische Ironie, S. 89.

[12] Vgl. Alligatoah: Musikvideo Verloren (2022), <https://www.youtube.com/watch?v=SPkVRk4rWzg> (07.06.2023); Alligatoah: Rotz & Wasser (2022), Lyrics Verloren (2022), <https://alligatoah.de/rotz-wasser-2022/> (07.06.2023).

[13] Lyrics Verloren, Zeilen 15, 29 und 51.

[14] Vgl. Musikvideo Verloren.

[15] Vgl. Lyrics Verloren, Zeilen 16, 30 und 52 (»Macht’s gut ihr zwei, das Glück sei euch gewogen«).

[16] Lyrics Verloren, Zeilen 17, 31 und 53.

[17] Lyrics Verloren, Zeilen 33, 37, 56 und 60.

[18] Lyrics Verloren, Zeilen 34 und 57.

[19] Lyrics Verloren, Zeilen 32–39 und 55–62.

[20] Musikvideo Verloren, z. B. 2:09, 2:10–2:11, 2:44, 3:12–3:13 und 3:37–3:42.

[21] Lyrics Verloren, z. B. Zeile 15.

[22] Lyrics Verloren, Zeilen 41–42.

[23] Lyrics Verloren, Zeilen 8–11 (»Wir können euch zum siebten Himmel hinauf begleiten Doch, das Himmelbett quietscht streng Wir müssen draußen bleiben«).

[24] Lyrics Verloren Zeile 4.

[25] Lyrics Verloren Zeilen 14, 28 und 50.

[26] Lyrics Verloren, Zeile 48.

[27] Lyrics Verloren, Zeile 49.

[28] Lyrics Verloren, Zeilen 64–67.

[29] Vgl. Lyrics Verloren z.B. Zeilen 12–13 (»Du sagst, dass man sich noch sehn’ tut Wir wissen beide, das sind Fake News«), 18–21 (»Wir können uns vielleicht mal Im Frühling am Gartenzaun treffen Das könnt ihr jetzt ein Jahr Mit eurem Partner besprechen«) oder 26–27 (»Du sagst ihr kommt mal zu Besuch Wir wissen beide, das sind Fake News«).

[30] Im Musikvideo eindrücklich unterstrichen durch z. B. folgende Sequenzen: Musikvideo Verloren, 2:20–2:27, 2:55–3:02.

[31] Vgl. Strohschneider-Kohrs, Die romantische Ironie, S. 7; Behler, Ironie, S. 9.

[32] Behler, Ironie, S. 93, der hier auf Schlegel rekurriert.

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